Udo Kawasser: „Unterm Faulbaum“

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Weltinnen – Die Poesie der Selbstverortung
Udo Kawasser schreibt unterm Faulbaum

Allmählich fand ich in die Langsamkeit zurück, spürte, wie ich durchlässig wurde … War es der Blick über die auf dem Wasser treibenden Teichrosenblätter hindurch auf die Fischleiber, die frei flutenden Tannenwedel und Tausendblätter mit ihren gefiederten Trieben, dieses Ineinander von Land, Luft und Wasser, das mir diesen Reflexionsraum öffnete, in dem ich mich und die Dinge spiegle, aus verschiedenen Winkeln betrachten konnte? Bis zu den im Wind aufrauschenden Silberpappeln gegenüber, die so dicht nebeneinander aufragen, dass es kein dahinter mehr zu geben scheint? Bis in die Bodenlosigkeit oder besser Deckenlosigkeit des wolkenlosen Blaus über mir? Ein Denk- und Schreibraum, so weit das Hören, Sehen, Riechen, Fühlen reicht?

Zu meiner Überraschung kommt mir mit Beginn dieser Besprechung das Wort semipermeable Membran in den Sinn. Es steht plötzlich vor mir und fragt mich, was die Erinnerung an diesen Fachausdruck mit dem vorliegenden Buch zu tun hat, das den Untertitel „Aufzeichnungen aus der Au“ trägt. Durchlässig zu werden, bedeutet es nicht, den Stoffaustausch von innen nach außen, von außen nach innen zu gewährleisten, ein Austausch, von dem der Organismus profitiert? In Fragezeichen zu schreiben ist eine kluge Entscheidung, nicht weil ich im Biologie-Leistungskurs ein eher mäßiger Schüler war, sondern weil der Urheber des Buches, der österreichische Autor, Übersetzer und Tänzer Udo Kawasser seine Vorsicht, seine Zweifel an der und seine Fragen an die Welt mit ebensolchen orthografischen Zeichen versieht. Doch Kawasser bleibt nicht bei der Halbdurchlässigkeit, den osmotischen Vorgängen, sondern fordert und fördert Aktivität in beide Richtungen. Dabei ist dieses Buch, es könnte im Allgemeinen für alle tagebuchartigen Aufzeichnungen gelten, im Besonderen von einer frappierenden Schonungslosigkeit, Aufrichtigkeit, ohne jedes Spiel, einer Nacktheit, die nicht jeder Mensch, vor einem von eigener Hand hingerückten Spiegel stehend, aushält.

Kawasser hat innerhalb von vier Jahren jeweils von Frühsommer bis Herbst seinen Lieblingsplatz unterm Faulbaum aufgesucht, seinen Rückzugsort, der es ihm ermöglicht, aus sich selbst zu schöpfen, sich selbst nahe zu sein, neue Perspektiven auf die Welt zu werfen und genau darüber, chronologisch sortiert, in verschiedenen Tonlagen, mal lyrisch, mal essayistisch, zu schreiben. Das ist berührend, das ist schön. Einerseits, weil die Aufzeichnungen einen sehr guten Beobachter der Natur und der menschlichen Verfasstheit erkennen lassen, andererseits, weil Kawasser die Scham überwindet, diesen intimen Bereich öffnet und seine präzise Selbstbestimmung uns zur Verfügung stellt. Ich empfinde das als ein Geschenk. Ein hochwertiges, das um die Arbeit des Lektorats, des Layouts, des Satzes ergänzt, zu einem Schmuckstück wird.

Wenn es trotzdem nicht wohl riecht, dann liegt das an den Eigenschaften des Faulbaums, Rhamnus frangula, über die sich Kawasser seine Gedanken macht. Die Römer betonten mit frangula den Aspekt des leicht brechenden Holzes [lat. frangere: brechen], seine Sprödigkeit, die Germanen rückten „den dumpf-faulen Geruch der Rinde“ in den Vordergrund. Nach kurzer Recherche möchte ich einige Aspekte ergänzen. Rhamnus frangula L., L. für Linné, ist ein Synonym für den heute eher gebräuchlichen wissenschaftlichen Namen Frangula alnus Mill., Mill. für Philip Miller. Die Rinde kann, in der richtigen Dosierung, abführend wirken. Die aus dem Holz gewonnene Kohle wurde früher für Schwarzpulver verwendet. Eine interessante Pflanze aus der Familie der Kreuzdorngewächse, von deren Existenz ich bislang nichts wusste.

Kawassers Faulbaum steht irgendwo in der Lobau, jenem Auengebiet der Donau an Wiens nordöstlichen Rand. Kein Mensch findet diesen Ort, manchmal kommen Kinderstimmen nahe und entfernen sich wieder. Kawasser registriert diese Annäherungen nicht als Störung, sondern als anzunehmende Außenwelt, die in sein Weltinnen kommt. Eine Welt, in der ziemlich viel los ist, Menschen sich über Gedanken und durch die Lektüre von Büchern miteinander verbinden. Rilke ist natürlich präsent, ohne ihn wäre das Wort Weltinnen nicht zu sagen.

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

(aus: Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen, 1914)

Es sind eben nicht nur die Schriftsteller, Valéry, Camus, Frisch, Paz, Sontag und viele mehr, die dem Mann unterm Faulbaum begegnen. Fauna und Flora sind Anlässe des Austauschs, so die intensive Beobachtung der Wasserläufer, der Hechte und Sonnenbarsche oder der Hufeisen-Azurjungfer, einer Libellenart. Da haben auch Reflexionen und körperliche Reflexe auf vergangene Beziehungen, Einsamkeit und sich neu anbahnendes Glück Platz. Es ist für mich, der so voller Scham ist, dass er mit dem Wort Fremdschämen nichts anzufangen weiß, die merkwürdigste Erfahrung der Lektüre zu spüren, wie ich mich mit dem Ich des Buches freuen kann über dessen bevorstehende Hochzeit. Empathie ja, aber Fremdfreuen?

Nur einmal kommt es zu einem realen Aufeinandertreffen zweier Menschen, einmal durchdringt ein Fremder Kawassers selbst gewähltes Dickicht. Es ist ein Wanderer, der nackt umherstreift und sich über die Biberpopulation erregt. Ich denke, Camus hätte sich an diesem Bild gefreut, eine absurde, eine die Erwartungen an das Leben enttäuschende Situation, in der zwei Männer nackt voreinander stehen und sich nicht austauschen können. Der eine deklamiert, der andere schweigt oder spricht lediglich aus Höflichkeit Belangloses, ohne preiszugeben, was er denkt und fühlt. Beide agieren derart, um die Scham zu überspielen. Sie gehen grußlos auseinander. Durchlässigkeit, so eine wichtige Erfahrung, hat eine Grenze. Diese verläuft nicht entlang der Schamgrenze, die Nacktheit sich zum Anlass nehmen könnte, sondern äußert sich viel existenzieller im Kampf des Ichs mit dem Weltaußen: einfach, zweifach, milliardenfach! Einmal mehr denke ich an Sisyphos, an dessen auferlegte göttliche Strafe und seine Gedankenfreiheit, derer er sich bergab bemächtigt und die Götter als kraftlose, alte Männer in die Ecke stellt, während das Ich aus sich selbst schöpft. Und ich denke an Autopoiesis, den Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems, ein Begriff, den Kawasser nutzt und von dem ich im Internet unter Kriterien lese: Sie hat erkennbare Grenzen.

Diese Grenzen auszuloten, hier und heute am Beispiel Kawassers, bleibt eine Aufgabe, die nicht abgeschlossen werden kann, solange wir leben.