Artur Becker: „Kosmopolen. Essays“

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Heimat Wurmland
Artur Beckers Identität als Kosmopole

Das Kind Artur Bekier wurde 1968 im masurisch-ostpreußischen Bartoszyce geboren. Der Ort, zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes und auch noch heute, wohl bedingt durch die lange Phase des Friedens in Mittel- und Osteuropa, die wir zunächst als Nachkriegsordnung und dann zunehmend nach dem Jahr 1989 als Überwindung der Nationalstaaten im Sinne der Solidarität in der Europäischen Union erleben durften (die berechtigten Zweifel am Fortbestand bedingen das Präteritum!), liegt auf polnischem Staatsgebiet. Mittels Satellitennavigation und Software ist es ein Leichtes, dort hinzufliegen, hinzuzoomen. Und sich die Gegend anzuschauen, die Bilder aufzurufen, die Nutzer bereitwillig und koordinatengenau eingestellt haben. Vergessen geht dabei allzu leicht, dass dieses unschuldige Zoomen und Klicken in einer globalisierten Welt nur scheinbar dazu dient, die Schönheit der Welt anzusteuern und abzubilden, sondern vielmehr passgenaue Ziele, Targets für militärische Zwecke, letzten Endes für die Auslöschung menschlichen Daseins zu liefern.

Was Dostojewski nicht erahnen konnte – trotz seiner prophetischen Überlegungen zur sozialistischer Utopie und Gesellschaft – , ist die spätere rasante Entwicklung unserer Technologie und Technik. Die Rolle der Technologie und des technischen Fortschritts, der unsere Weltsicht und unser Bewusstsein revolutioniert hat, konnte erst nach dem Ersten Weltkrieg kritisch gesehen werden. Man kann an dieser Stelle von einer technischen Utopie sprechen, die seit der Industrialisierung bis heute realisiert wird – und das noch erfolgreicher als jegliche gesellschaftliche Utopie.
[aus: Über die Zukunft der Literatur und der Identitätssuche]

Mögen wir glauben, die technischen Fortschritte unserer vernetzten Welt wären mit nichts zu vergleichen, was vor einhundert und mehr Jahren erdacht, erfunden wurde, sollten wir uns gewahr werden, welche entscheidenden Einfluss Fotografie und Film bereits im Ersten Weltkrieg besaß, worüber der französische Dromologe und Philosoph Paul Virilio in „Krieg und Kino“ schrieb und was die Ausstellung „Die letzten Tage der Menschheit“ im Alten Museum, Berlin 1994 verdeutlichte.

Aber die auktorialen Blicke dieser militärischen Hawk Eyes dringen nicht in die Tiefe, sondern bleiben an der Oberfläche. Ich bin geneigt zu sagen: das Eindringen ist die Aufgabe der Literatur. Im Erdreich, davon weiß Artur Becker, 1985 nach Deutschland gekommen, in seinem Essayband „Kosmopolen“ profund, schillernd und eindrücklich zu berichten, wohnen nicht nur die Würmer, die es den Leuten in Warmia, dem Ermland erlauben, liebevoll-selbstironisch, wie ich annehme, ihre Heimat Wurmland zu nennen. Da liegen auch die Toten, die Vorfahren und ein kompliziertes Wurzelwerk aus Geschichte und Familiengeschichten, die angesichts verschlungener Lebenswege den Schriftsteller Becker rückverweisen in den Zustand eines in seinen Lebensumständen noch nicht eingeschränkten Menschen: Das ist der universelle Ort einer glücklichen Kindheit.

Und wenn Becker in seinen Essays und Rezensionen über Geschichte, Religion, Utopie, Heimat, Exil, Sprache, Literatur und vieles mehr schreibt, in den Kapiteln „Im Geistland“, „Orte am Weg“, „Die poetische Landschaft“ und „Der Kontinent Heimat“ sind Arbeiten von 2004 bis 2015 aufgenommen, immer wieder kehrt der Schriftsteller zurück zu diesem Ort, der eben nicht nur für eine polnische Identität steht. Bartoszyce (ebenso wie das Erholungszentrum „Morena“ an Dadaj-See, wo Beckers Vater arbeitete und die Familie die Sommer verbrachte, und der Garten in der Kopernikusstraße bei Großmutter Natalia) steht auch für: – Eine vom Menschen weitgehend unzerstörte Landschaft, die in die Tiefe gehende Räume aufweist (hierin eine Referenz an das Kind Thomas aus Czeslaw Milosz‘ „Tal der Issa“). – Das Scheitern einer gesellschaftlichen Utopie, die ihren eigenen Erwartungen im Moment der Umsetzung nicht gerecht werden kann und zu einem korrupten, menschenverachtenden System wird. – Willkür, Überwachung, Kriegsrecht. – Die Hoffnung, die mit der Wahl Karol Wojtylas zum Papst Johannes Paul II., dem Literatur-Nobelpreis für Milosz und mit „Solidarnosc“ in die sozialistische Welt kommt. – Die Hoffnungslosigkeit, der zu entfliehen der Rettungsanker für den Jugendlichen wird, wenn er zu seiner Freundin nach Poznan fährt, in verdreckten, nach Alkohol und Überdruss stinkenden Zugwaggons. – Die Entdeckung der Liebe und des Schreibens als einzige Mittel, den Tod in Schach zu halten. – Den „Weltenbrand, der wir jeden Tag löschen“. – Den Schnittpunkt eines deutschen und eines polnischen Familienzweigs, den das Kind Artur in sich spürt und der die Absurdität des Lebens, seine Sinnentleerung, vor allem in Kriegszeiten, aufzeigt. Becker erzählt, dass seine polnische Großmutter in Nazideutschland Zwangsarbeit leisten musste, während sein sogenannter deutscher Großvater mit österreichisch-polnischen-russischen Wurzeln Wehrmachtssoldat wurde und an den Kriegserlebnissen zerbrach. Zerrissenheit, mag sie vielleicht auch als Metapher polnischer Identität zur Verfügung stehen, geht zuallererst durch Individuen und ihr engstes Umfeld, durch die Familien.

Beckers Beschäftigung mit Leben und Werk Czeslaw Milosz‘ nimmt eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Exil ein. Becker erinnert daran, wie Milosz sich im Sommer 1951, nachdem er zu Beginn des Jahres den Dienst für die Volksrepublik Polen quittiert hatte und aus Sicht der Stalinisten zum Verräter geworden war, auf den Weg zu einem Dorf in der Nähe von Grenoble macht, um dort Stanislaw Vincenz (1888-1971) zu treffen. Milosz geht es körperlich schlecht, er denkt an Selbstmord. Doch durch die sich wiederholenden Besuche bei Vincenz kommt Milosz langsam zur Ruhe und findet zum Schreiben, insbesondere zu seiner Lyrik zurück. Den Linken in Frankreich bleibt Milosz suspekt, zu groß, zu unüberwindbar der klaffende Spalt zwischen der sozialistischen Utopie in Westeuropa und der scharfen Analyse des Stalinismus in Milosz‘ Essayband „Verführtes Denken“.

Durch meine Emigration erlebte ich eine Art Wiedergeburt, und ich entdeckte, dass unsere wahre Herkunft niemals auf der Erde gefunden werden kann. Ich musste Das Buch Kohelet, Czeslaw Milosz‘ und Thomas Stearns Eliots Gedichte und Essays lesen, weil ich plötzlich begriff, dass wir alle Vertriebene sind – Verstoßene, die den uns alle miteinander verbindenden und vereinenden Ursprung eben nicht in der Kindheit, verlebt in einer bestimmten Sprache und Nation, finden werden. Die Kindheit fungiert lediglich als Sprungbrett für die späteren Entwicklungen und Vorhaben, und glücklich sollte sich derjenige schätzen, der die Symbole und Zeichen seines Geburtsortes und seiner Epoche deuten und lesen kann.
[aus: Gegen den Tod]

Auf der Suche nach einem europäischen Zuhause entwirft Artur Becker ein Gegenbild zu Milosz‘ „Das Land Ulro“, nach William Blake eine Heimat der Entwurzelten, der Leidenden, eine Heimat, mit der sich Milosz nicht abfinden will und doch weiß, dass diese Heimat seine geworden ist. Becker befragt sich:

Und woran glaube ich? Und was hält mich am Leben? Manchmal glaube ich an Gott, und ein anderes Mal kann ich ihn nirgendwo finden. Dann bin ich ein Verlorener, ein Atheist. In solchen Momenten lese ich wieder theologische Werke. Oder ich greife ganz tief in die geheimnisvollste Schatzkiste unserer Kulturgeschichte und hole aus ihr Swedenborg, Jakob Böhme oder gnostische Texte heraus. Ab und zu bin ich mir wiederum hundertprozentig sicher, dass es die Erlösung gibt und dass der Logos in unserer Welt göttlichen Ursprungs ist. In diesem Fall denke ich sofort, dass man sich nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen sollte, was uns die Zukunft bringen mag. Der Schmerz, der daraus resultiert, dass wir uns die Unendlichkeit oder die Ewigkeit kaum vorstellen können, verschwindet plötzlich.
Ich war zumindest stets davon überzeugt, dass es irgendwo im Universum – vielleicht bloß nur in uns – einen Ort geben muss, an dem man mit der Schöpfung nicht mehr hadert. An diesem Ort haben Krankheit und Tod selbstverständlich nichts zu suchen, und die Dialektik des Guten und Bösen (das Problem der Theodizee) sollte dort endlich aufgehoben sein. Es gibt in meinem Leben Augenblicke, in denen ich das Gefühl habe, den Ort der geistigen Harmonie sehr gut zu kennen. Ja, ich besuche ihn sogar, und eigentlich ist er mein Zuhause – ich wohne dort.
Diesen Ort, dieses seltsame Land nenne ich Kosmopolen. Die Idee verdanke ich dem Schriftsteller Andrzej Bobkowski (1913-1961), einem anderen großen polnischen Exilanten, der den Neologismus Kosmopolacy (die Kosmopolen) geprägt hatte, und zwar für seinesgleichen. Es geht darum, wie man als im Ausland lebender Pole und Intellektueller von der Weichsel zum unerschrockenen Weltbürger werden könne. In der Emigration eine neue Identität auszubauen, ohne dass man sein Heimatland verstoßen und seine Herkunft verleugnen müsste, ist selbstverständlich eine schwierige Aufgabe; man kann scheitern.
[aus: Im Zug durch Deutschland]

Beckers Versuch, Kosmopolen zu verorten und darin ein erfülltes Leben zu gestalten, weckt in mir die Neugier, meine eigene Identität als Mensch, als Deutscher, als Schriftsteller anhand „dieses seltsamen Landes“ zu überprüfen. Becker spricht eine Einladung aus. Das ist viel, das ist wertvoll.