Dina Sikirić: „Was den Fluss bewegt“

Heil-Land wird kommen
Dina Sikirićs literarisches Debüt „Was den Fluss bewegt“

Die Erzählung der 1955 in Zagreb geborenen Autorin ist ein Werk von ergreifender Zartheit, dem gelingt, lange zurückliegende Kindheitserinnerungen lebendig werden zu lassen und die Zerrissenheit des Kindes zwischen Herkunftsland und Hinkunftsland in prägnante Sprache umzusetzen.

Das Herkunftsland heißt Jugoslawien, das Hinkunftsland ist die Schweiz. Die Gründe für den Weggang aus der Heimat sind weder Krieg, noch politische Verfolgung, noch wirtschaftliche Gründe.

Eine enttäuschte Liebe bringt die Mutter, nach der bereits erfolgten Trennung vom Ehepartner und Vater des Kindes, dazu, dem Ruf einer Freundin zu folgen und in Basel Arbeit zu suchen.

Vor dem Zugfenster flogen ab und zu Lichter vorbei. In ihrem kurz aufflammenden Schein gewahrte ich Schneeflecken. Dies verstärkte mein Behagen. Draußen: Nacht, Eiseskälte, Schnee. Drinnen: Wärme, schlafende oder dösende, ruhig atmende Menschen. Kein Grund zur Furcht. Es war ein Abend Anfang Dezember, als Mutter und ich das Land unserer Geburt verließen.

Dem Behagen, gestillt aus der unmittelbaren Nähe zur Mutter und kindlicher Neugier, folgen schon bald nach der Ankunft und dem Willkommen durch die Freundin tiefgreifende Veränderungen.

Die erste Woche in der Stadt am Fluss verging wie im Flug und niemand stürzte ab. Mutter wurde in ihre Arbeit eingewiesen. Ein älterer Apothekenkollege namens Loeb, der Jahre zuvor als Flüchtling in diese Stadt gekommen war und daselbst rettende Aufnahme gefunden hatte, nahm sich ihrer liebevoll,  ja geradezu väterlich an.

Während die Mutter arbeitet, ist das Kind in einer Tagesstätte. Doch auch in den frühen Sechzigern gibt es zu wenige dieser Stätten und deren Öffnungszeiten passen nicht zu den Arbeitszeiten; wie wenig sich geändert hat in den letzten Dekaden, um die Situation allein erziehender, berufstätiger Mütter nachhaltig zu verbessern!

Die Mutter beugt sich dem Willen der staatlichen Stellen und gibt ihr Kind in ein Kinderheim. Und hier, in einem von Nonnen geführten Haus, erfährt das Kind, Momente größter Demütigung, größten Liebesentzugs, größter Ausgrenzung. Das Kind kann sich nur klein, stumm und unsichtbar machen. Da es nicht der christlichen Religion angehört, noch nicht, ist es „Heide“, ein Wort, das das Kind noch nicht kennt und doch in ihm aufzuwachsen gezwungen wird, solange, bis die christlicher Erziehung der Nonnen im großen Fest der Taufe gipfelt. Das Kind versucht, nachdem es die drei ersten Monate im Heim geschwiegen hatte, die Gebete nachzusprechen, ohne etwas zu verstehen.

Fast tonlos kamen so die ersten Worte der fremden Sprache über meine Lippen: „Pét frunz … Epámetischunza…“

Die fremde Sprache hatte sich mir ganz von allein mit den richtigen Worten in den Mund gelegt. Sprachlos, hilflos, was anderes hätte ich damals zu sagen gewünscht als eben dies: „Erbarme Dich unser!“ Ob Gott mein geradebrechtes Flehen verstand?

Das Kind ist gelehrig und saugt die Eindrücke der neuen Religion auf.

Dieser Heilige Geist, der ein Geist war, aber keiner zum Fürchten, der als weiße Taube die Menschen aufsuchte, zog mich unwiderstehlich an. Was heilig bedeutete, das wusste ich zwar nicht, doch das Wort gefiel mir. Es klang ebenso schön wie hei-len und Hei-land. Wer der Heiland war, das hatte ich auf Bildern gesehen, nämlich ein junger Mann mit einem schmalen, ernsten Gesicht. Für mich aber war er vor allem, was sein Name besagte, ein Heil-Land. Ein Land, in dem die Menschen freudig aufgenommen, wo ihre Schmerzen, Krankheiten und sogar ihre Traurigkeiten geheilt wurden: mit fein duftenden Salben, Bonbons in allen Farben, ganze Rollen von weichem, weißen Gazeverband und großen Pflastern.

Die Mutter stimmt der Taufe nicht zu und meldet das Kind nach den Sommerferien in einem staatlichen Waisenhaus an. Die Ferien verbringen Mutter und Kind in ihrer alten Heimat, bei den Verwandten, die sie mit ihrer Liebe und Hingabe eindecken. Das Kind genießt diese Zuwendung, füllt seine Kraftreserven für die Rückkehr in die Schweiz auf und spürt, wie sich das Gefühl der Zerrissenheit dennoch verstärkt. Sie kann nicht über die entwürdigende Behandlung im Heim sprechen, ihre Hilflosigkeit und Einsamkeit.

Und später wird das Schulkind die Scham überkommen, weil es lernt, seine Wurzeln zu verleugnen, seine Religionszugehörigkeit, seine Familie.

Vor Ekel über meinen feigen Verrat an den Großeltern, an meinem Vater, an meiner Herkunft, hätte ich mich jedes Mal am liebsten wie Rumpelstilzchen in ohnmächtiger Wut in den Boden hinein gestampft, um ganz darin zu versinken. Meine wütende Hilflosigkeit setzte sich als tiefe Scham in mir fest. Ich schämte mich meiner Andersartigkeit, ich schämte mich meines Fremdseins. Ich schämte mich meiner Wehrlosigkeit.

Die dem Kind lang entwachsene Autorin belegt mit dieser Erzählung eine kraftvolle und gar nicht verspätete Gegenwehr, die uns Einblick gewährt in das Seelenleben eines vom sozialen Umfelds und der Zuneigung abschnittenen Kindes. Mit dem Blick auf die Biografie der Autorin lässt sich schnell erkennen, dass sie ihre Wurzeln nicht verraten hat. Dina Sikirić hat mehrere Sprachen studiert und als Übersetzerin gearbeitet. Damit bleibt sie ihrer kindlichen Neugier ebenso treu wie ihren Vorfahren.

Auf Großvaters Knien sitzend hatte ich eine lange Reihe von Gegenständen und Örtlichkeiten aufgezählt, jeweils in zwei verschiedenen Bezeichnungen, die ich inzwischen kannte. Dabei hatte ich jedes Wortpaar mit dem Ausruf begleitet: „ Bei uns heißt es so…, bei euch heißt es so…! […] Eine rauschhafte Sprachlust hatte mich gepackt. Großvater – er selbst lehrte fremde Sprachen aus weit entfernten Ländern an der Universität jener Stadt – war meiner Verzückung mit zärtlichem Vergnügen gefolgt und hatte mich ermuntert, noch mehr und immer noch mehr Wortpaare zu finden.

„Wer weiß, mein Kind, was den Sprachfluss bewegt“, möchte man der Autorin mit der vertrauten Stimme der Mutter zuflüstern.