Peter Wawerzinek: „Das Kind das ich war“

Am Tag nach meiner gemeinsamen Lesung  mit Tarja Sohmer in Minden erstand ich im gerade unter neuer Inhaberschaft wieder eröffneten „Bücherwurm“ Peter Wawerzineks Erzählung „Das Kind das ich war“.

Am Abend zuvor kreisten die Fragen des Publikums nach der Lesung einmal mehr um die Frage nach Authenzität und Autobiografie.

„Das Kind das ich war“ ist Wawerzineks fünfte Veröffentlichung und stammt aus dem Jahr 1994. Im Klappentext wird die Erzählung als autobiografisch bezeichnet.

Diese Erzählung, eine feine Lektüre für eine Zugfahrt von Westfalen nach Südhessen, ist mehr als nur eine Rückschau auf die eigene Kinder- und Jugendzeit. Wawerzinek gelingt ein zeitlose Sicht auf die Landschaft und die Menschen, freilich ohne dabei die fünfziger und sechziger Jahre aus dem Blick zu verlieren. Aber Politik spielt, zumal für die Alten, keine entscheidende Rolle in einer Landschaft, die durch das Licht über dem Meer beschrieben wird, und im Leben der Menschen, die, entweder Fischer oder Bauern, seit langem im gleichen Rhythmus leben und ihre Sehnsüchte über das Meer tragen oder im Wirtshaus ersäufen. In diesem Sinne ist die Erzählung zeitlos, und wäre nicht gelegentlich Spitzbart erwähnt, könnte man leicht vergessen, dass es sich bei Wawerzinek um eine ostdeutsche Biografie handelt, die ihre Tragik durch die Flucht der Mutter in den Westen und die das Kind prägende Existenz als Heimkind und (Adoptiv)Elternkind erfährt.

Wawerzineks Erzählung ist nichts weniger als eine Liebeserklärung an die Menschen in Mecklenburg. Dabei weiß der Schriftsteller, dass er irgendwann von dort weggehen muss. Er weiß um seine Nichtzugehörigkeit. Und doch, aufmerksamer Beobachter mit dem Status eines Outlaws, gelingt es, die Essenz dieser Landschaft und seiner Bewohner dinghaft und lesbar zu machen. Da findet sich viel Zartheit in der Beobachtung der Rauheit, die die Gesichter der Menschen gerbt und die Münder zum Schweigen bringt.

Wo du nicht hingehörst, werden die Straßen menschenleer. Kleine Kinder kommen aus irgendwelchen stillen Winkeln auf dich zu. Sehen dich an, als kämst du vom Mond. Oder jagen wie ängstliche Hunde an dir vorbei.
Wo ich herkomme, teilt der Kalender das Jahr in gute und böse Tage. Die alten Frauen saßen beisammen und legten fest, was aus einer Leibesfrucht werden möge. Und sie behielten fast immer recht.
Meine liebste Jahreszeit war der November. Meine Kindheit wurde von diesem Monat geprägt. Ich mochte Nieselwetter. Ich erinnere mich, welche Freuden der feuchte Hauch bereitete, besonders wenn er auf mein Gesicht niederging. Es gab blauen Niesel, roten, braunen. Ich meinte aus dem Niesel auf die Welt gekommen zu sein. […]
Jeder Niesel sei aus Trauer gemacht, sagte der buckelige Herbert, der mit zunehmenden Alter immer seltsamer wurde und, ins kleine Haus zurückgezogen, am liebsten in Finsternis gewickelt saß. Wenn ich es recht überlege, so erinnere ich mich einzig an das Zimmer, in dem der Herbert, ganz für sich, zum Einsiedler wurde.