Vicente Valero: „Die Fremden“

Die abgewandte Seite der Familie

Vicente Valero, 1963 auf Ibiza geboren, hat 2014 ein Buch über „fremde Verwandte“ veröffentlicht. Herausgekommen ist, nun in deutscher Übersetzung von Peter Kultzen vorliegend, ein im Umfang schmales, doch bedeutendes Stück Prosa, das als Romandebüt beworben wird, vom Autor selbst als Bericht verstanden werden will. Formal mag er, wie der Klappentext nahelegt, an W.G. Sebalds Die Ausgewanderten erinnern, vier Biografien, die skizziert werden, doch sowohl vom Umfang (Sebald: 354 Seiten, Valero: 128 Seiten) als auch von der Vorgehensweise erscheint mir der Vergleich nicht ganz stimmig. Sebald zeichnet das Leben jüdischer Männer nach, sicherlich mit einer auch von Valero genutzten Mischung aus Fakten und Mutmaßungen, die ermöglichen, ein Bild, eine Würdigung, eine Erinnerungsschrift entstehen zu lassen. Valero jedoch wendet sich durch seinen Ich-Erzähler der eigenen Familie zu. Diese Zuwendung erinnert mich an ein Werk ähnlich dichten Umfangs, das ich als ein großes Stück Literatur einer Vater-Sohn-Suche kennengelernt habe, das den Autor, wie Valero auch, auf einen Friedhof führt. Ich spreche von Peter Härtlings Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung von 1982. Doch wenden wir uns von Analogien ab und Valeros Werk zu.

Keine Biografie, mag sie noch so kurz sein, ist frei von Labyrinthen – wer sie betritt, läuft Gefahr, nie mehr herauszufinden. (Trotzdem blühen in diesen dunklen und unübersichtlichen Regionen fast immer die schönsten endemischen Pflanzen, Unikate, wie wir sie uns als Wissenschaftler oder Sammler nur erträumen können.)

Ausgangspunkt für Valeros Recherche über diejenigen Familienmitglieder, die (fast) nie erwähnt wurden, die in Vergessenheit gerieten, ist der Nullpunkt, das Jetzt. Da ist ein Schriftsteller in seinem Haus, umgeben von einer kleinen Anzahl von Erinnerungsstücken und Reliquien, ein goldenes Kreuz, ein kleines Klappschach, einige handgeschriebene Briefe und Postkarten, wenige Fotos.

Seinerzeit habe ich nicht alle Fragen gestellt, die ich hätte stellen sollen, und jetzt ist niemand mehr da, den ich fragen könnte, alle sind tot, und ich bin der Einzige […]

Das sind Sätze, die wir alle kennen. Auch wir haben sie schon gesprochen, vielleicht niedergeschrieben. Jeder von uns weiß um gelüftete und geheim gebliebene Familienbegebenheiten. Deswegen nimmt Valeros Arbeit uns sofort in Beschlag, vom ersten, langen Satz an.

Ob der Mann, dem es nie vergönnt war, zu hören, dass ihn jemand Großvater nannte, ja nicht einmal Vater – obwohl er Großvater und somit auch Vater war –, schlanke, knochige Hände und große, dunkle Augenbrauen hatte wie ich, oder wie ich in der Jugend häufig von Lippenbläschen gequält wurde, habe ich nicht herausfinden können, ist doch bis heute nicht ein Foto des Leutnants Marí Juan aufgetaucht – kein Familienalbum, keine Kommodenschublade, und sei das Möbel noch so alt, kein Stapel von Porträts Unbekannter, wie sie sich mit der Zeit und auf welchem Wege auch immer in jedem Haushalt ansammeln, hatte etwas Derartiges aufzuweisen.

Bei der Lektüre dieser so sorgfältig, ernsthaft und aufrichtig geführten Arbeit schwingen stets unsere Fremden mit. So kommt es mit Valeros fremden Verwandten zu einer Hinwendung zur eigenen Biografie, ein Nachdenken, ein Innehalten, und dort, wo wir die Geheimnisse noch nicht kennen, vielleicht zu einem Zweifel an der Glattheit der Oberfläche.

Wer aber waren die, die ihre Familien in Ibiza verließen? Ich möchte zwei von ihnen vorstellen.

Pedro Marí Juan, Großvater mütterlicherseits, wird im Jahr 1900 als zweitgeborener Sohn einer Bauernfamilie geboren. Der Tradition entsprechend kann er dem Militär oder der Kirche übergeben werden. Doch der Vater hat einen anderen Plan und will ihn zum Anwalt ausbilden lassen.

Dass Pedro Marí Juan kein Anwalt wurde, wissen wir, aber was können wir über den Schüler sagen, der das ganze lange und strenge pädagogische Ritual seiner Kindheit und Jugend absolvierte, sich anschließend aber nicht im Glanz seiner Beredsamkeit sonnen wollte, wozu er eigentlich bestimmt schien, sondern den Glanz der militärischen Uniform vorzog, an den er womöglich auch auf wesentlich weniger beschwerlichem Weg hätte gelangen können?

Mit vielleicht sieben Jahren der familiären Geborgenheit entrissen, lernt das Kind im Internat schnell die Heimat und die damit verbundene Entinselung zu verdrängen. Die Jahre vergehen, er wächst zum Mann heran und lernt ein Weiteres: Schwieriger als die Insel zu verlassen, ist nur, dorthin zurückzukehren. Kurze Besuche verstärken die Entfremdung, trotz der Bewunderung der Geschwister, dem Segen der Eltern. Trotz der Liebe zu Nieves, seiner späteren Frau. Er folgt dem Ruf des Militärs, harrt geduldig aus, in einem trostlosen und feindseligen Ort: Kap Juby. Krank kehrt er zurück.

Die kleine junge Familie, die er im Jahr davor gegründet hatte, zog mit ihm ins elterliche Haus im Mornatal, wo sich von da an auch sein Vater, seine Mutter und die Schwestern um ihn kümmerten, die noch nicht verheiratet waren und folglich zu Hause lebten. Viel geholfen hat ihre Fürsorge jedoch nicht, oder vielleicht nur als Trost, denn der Sohn, Bruder, Gatte und inzwischen auch Vater sollte gerade einmal zwei Wochen nach seiner Rückkehr, im Fieber delirierend und Blut spuckend, sterben.

Ramón Chico, Großonkel väterlicherseits, war republikanischer Offizier, als mit dem Militärputsch im Juli 1936 ein Kampf auf Leben und Tod beginnt. Der Franquismus ist übermächtig und es bleibt nur die Flucht nach Frankreich.

Nachdem mein Großonkel bei Port Bou die Grenze überquert hatte, wurde er in das am sogenannten Nordstrand gelegene Lager Argelès-sur-Mer gebracht, eins der ersten Flüchtlingslager, die die französischen Behörden in dieser Gegend eingerichtet hatten. Schon zu diesem Zeitpunkt hatten Tramontana, Kälte, Hunger und alle möglichen Krankheiten den Ort in einen Schauplatz des Grauens und des Todes verwandelt.

Chico kommt aber schließlich ins Département Tarn-et-Garonne, wo er bis zu seinem Tod lebt und bis zuletzt das Ende der Franco-Diktatur und und die Rückkehr in die Heimat herbeisehnt. Er stirbt 1970 im Alter von 79 Jahren.

Das Grab von Major Chico, samt allem, was darin von ihm noch erhalten sein mag, gehört jetzt mir, so besagen es eindeutig die von der Gemeinde Lisle-sur-Tarn abgestempelten Papiere, mit denen ich das Rathaus verlasse – wenigstens für die nächsten vierzig Jahre besitze ich also ein Stück Land im Südwesten Frankreichs, ein ziemlich kleines Stück Land, natürlich, und dennoch gehört es zweifellos zu unserer Zeit wie auch, soweit ich sehe, immer noch zu unserer Welt.

Valero rekonstruiert in einem Verfahren, das ich nur unzureichend benennen kann, das mich aber staunen lässt, nicht nur einen Teil seiner Familiengeschichte, sondern auch einen Teil vergangener europäischer Geschichte, die, soviel ist sicher, immer noch zu unserer Gegenwart von politischer Willkür und Flucht gehört. Es ist die Sprache, die vielfältige Möglichkeiten zulässt und Abbild-Alternativen einer Wirklichkeit schafft. Nicht in der Gewissheit, sondern in der Unwissenheit entstehen exakt durchdachte Bilder: Zweifelsfrei schön. Zweifelsfrei fremd.