Thomas Bernhard: „Ave Virgilio“

Eine kleine Reihe über Bücher, die ich in Buchhandlungen außerhalb Deutschlands gekauft habe: Librerie Feltrinelli, Via di Franco, Livorno, Italien.

schlug Vogelschreie nieder im Aberweizen…

Ave Vergil hatte Thomas Bernhard 1959/60 geschrieben, jedoch erst 1981 veröffentlicht. Das Gedicht markiert den Abschied Bernhards von der Lyrik.
Über diese Phase seines schriftstellerischen Schaffens schreiben beispielsweise Peter Hamm und Jürgen Brôcan.

Das Gedicht wurde für mehrere Ausgaben ins Italienische übersetzt und zweisprachig veröffentlicht. Der hier vorliegende Band ist vom April 2017.

Das Wort Aberweizen erregte mein Interesse. Für dieses Wort habe ich keine Referenz in meiner Sprache. Ich weiß nicht, was der Autor damit meint. Dennoch oder gerade deswegen war meine Neugier geweckt.

[…]

Im Kornfeld:

Zahlte ich nicht den Preis für mein Leben
bevor ich die Finsternis unterschied von der Finsternis…
lobte nicht zu früh des Abends schattigen Ruhm…

Schiffe, meine Brüder der Horizonte,
erzählt mir von meiner Mutter…
… wo mein Bruder stand an den Ufern,
wo meine Schwester ihren Betrug ausschlief,

redete ich von Apfelgrün und von Winterkleie,
durchsuchte ich meine Manteltaschen…
Unsinnige Psalmen verbreitete ich von der Kanzel,
schlug Vogelschreie nieder im Aberweizen…

[…]

(aus: II – Wintermorgen)

Wie also hat die Übersetzerin Anna Maria Carpi dieses Wort, das sich nicht mit Suchmaschinen nicht finden lässt, übersetzt?

Grano matto

Grano wie auch Frumento heißt im Italienischen der Weizen. Aber Grano bezeichnet auch allgemeiner das Korn als übergeordneter Begriff für alle Getreidearten. Matto ist verrückt, wahnsinnig. Demnach ist Aberweizen ein verrücktes Korn? Das ist noch unbefriedigend. Die Suche geht weiter.

Zwei Treffer:

Franco Buffoni, ein italienischer Dichter, hat eines seiner Gedichte Spiga di grano matto benannt (in: Suora carmelitana, 1997). Hier also eine verrückte Kornähre!

Grano matto als Tollkorn, eine andere Bezeichnung für das Mutterkorn, ein giftiger Pilz, der besonders häufig Roggen, aber auch Weizen, befällt und in früheren Zeiten zu tödlichen Vergiftungen der Bevölkerung führte. Eine in Italien üblichere Bezeichnung ist Grano pazzo. Pazzo meint ebenfalls verrückt, irr, geisteskrank.

Gibt man „Vergil + Tollkorn“ in die Suchmaschine, finden wir schnell heraus, dass sich Vergil in seinem Lehrgedicht Georgica, geschrieben zwischen 37 und 29 v. Chr, mit dem Landbau beschäftigt hat.

Bald kam der Kummer auch zum Fruchtbau: die Halme verzehrte
Schädlicher Brand, und die träge Distel starrte im Felde.
Saaten giengen zu Grund, und es nahmen stachlichte Wälder,
Kletten und Dornen den Plaz ein: Zwischen dem glänzenden Fruchtbau
Herrschte das schädliche Tollkorn mit wildem Hafergewächse.
Wirst du mit emsigen Karsten die Erde nicht öfter besuchen,
und mit Klatschen die Vögel scheuchen, des düsteren Feldes
Schatten mit Sicheln auslichten, gelobend dir Regen erbitten:
Ach, dann bestaunst du vergebens den großen Schober des Nachbarn:
Eichen im Walde geschüttelt werden den Hunger dir stillen.

(aus: Vergil „Georgicon“, 1. Buch, Vers 150-159, Übersetzung: Johann Heinrich Jung 1787)

Im 20. Jahrhundert hat sich Eliot intensiv mit Vergil beschäftigt, so wundert es nicht, dass Bernhard seinem Gruß an Vergil ein Zitat von Eliot voranstellt.

I set upon the shore
Fishing, with the arid plain behind me
Shall I at least set my lands in order?

(aus: T.S. Eliot „The Waste Land“)

Die Bauern in der Toskana berichten, dass es seit vier Monaten nicht geregnet hat.