Matthew Sweeney: „Hund und Mond“

Cabáiste dearg – Blue Cabbage

Matthew Sweeney, 1952 im irischen County Donegal geboren, hat für seine Poesie den Begriff des alternative Realism geprägt. In Deutschland wurde dieser sich von Surrealismus und magischem Realismus absetzende Ausdruck mit Sweeneys Aufenthalten in Deutschland und spätestens mit der ersten Übersetzung ins Deutsche von Jan Wagner („Rosa Milch“, Berlin-Verlag, Berlin 2008) bekannt und findet nun wieder, mit der zweiten zweisprachigen Ausgabe von Sweeneys Poesie, Anwendung.

So schreibt die Darmstädter Jury in der Begründung für die Auszeichnung Buch des Monats im Oktober 2017 für Hund und Mond (Übersetzung: Jan Wagner, Hanser-Verlag, Berlin 2017) :

„Seine Texte seien ‚alternativer Realismus‘, sagt der 65jährige irische Lyriker Matthew Sweeney über seine fantastischen neuen Erzählgedichte. […]“

Unabhängig davon, ob dieser vom Autor eingesetzte Begriff trägt, lese ich mit Verwunderung, dass die Jury sagt, was der Autor vorsagt. Die Tendenz zur Verschlagwortung, zur Verschubladung im Buchmarkt macht auch vor der Kritik nicht Halt, verstellt die Details einer Poetologie, die nicht durch Schlüsselbegriffe, sondern nur durch das Werk belegt werden können.

Es wäre eine Untersuchung wert, wie eine Abgrenzung zwischen Surrealismus, magischem Realismus und alternativem Realismus vorgenommen werden kann. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass in der Bildenden Kunst der Übergang vom magischen Realismus zum Surrealismus als fließend bezeichnet wird und dass mit Kafka und Grass zwei auf Deutsch schreibende Schriftsteller als Vertreter des magischen Realismus bezeichnet werden, Autoren, die Sweeney studiert hat und deren Werk er sehr schätzt.

[…] dir erzählen
vom klitzekleinen Pferd, das sich entschloß,
bis zur Antarktis zu galoppieren, jedwedes
Meer zu durchschwimmen, Menschen ignorierte,
die aufzuspringen versuchten, vorbei an Kameras
und Grenzen, Männern, die es aufhalten wollten,
hinab zum letzten, langen Zipfel Argentiniens,
[…]

[aus: Kleine Blume]

[Das Pferdchen reitet durch den Kontinent des magischen Realismus. Wollte Márquez es aufhalten, versuchte Felisberto Hernández aufzuspringen? Der Uruguayer wird mal als Fantasy-Autor bezeichnet, mal als Vorvater des Fabulismus. Márquez soll Hernández zu seinen literarischen Vorbildern gezählt haben.]

Als Charakteristika des alternativen Realismus möchte ich nach dem Lesen einiger englischsprachigen Quellen über Sweeney nennen: eine anti-lyrische Stimmung, narrative Elemente, bis hin zu an Filmplots erinnernden Erzählsträngen, individuelle Wahrnehmung der Realität, ein reduziertes Interesse an Geschichte, gemeint: an Geschichtsschreibung und -aufarbeitung sowie eine Mischung aus humorvollen und ernsten Tonlagen.

Mit dieser zuletzt genannten Eigenschaft löst sich auch der erste Eindruck auf, den die Lektüre von Hund und Mond bei mir hinterließ: Meine Überraschung über die Vielfältigkeit der Stimmungen und Erzählweisen. Das Phantasievolle steht neben ernsten, ja zornigen Gedichten (Into the Air – in memoriam Seamus Heaney), einige Texte sind autobiografisch, andere lassen der Erzähllust freien Lauf, einige erzählen in freien Versen, andere sind in Reimen gearbeitet (und demnach nicht anti-lyrisch).

Höhepunkt der Auswahl sind diejenigen Gedichte, denen gelingt, die Imagination der Realität mit Geschichte zu verbinden, um eine mögliche Lesart der Vergangenheit anzubieten. Aber auch jene Texte, bei denen autobiografischen Spuren zu finden sind, zähle ich zu den stärksten Texten.

Der Berichten zufolge […]
[…]
blies in Sète der Glasbläser am Hafen
einen Leuchtturm mit eigenem Lichtkegel,
und 2004 bliesen in Timișoara drei
Glasbläserburschen ein neues Sonnensystem,
ließen es steigen, ließen es ziehen.

[aus: Eine Geschichte der Glasbläserei]


[…]

Meine Schiffe sind instand gesetzt dank der üppigen
Wälder, die diese Insel krönen, wo der Nebel
die Wipfel auslöscht. Ich habe Männer angeworben,
um die Matrosen zu ersetzen, die durchgebrannt sind
mit den hiesigen Rothaarfrauen, was ich ihnen
kaum vorwerfen kann. Bin ich nicht fast
genauso schlimm? Heute morgen ging ich zur Kirche
und verneigte mich vor der Statue der Jungfrau,
kniete dann vorm Altar, um Gottes Segen für die große
Reise zu erbitten über den furchterregenden Ozean –
wenn ich mich denn je losreißen kann von jener Dame.

[aus: Kolumbus auf Gomera]


Als ich den Erdbeeren den grünen Schal

aus feinen Netzen umband, erzähltest du mir
von der Kuh, die hinaus zur Insel schwamm
und dastand, muhte, bis die Seehunde
näher kamen, ihr Japsen dazugaben unter
den kreisenden Möwen […]

[aus: Im Garten – in memoriam meines Vaters]


[…] In jedem von euch

lebt mein lange toter Großvater, leben die Schweine

die Schweine, die er schlachtete, spaltete im Hof,
ihr letztes Quieken, dann die schwere Reise
gleich zweimal durch den Fleischwolf in die Schüssel

die Schüssel, wo gehackte Zwiebel hinzukam,
auch wilder Thymian, Knoblauch, Brösel, Petersilie,
Salz und eine gute Prise Pfeffer. […]

[aus: Würstchen]

Seine Kunst der Übertragung zeigt Jan Wagner insbesondere dort, wo Sweeney dem narrativen Erzählfluss entsteigt und in gebundener Sprache spricht, hier seien Die Warnung, Die Strickleiter und Eine Prinzessin genannt und gewürdigt.

Nicht überzeugen können mich hingegen die beiden Haiku-Serien Haikus für meinen Vater und Kreatürliche Haikus. Ich fühle mich dem ursprünglichen Konzept der konkreten Naturbeobachtung verpflichtet. Den Reim in den beiden Fünfer-Zeilen verstehe ich nicht. Man kann das machen, ja, in einer Zeit, die dem Individuum so ziemlich alles erlaubt, was gefällt, mir aber gefällt es nicht.

In der strengen 5-7-5 Silbenabfolge geschrieben, sowohl im Englischen als auch im Deutschen, fällt mir eine Zeile in den Blick, die acht Silben enthält:

what about the blackened one / Zehennägel. Vielleicht sogar

[aus: Haiku for My Father / Haikus für meinen Vater]

Über das Wort Blaukohl bin ich gestolpert. Sofort dachte ich, dies muss Rotkohl heißen. Oder Rotkraut oder Blaukraut, wobei aus dem Zusammenhang des Gedichts deutlich hervorgeht, dass um den noch nicht zu Kraut verarbeiteten Kohl geht.  Aber Sweeney nennt das Gedicht The Blue Cabbage. Wagner lässt sich nicht irritieren und belässt seine Übersetzung auf blau, eine Farbe, die im Verlauf des Gedichts eine Rolle spielt. Der Verlag folgt dem leider nicht. Am Ende des Bandes, dort wo Verlagsmenschen einen griffigen Text über ihr Produkt formulieren, heißt es:

Wer sich Matthew Sweeneys Gedichten anvertraut, kann nie wissen, wo er landet, in Grönland oder im Inneren eines gigantischen Rotkohls […]

Der Boden, alkalisch oder sauer, entscheidet darüber, wie das Gemüse regional bezeichnet wird. Das weckt meine Neugier für die Nuancen der Sprache und für ihren PH-Wert.

Nein, ich werde den Blaukohl nicht kochen,
ich werde ihn reichlich gießen mit
Gorillaspeichel, derart wachsen lassen, daß ich
mit einer Kreissäge eine Tür hinein ins
knorrige Innere schneiden kann und mir dort
mit dem Schwert einen Rückzugsort aushöhle
[…]

[aus: Blaukohl]