Johann Lippet: „Kopfzeile, Fußzeile“

Mitgift Heimat

Sie ist ein Geschenk, das wir nicht verweigern und dem wir uns nicht entziehen können. Heimat wird uns mitgegeben, ob wir es wollen oder nicht. Wir können uns nach ihr sehnen oder vorgeben, unsere Wurzeln vergessen zu haben. Beides setzt voraus, dass wir irgendwann einmal, aus welchen Gründen auch immer, die Heimat verlassen haben. Gründe dafür gibt es zahlreicher als für das Festhalten an der Heimat.

Muss man die Geschichtsvergessenen an Gewalt, Terror, Krieg, Armut der vergangenen Jahrhunderte in Europa und weltweit erinnern, an die Migrationsfurchen, die die Politik im großen Kontext wie auf lokaler, regionaler Ebene verursacht hat? Im gesellschaftlichen Diskurs um Heimat geht es aktuell und schon sehr viel länger um Abgrenzung, Abschottung. Diese Haltung übersieht aus politischem Kalkül, dass Heimat und Migration Geschwister, keine sich hasserfüllt gegenüberstehenden Gegner sind.

Johann Lippet, 1951 in Wels (Österreich) geboren, kehrte 1956 ins Banat, in das Geburtsdorf seines Vaters zurück. Rumänien verließ er 1987. Seit 1998 lebt er in Sandhausen bei Heidelberg.

Für mich ist Banat ein Wort, dem ich keine Heimat zuordnen kann, denn meine Mutter gebar mich an einem anderen Ort in einer weit von ihrem Geburtsort entfernten Gegend. Doch es gelingt Lippet in seiner neuesten, 2016 veröffentlichten Lyrikpublikation „Kopfzeile, Fußzeile“ etwas über Heimat zu sagen, das allgemeingültig ist. Er formuliert seinen Schmerz über den Verlust der Heimat, seine Nostalgie, so stark, dass er auf den Lesenden überspringt. Nach der Lektüre fühlte ich mich verletzt, Wunden waren aufgegangen, von deren Existenz ich nicht wusste oder deren Tiefe ich verdrängt hatte.

Das Dorf ist Lippets Zentrum. Er kennt es aus seiner Hosentasche. Die Krümel seiner Existenz sind nach Jahrzehnten nicht weggewaschen, nicht ausgespült worden. Alles ist noch da: die Felder, die Obstbäume, die Wege, die Fassaden, der Kirchturm, der Friedhof.

In meinem Leben habe ich lediglich sechs Monate lang in einem Dorf gelebt, vor einundzwanzig Jahren, als ich in Honduras weilte. Aber als Stadtmensch habe ich dennoch eine genaue Vorstellung, was Lippet mit der Zeile „wo beginnt der Weg, der einzige, unfehlbar.“ meint. Ich gehe gerade jetzt, vom Bus, der von Tegucigalpa aus nach Olancho fährt, auf die asphaltierte Landstraße ausgespuckt, den steinigen, staubigen (und einzigen) Weg entlang, bis ich zum Dorf gelange. Kann der Ort Heimat in der Fremde liegen?

Ich vermute, Lippet würde das verneinen. Und dennoch rufen seine Worte in mir ausgerechnet Bilder aus der Fremde hervor, die mir die Frage nach Heimat stellen. Aber es gibt auch, zunächst nicht so leicht zugänglich, vertraute Bilder, Wunschbilder, Erinnerungen an eine vermeintlich unbeschwerte Kindheit, von denen ich schon lange um ihre Trugkraft weiß: Mein Geburtsort, meine Mutter, mein Vater, mein Bruder, die Großeltern. Wäre es nur so schön, so sorgenfrei gewesen, wie es mir erschienen war. Hatte ich Nostalgie für mich kategorisch abgelehnt, Lippet belehrt mich eines Besseren. Eine Nacht lang fühlte ich körperlich den Schmerz um das, was verloren ging, weil es verloren gehen musste.

Lippet notiert: „Nostalgie ist nicht das krank machende Heimweh, die wehmütig verklärte Hinwendung zu Vergangenem, sie ist die Hinnahme der Selbsttäuschung, die dem elementaren Bedürfnis entspringt, sich glücklich gefühlt zu haben, um es wenigstens zeitweilig auch gegenwärtig sein zu können.“

In seine Poesie übersetzt ist das ein

Strohhalm

Heimat, brüchiges Wort,
zwei Silben, Glassplitter,
im Mundraum, immerfort Wundraum,
im Glücksfall läßt den Verlust,
an dem das Herz hängt,
das Auge nochmals erstehen.

Gleich, wo wir heute sitzen und an welche Heimat wir uns erinnern, es stellt sich die Frage: Was bleibt anderes als Verlust? Es ist eine Frage, die wir so exakt wie möglich beantworten müssen und doch keine ausreichende Antwort finden. Diese Leere verdichtet sich in Andrei Tarkovskys „Nostalghia“ zu der Metapher des Schimmels auf der Koppel. In Albert Camus‘ „Der erste Mensch“ ist es die Farbigkeit und Lebendigkeit Belcourts, des Armenviertels in Algier. Bei Lippet finden wir

Staub im Oberschnitt der Bücher,
mit meinem Namen auf dem Rücken.

(aus: „Randnotiz“)

Das klingt nach Ernüchterung, vielleicht mit einer Spur Verbitterung, aber was bleibt, ist der Strom der Erinnerungen, der Lippet weiterarbeiten lässt.

An die Arbeit, Tag und Nacht,
ein Lebtag lang wühlen im Feld fürs täglich Brot,
sei erinnert, an Werkzeuge, Hacke, mit der in der Hand
ein Bauer geboren wird, Sense, eine Kunst an sich
sie zu führen, Sichel, wie die Sense gedengelt, Mistgabel,
auf allen Holzstielen Abdrücke hinterlassen, über den Tod hinaus.

(aus: „Lob der Erinnerung“)