Aka Morchiladze: „Der Filmvorführer“

Schatten: riesig, endlos

Einen Vorführraum habe ich nie von innen gesehen. Als Kind habe ich manchmal die Lichtstrahlen, die die Kinoleinwand ausfüllten, zurückverfolgt bis zu jenem magischen Auge, aus dem die Lichtbündel und mit ihnen die Geschichten kamen. Habe ich da bereits das Kino als Ort filmischen Erzählens verstanden? Ich glaube nicht. Machte ich mir Gedanken über die einsame Arbeit des Filmvorführers? Kaum. Schnell ging mein Blick wieder zur Leinwand und überwand mit einer 180 Grad-Drehung die Schwärze des ehrwürdigen Saals, der noch mit Klappstühlen aus rotem Plüsch (oder war es grüner Cord?) bestückt war.

Aka Morchiladze, 1966 in Tbilissi, Georgien, geboren, wird bei der Eröffnungszeremonie zur Frankfurter Buchmesse 2018 am 9. Oktober gemeinsam mit Nino Haratischwili Hauptredner des diesjährigen Ehrengastes sein: Georgia – Made by Characters.

Morchiladzes aus dem Jahr 2009 stammender Roman მამლუქი wurde nun in der Übersetzung von Iunona Guruli mit Unterstützung des Georgian National Book Center und des Ministry of Culture and Sport of Georgia im Bonner Weidle Verlag im Vorfeld der Messe herausgegeben.

Die beiden Hauptfiguren, Beso und Islam Sultanow, erinnern unweigerlich an jenes Filmpaar, das wie kein anderes dem Vorführraum ein Denkmal gesetzt hat. Ich spreche von Toto und Alfredo aus Giuseppe Tornatores (Regie und Drehbuch) Nuovo Cinema Paradiso von 1988.

Es geht um die Freundschaft zwischen einem jüngeren Mann, der zu früh seinen Vater verloren hat, und einem vierzig Jahre älteren. Islam Sultanow, der in der westgeorgischen Provinz als Filmvorführer arbeitet, wird Besos Freund und Ratgeber, Vaterersatz. Und wie Alfredo dem heranwachsenden Toto zur Seite steht, als er sich unsterblich verliebt, ihn ermutigt, nichts auf soziale Unterschiede zu geben, sondern nur dem Herzen zu folgen, so unterstützt auch Sultanow Beso, nachdem der sich nicht standesgemäß in ein Mädchen verliebt, das, anders als er, aus besseren Verhältnissen kommt.

Aber wie Morchiladze, dessen umfangreiches Werk schon mehrfach verfilmt wurde, in einem Video zur Vorstellung des Guest of Honour sagt: „Film. […] It’s a different world. Totally different.“

Und so ist die Sache ganz anders. Um uns über die Freundschaft von Beso und Sultanow dem anzunähern, was der Autor zum Ausdruck bringen will, müssen wir Toto und Alfredo des Wegs ziehen lassen und den deutschen Titel Der Filmvorführer beiseitelegen. Denn es zeigt sich schnell, Morchiladze verfolgt nicht Tornatores Absicht, Sentimentalität einen großen Raum zu geben. Seine Prosa ist im besten Sinne ein Gegenpart zum Italiener: Spröde. Nicht geschmeidig, sondern hart! Morchiladzes Originaltitel Mameluk verweist auf Militärsklaven kaukasischer Herkunft ebenso wie auf Herrschereliten. Dieser Titel verrät mehr über den Inhalt der Geschichte. Und was geht es demnach in dem Roman?

Zwei große Themen verdeutlicht Morchiladze mit den Aufzeichnungen Besos, die dieser hinterlässt, als er spurlos, wie zuvor Sultanow, verschwindet. Verbannung und inneres Exil werden gezeigt, damit auch Fragen nach territorialem Besitz, Nation, Fremdherrschaft und Krieg. Was auf der einen Seite zu Abgrenzung und Feindschaft führt, wird auf der anderen Seite durch Toleranz gegenüber einer anderen Kultur, einer anderen Religion mittels einer Freundschaft, dem Erkennen eines Menschen als Individuum, nicht als Stellvertreter irgendeiner Gruppe, aufgehoben.

Sultanow ist der rechtmäßige Nachfolger des letzten Khans von Kirbal. Die Kommunisten rücken in Mittelasien ein, ermorden den Vater. Das Kind wird mit der Mutter verhaftet und aus seiner Heimat verbannt. In Tbilissi finden sie Unterschlupf, aber Sultanow wird erneut verbannt, für 20 Jahre nach Sibirien geschickt. Als er zurückkehrt, ist seine Mutter gestorben. Er muss aus der georgischen Hauptstadt raus, wird ein drittes Mal verbannt, dieses Mal in die westgeorgische Provinz.

Spielt das Thema der Verbannung beispielsweise in Carlo Levis Christus kam nur bis Eboli, in Ferit Edgüs Ein Winter in Hakkari oder in Christoph Ransmayrs Die letzte Welt eine entscheidende Rolle, so ist es doch Morchiladze vorbehalten, mit dem Eingesperrtsein in einem Vorführraum eines Filmclubs in einer georgischen Kleinstadt, den Bann als Blackbox der Entwurzelung, ja, vorzuführen, bis zum Ende auszuleuchten.

Krieg ist dort, wo territoriale Machtansprüche aufeinandertreffen. Der junge Beso wird als Soldat nach Afghanistan geschickt. Jeder weiß, das bedeutet den Tod. Sultanow hat Beso aber auf den Notfall vorbereitet, ihn gezwungen, einen Satz auswendig zu lernen und aufzusagen, wenn er in feindliche Hände gerät. Beso weiß nicht einmal, welche Sprache er auswendig spricht, als ihm ein Gewehr an den Kopf gesetzt wird. Er überlebt. Krieg ist später, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, auch in Georgien, das nach Freiheit und Unabhängigkeit strebt.

Akaki Bakradze (1928-1999), Publizist und Literatur-, Kunst- und Filmkritiker merkte in einem Essay an:

Georgien hatte noch nie während seiner langjährigen Geschichte mit ebenbürtigen Staaten zu tun. Es war immer der Kampf gegen die Goliaths dieser Erde: Georgien vs. Römisches Reich, Georgien vs. Byzantinisches Kaiserreich, Georgien vs. arabisches Kalifat, Georgien vs. persisches Schahinschat, Georgien vs. mongolischen Aul, Georgien vs. osmanisches Sultanat und Georgien vs. Russisches Zarenreich.
(aus: Akaki Bakradze: Ein lauter Weckruf, in: Guram Assatiani: So liebte man in Georgien, Pop Verlag 2017) 

Bei Morchiladze bleibt offen, ob Beso verschwunden ist, um das Erbe seines Freundes Sultanow anzutreten. In einem Abschiedsbrief schreibt der Ältere dem Jüngeren:

Falls es so kommen sollte, daß ich diesen Kampf verliere und es nicht schaffe, mein Land zurückzuerobern, mußt Du wissen, daß ich nicht verloren habe, denn Du lebst und lebst so, wie es einem Mann zukommt. Ich will Dich weder zu etwas zwingen noch Dich belehren, aber vergiß nicht, daß, egal ob verloren oder gewonnen, Du Dein Land hast, daß Du mein Erbe bist, und falls Du Dich jemals entschließt, herzukommen und Dein Land anzunehmen, es immer auf Dich warten wird.

Die Freundschaft, die Beso und Sultanow schließen und pflegen, geht über die Begrenzung von Sprache und Religion hinweg. Sie hat nichts gemein mit dem Fanatismus und Chauvinismus, der sich an anderer Stelle in der georgischen Literatur Bahn bricht:

Ich riss die Illustration von Zichy aus Rustawelis „Mann im Tigerfell“ heraus und schenkte sie einem muslimischen Georgier. Ich bin ein helles Köpfchen: ich weiß, dass es für einen gläubigen Muslim nach dem Heiligen Buch verboten ist, sowohl ein Bild anzunehmen als auch zu erwerben. Und mit diesem Geschenk möchte ich ihn gegen Allah aufwiegeln, – nun, warum wurde er auch Muslim, er – ein Georgier, warum hat er Mohammed mit dem Turban unserem Herrgott Christus vorgezogen? Und ausserdem: falls ein vorsichtiger Wächter, ein fanatischer Mullah kurz auf diese Bilder schaut und zerreisst, ist mir das egal! Wie kann man bloss die beiden vergleichen, den Künstler Zichy und Schota Rustaweli! Zichy – der winzige Maler, Rustaweli – der grosse Dichter. Zichy wurde in Ungarn geboren und stiess auf der Suche nach einem Bissen Brot nach Petersburg. Was weiß er schon von unserer Geschichte, unseren Sitten und unserer Sprache.
(aus: Aus dem Notizbuch, in: Tschola Lomtatidse: Die Beichte, Pop Verlag 2015)

Morchiladze dagegen setzt auf einen Dialog zwischen Sultanow und Beso:

„Hast du das Neue Testament nicht?“
Ich war gut gelaunt, also sagte ich: „Du bist doch ein Tartare, wieso interessiert dich mein Glaube?“
„Das spielt keine Rolle“, antwortete er irgendwie überzeugt, „was wichtig ist, ist einzig der Gott.“
Diesen Satz hatte ich auch davor einige Male gehört. Nicht nur von ihm, auch von anderen. Es war ein bekannter Spruch, der zitiert wurde, wenn ein Andersgläubiger auf einer Feier anwesend war.
„Im Leben ist es so, daß Gott dich mehrmals aufsucht. Wenn du ihn ohne Antwort zurückschickst, bist du geliefert“, sagte er zu mir.

Morchiladze schreibt keinen schönen Roman nach Maßstäben desjenigen, der eine wohlgeschliffene Sprache sucht und eine runde Geschichte. Die Dinge sind, wie sie sind. Eckig, scharfkantig. Für Tiefsinn bleibt Beso, der seine Freundschaft zu Sultanow in Zeiten des Kommunismus/Postkommunismus in ein schmuckloses Schulheft aufschreibt, keine Zeit. Die gesellschaftlichen Umwälzungen sind zu gravierend. Es geht ums Durchhalten, ums Überleben. Dies führt das Buch sehr gekonnt vor.