Gelu Vlaşin: „In der Psychiatrie behandelt“

Gelu Vlasin: In der Psychiatrie behandelt

Es gilt, das Werk eines 33-jährigen Dichters zu lesen, der heute kurz vor seinem 50. Geburtstag steht. Der 1999 in Rumänien erschienene Lyrikband hat, so lese ich in einer Rezension von Anke Pfeifer, den deprimism in seinem Land begründet. 2012 stellte Traian Pop dieses Buch dem deutschsprachigen Publikum zur Verfügung, Kerstin Ahlers übertrug die Gedichte ins Deutsche.

Was mag diese Lücke von 13 Jahren ausfüllen? Ich meine damit, in welchem Kontext steht dieses Erstlingswerk eines Lyrikers, der ein inzwischen beachtliches Œuvre vorzuweisen hat?

Fragen werden offen bleiben und im Weiteren werden wir über Lücken, Leerstellen und Schübe (Wortschübe, Krankheitsschübe) sprechen müssen, um uns der Lyrik Vlaşins anzunähern. Ich denke, wir brauchen dazu nicht das Wissen eines Mediziners, obwohl die Verlockung groß ist, einen Blick auf die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) zu werfen.

Zufällig kenne ich den Begriff der Neurasthenie. Als ich schon volljährig war und die Entschuldigungen für meine Fehlzeiten in der Schule selbst unterschreiben durfte, hatte ich das einmal als Entschuldigungsgrund aufnotiert: nervöse Erschöpfung. Der Lehrer ließ mich nicht aus der Pflicht, erfragte, um welche Krankheit es sich handelte. Und ich gab ihm mein lexikalisches Halbwissen preis, auch meine Gefühlsverwirrung, die sich um die ersten Irrungen der Liebe drehte und der wahre Grund meiner Abwesenheit war.

Vlaşins Gedichte sind mit wenigen Ausnahmen eine Anrufung an ein lyrisches Du, das durch seine Abwesenheit, seine Unerreichbarkeit zum Auslöser eines krankhaften Zustands werden kann. So jedenfalls verstehe ich Vlaşins Versuchsanordnung.

„ich bin / versager / genug um / ein gedicht zu schreiben / darüber / wie sehr mich deine / eines abends / entblößten brüste / schmerzen“ (aus: depression acht)

Wo der Autor auf das lyrische Du verzichtet, und er tut dies gewiss mit Sorgfalt bei dem Gedicht, das den Band eröffnet, bekommt seine Sprache einen weit über das intime Gegenspiel von Ich und Du herausgehenden Sound, der surreale Zeichen trägt.

„im viertel tineretului / spät nachts / gibt es hineingeschmuggelte blumen / neben / zu gut bewachten türen / als / der fahrstuhl / zwischen den etagen / nougat und kokos / schichtet“ (aus: depression zwölf)

Wenn jedoch das lyrische Ich mit 5000 Lei in ärmlichem Jackett die Treppe der Edgar Quinet Straße 10 hochsteigt, sagt er von sich „heute / bin ich keine / zierpflanze“ (aus: neurasthenie), bevor es sein Hurengeld verjubelt. Aber sein Orgasmus ist kein Schrei, sondern ein Akt der Verzweiflung, der nur wieder den banalen Trieben Raum gegeben zu hat.

In parästhesie versteckt der Dichter Sommersprossen „im fleischwolf der / erinnerungen“. Dieses Bild, das von der Durchtrennung von Muskelsträngen, von der Produktion des Hackfleischs, berichtet, führt uns zu der optischen Aufbereitung der Gedichte. Die Textkörper sind aufgerissen, mit großer Gewalt, unter großen Schmerzen. Ich glaube nicht an ein beliebiges Spiel des Autors.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Armin Steigenberger über den Unterschied zwischen Lücke und Leerstelle im Gedicht. Die Lücke lässt etwas aus, die Leerstelle ist einfach leer.

Bei Vlaşin wäre es wohl richtig von Leerstrecken zu sprechen oder aber die Worte als Krankheitsschub zu verstehen, etwas, was sich von der kranken Seele unkontrollbar Bahn bricht und das Gefängnis des Kopfes, dem uns allen bekannten, ewig weißen Blatt Papier, verlässt.