Maria Knissel: „Spring!“

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Das System Margot

Die Verletzung ist aufgebrochen. Nicht der Bänderriss, nicht der Muskelfaserriss, nicht die ungezählten blauen Flecken auf fast allen Knochen meines Körpers, die zum Glück von Brüchen verschont geblieben sind, nicht die „Heidelbeeren“ genannten Blutblasen an den Händen, nicht die eingerissene Haut an den Fingerkuppen, die sich schon seit weit mehr als einem Vierteljahrhundert nicht mehr durch die engen Fingerlöcher der Röllchenriemchen schieben müssen. Die Verletzung ist die tief greifende Erniedrigung, die sich im Körper eines Kindes versteckt hat, das von der Teilnahme an Olympischen Spielen träumte, nur weil jemand von Talent gesprochen hatte; und dann war ich in die Falle der Durchhalteparolen getappt. Ohne Fleiß kein. Du kannst jetzt nicht abbrechen! Du musst den Satz zu Ende führen. Nein, muss ich nicht! Ich höre auf, wann ich will.

„Spring!“, der neue Roman von Maria Knissel, führt uns in die Welt des Kunstturnens. Viel möchte ich nicht über den Plot des sehr lesenswerten und spannenden Romans verraten. Zwei Hauptfiguren, Angelika und Lian, die der liebe Gott (oder war es der Teufel?) mit reichlich Talent ausgestattet hat, um aus der Masse derer herauszuragen, die den Unterschied zwischen einem Purzelbaum und einer Rolle vorwärts nicht kennen, die im Vereinssport schon bei der Grätsche über den Bock überfordert sind und in der Breite des Sportes verharren müssen.

Die Autorin würdigt in ihrem Nachwort die gute und wertvolle Arbeit der Vereine und weist darauf hin, dass Trainerin Margot wie auch Verein TV Großenritte fiktiv sind, weil sie keinem realen Verein „eine Margot andichten wollte“. Mir fallen Margots andere Namen ein, sie heißt auch Ilse, Inge, Alfons, Otto, Rudi, Philipp, vielleicht heißt sie heute auch Uwe, Dominik, Jochen, Sigrid, Zoé usw. usf. Will sagen, Margot ist kein Einzelphänomen, sondern System.

Der Roman beschreibt dieses System detailreich, beginnend mit der kindlichen Bewegungsfreude an nicht mehr genutzten Teppichstangen im Hof, beim Radschlagen oder im Handstand.

Karl hat sich längst wieder in seine Zeitung vertieft und ich übe Handstand, wie immer, wenn ich hier bin. Ich stelle die Hände auf den Betonplatten auf, nehme Schwung, bis die Füße oben an der Hauswand landen. Dann versuche ich, mich von der Wand zu lösen und auszubalancieren, um frei zu stehen. Manchmal schaffe ich es schon für mehrere Sekunden, spüre, wie meine Haare sich lang ziehen, das Blut in meinen Kopf läuft. Immer wieder mache ich es, nehme Schwung, stelle die Welt auf den Kopf. Langsam wird es dunkel, Karl ist eingenickt, Mischka, deren neugieriges Gesicht zu Anfang noch aus den Büschen herausgeschaut hat, verschwunden. Ich will in der Luft bleiben, mindestens bis zehn zählen können, ohne mich an der Wand abstützen zu müssen. Meine Handgelenke schmerzen und die Fersen sind vom rauen Beton aufgeschürft, aber ich mache weiter, wieder und wieder.
Und mit einem Mal gelingt es mir zu stehen! Ich stehe auf den Händen, ohne mich abzustützen. Es ist ganz leicht, und ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich es schwer gefunden habe. Ich zähle bis zehn und bleibe immer noch stehen. Ich nehme meinen Atem wahr, den ich dieses Mal nicht angehalten habe, regelmäßig und ruhig strömt er durch meinen Körper, einatmen und ausatmen, ein und aus in der perfekten Balance.

Auf diesen Moment der kindlichen Unschuld folgt für Angelika bald das süße Gift des ersten Siegerpodests bei der Gaumeisterschaft, erste Lehrgänge im Landeskader, später dann: Bundesleistungszentrum Frankfurt am Main. Das System äußert sich auch so: „Du bist zu dick!“, „Du hast keine Freunde!“. Und: „Deine Periode kommt später!“

Angelika Maifert betreibt eine kleine Turnschule in Kassel, ihren Turnschülerinnen will sie Freude an der Bewegung beibringen, ein bisschen Akrobatik, ein bisschen Gymnastik und ein bisschen Kindheit, mehr nicht. Dieses Mehr hat sie hinter sich gelassen, in sich vergraben, beerdigt. Doch es geht ihr finanziell schlecht, die Halle ist marode, die Ausgaben sind nicht gedeckt. Angelika, vierzigjährige ehemalige Hochleistungssportlerin, weiß im Jahr 2008, dem Jahr der Spiele in Peking, nicht, wie es weiter gehen soll. Unerwartet bekommt sie Besuch von einer jungen Chinesin und ihrem Großvater. In einem Brief steht, Angelika solle die junge Lian trainieren und zur Kunstturnerin ausbilden. Eine hohe Geldsumme wird zugesagt, weitere Zahlungen bei Erfolg in Aussicht gestellt.

Angelika bleibt keine andere Wahl. Sie will nicht an die Vergangenheit denken, jene dreißig Sekunden bei den Olympischen Spielen von Los Angeles 1984, die ihr Leben vom Kopf auf wackelige Füße stellten, sie will nicht wieder in das System einsteigen. Und tut es trotzdem. Sie zerrt die Turngeräte aus dem Geräteraum, der über Jahre verschlossen war: die Bodenmatten, den Stufenbarren, das Sprungpferd und den Schwebebalken.

Wie Angelika für Lian und sich die schwierige Balance findet, wie sie die Auseinandersetzung mit jener Margot sucht und die Gegensätze aufeinanderprallen, das ist sehr gekonnt und stimmig erzählt. Hatte Margot uneigennützig gehandelt, als sie Angelika aus ihren schwierigen Familienverhältnissen herausholte, sie trainierte und bei sich zuhause aufnahm, wie eine eigene Tochter, oder wollte sie sich nur sonnen im Glanz der Erfolge ihrer Turnschülerin, bei Europa-, bei Weltmeisterschaften und den Olympischen Spielen? Für wen haben die Pokale, Medaillen und Pressespiegel eine Bedeutung? Wen nährt der Erfolg besser: Funktionäre oder Aktive?

„Spring!“ ist eine gelungene Kürübung. Akrobatik, Ästhetik, Fokussierung, Punktgenauigkeit, Standvermögen, Rhythmus, die Schwierigkeit der Elemente stimmen. Alles stimmt. Eine hohe Wertung. Warum bin ich dennoch ein wenig traurig? Zum einen, weil sich beim Lesen eine Parallelwelt meiner Turnhallenvergangenheit auftat, zum anderen, weil ich hoffte, der Roman möge wenigstens ein klein wenig Widerstand bieten. Inhaltlich tut er das, keine Frage! Und er tut das mit schneidender Souveränität. Der Aufbau des Romans jedoch, der Spannungsbogen ist perfekt, ohne Zweifel am System. Die Rückblicke auf Angelikas Turnkarriere sind dort gesetzt, wo die Spannung in der Gegenwartshandlung, Lians sprunghafte Entwicklung zum Turnstar, am größten ist. Und da musste ich an den „Cliffhanger“ denken, nicht weil Angelika das Klettern als Freizeitsport für sich entdeckt. Der formale Aufbau des Buchs, sein Handwerkszeug funktioniert so wie Lian, es lässt sich nicht auf Widerstände ein. Angelika will Lian durch überzogenes Krafttraining zum Protest bewegen. Sie will sie in die Opposition treiben. „Wehr dich!“, denkt und schreit sie schließlich heraus. Aber Lian schweigt und macht mit übersäuerter Muskulatur weiter. Wie im Wettkampf alle Anstrengungen des Trainings unsichtbar bleiben, so merkt man der Selbstverständlichkeit der Sätze im Roman nicht die Arbeit am Wort an. Ja, das muss so sein, das ist professionell, ja, das ist es, was mich ein wenig traurig macht! Der Verzicht, nur einmal auszubrechen aus dem System, um das Leben zu spüren.

Hierzu passen drei Entscheidungen im Layout: Titelbild, das Initial zu Beginn der Kapitel und die Grafik zwischen den Abschnitten. Gerne hätte ich die Blutergüsse an den Beinen der Turnerin auf dem Schwebebalken gesehen, gerne hätte ich das Initial weniger geschwungen und verspielt gehabt und die Grafik, die Bewegungsphasen von drei unterschiedlichen Elementen vereint, ersatzlos gestrichen. Derlei ist schön, jedenfalls an der Oberfläche. Genau das, was der Inhalt des Buches nicht ist. Doch soll das Buch für den Verlag (Funktionäre) und Autorin (Aktive) ein Erfolg werden. Das wird geschehen. Und am Ende werden alle die Verletzungen sehen und spüren, denn die Geschichte der Angelika Maifert ist schonungslos.