Antonia Torres: „Umzug – Mudanza“

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Auf der Leipziger Buchmesse 2016 fand eine von der Botschaft der Republik Chile organisierte Veranstaltung unter dem Titel Chilenische Gegenwartsliteratur zweistimmig – Literatura chilena actual a dos voces statt. Es lasen Lina Meruane (*1970 in Santiago) und Antonia Torres (*1975 in Valdivia). Moderiert wurde die Lesung von Benjamin Loy, Redakteur der in Berlin herausgegebenen Literaturzeitschrift alba. lateinamerika lesen, deren Nummer 08 sich ausschließlich der zeitgenössischen chilenischen Literatur widmet. Loy las die vorgestellten Texte in deutscher Sprache.

Mein Interesse an der chilenischen Literatur entspringt, allgemein gesprochen, der Neugier, im Speziellen der sich aus ihr abgeleiteten Zusage, den Lyrikband von Enrique Winter (*1982 in Santiago) oben das meer unter der himmel zu besprechen. Das Buch soll bei luxbooks erscheinen, es war bereits für 2015 angekündigt. Die Veröffentlichung verzögert sich leider aus verlagsinternen Gründen. In alba 08 findet sich der Vorabdruck eines Gedichtes, der mir eine Vorschau auf die bevorstehende Aufgabe gewährt.

Ich bat Antonia Torres im Anschluss an die Lesung mir zwei, drei Sätze über Enrique Winter und seine Bedeutung für die chilenische Literatur zu sagen. Obwohl nur sieben Jahre zwischen den beiden liegen, unterscheidet sich der Umgang mit der Geschichte, die eine Geschichte der Diktatur ist, wesentlich. Während Torres sich der Generation der náufragos, Schiffbrüchigen, zugehörig fühlt, eine Generation, die den Übergang von der Pinochet-Diktatur (1973 – 1990) zur Demokratie als junge Erwachsene miterlebt hat (und den damit verbundenen schmerzlichen Prozess der Aufarbeitung zwischen Strafverfolgung und Amnestie), wuchs Enrique Winter als Jugendlicher mit wiedererlangten Freiheiten auf. Torres nannte die Arbeitsweise von Winter experimenteller, weniger der Vergangenheit verhaftet, freier. Dass sieben Jahre einen solchen Unterschied auszumachen vermögen, ist ein Aspekt, der überraschend ist. Ich komme darauf zurück.

Eine lange Annäherung, um nun den zweisprachigen Band (Übersetzung: Karolin Viseneber) Antonia Torres: Umzug – Mudanza zu würdigen:

 

Leerstellen, auf den Boden geworfenen Satzzeichen

Antonio Torres‘ Gedichtband Umzug – Mudanza, als Band 6 der Reihe Düsseldorf übersetzt 2015 bei düsseldorf university press publiziert, eröffnet mit dem titelgebenden Gedicht den ersten von drei Abschnitten. In diesem Kapitel werden die deutschen Titel dem spanischen Original und die spanischen Titel der deutschen Übersetzung zugewiesen.

Das ist weniger einem absichtslosen Wechsel-Spiel geschuldet, als der Biografie der Autorin. Torres hat in Düsseldorf gelebt und spricht die deutsche Sprache fließend. Ferner ist der Sprachwechsel ein Fingerzeig auf die chilenische Geschichte, in der die Colonia Dignidad zum Stützpunkt des Pinochet-Terrors wurde. Heute ein „bayrisches Dorf“ südlich von Santiago.

Die von Torres ausgebreitete Szenerie in Mudanza lenkt den Blick auf Leere und Verlassenheit. Die Zimmer sind ausgeräumt, letzte Spuren werden von den Wänden entfernt, es bleiben Fetzen, kein Gesamtbild, sondern eine zerstörte Hoffnung, die zurückgelassen werden muss, ein Kartenhaus, das zusammengefallen ist. Der Blick ist ein bereits abwesender, die Beobachterin der Szene ist schon weg, blickt von außen. Es ist ein analytischer Blick, ein sezierender. Die Gefühle werden verborgen. Diejenige, die ging, ging, um zu überleben. Die Bestandsaufnahme der alten Heimat gerät schonungslos.

[…]
ein leichter Lufthauch hebe ein paar Blätter vom Boden

und bringe die Tapetenfetzen auf den Wänden zum Tanzen.
Im Bad tropfen Licht und Zeit
und der Spiegel wirft das Bild eines undichten Rohres zurück
[…]

Torres lebt im Süden Chiles. Es ist spannend zu erleben, wie sie Verortung stets an der Region festmacht, nicht an der Nation. Was mich unwillkürlich an den Satz von Michael Hamburger denken lässt:

Nationalism and internationalism, nationalism and regionalism may be politically, if not culturally, unrelenting and unforgiving antagonists. Regionalism and internationalism in contrast could be linked to each other in a dialectical way.

In diesem Sinne kommt dem Gedicht A orillas del Düssel über den Nebenfluss des Rheins eine über den Ort, die Region weisende Bedeutung zu. Unbedeutend für das Weltgeschehen und doch bildet es sich genau im Wasser der Düssel ab.

[…]
Eine unscharfe Linie verläuft zwischen den Jahreszeiten

ein Sumpf oder ein Vers der an ihren Ufern mündet
ein mickriges Rinnsal aus Wasser oder Licht
gibt der Stadt ihren Namen

Du folgst einem Punkt auf der Karte
erkennst die Namen nicht
die Geschichte findet nicht ihren Ort
[…]

Dagegen hält die Autorin mit Sandbank des Lingue-Flusses Bilder ihrer südchilenischen Heimat.

[…]
Sie hängen Fragen statt sauberer Wäsche auf:

Schnüre voller Muscheln oder Piure
die eine oder andere Möwe bemalt die Luft mit Formeln

So wird es gewesen sein:
eine kleine menschliche Siedlung am Ufer des Todes
wo Fluss und Meer in Höllenstrudeln versinken
[…]

2007 entsteht in Montreal mit Eine Frau ist am Nachmittag in den Fluss gefallen ein weiterer Fluss-Text. Auch hier spiegeln sich Fremdheit und Verlassenheit als Symptom einer weiterreichenden Beschädigung.

Eine Frau ist in den Sankt-Lorenz-Strom gefallen
Lacht versunken im Wasser
weint erstickt am Ufer

Schwenkt die Hand grüßt in der Ferne
die Neugierigen erwidern erstaunt die Geste

Eine Frau wird von der Strömung fortgetragen
schwimmt nachts das Ufer unerreichbar
die Zeichen in einer fremden Sprache reichen nicht
sie wägt weder die Wellen ab noch zählt sie die Buchstaben
gibt sich dem Tode hin und ruht
[…]

Sicherlich ist der neugierige Blick auf die Lyrik von Antonia Torres einer, der unvollständig ist, nicht mehr als eine erste Annäherung, die notwendigerweise erst einmal ohne akademisches Wissen über chilenische Geschichte und Literaturgeschichte auskommen muss. Aber Flussmündungen und des Wassers stete Transformationskraft gibt es überall, in allen Regionen, die uns Dichter eine Heimat geben oder uns in die Fremde verweisen.

 

Noch einmal zurück auf Torres und Winter, auf jene sieben Jahre, die ausreichen, um mit der Geschichte der Diktatur in freierer Form umzugehen. Wir alle wissen, Freiheit ist absolut und kennt keine Steigerungsform. Freiere Form ist demnach eine unsinnige Wortwahl. Aber wie frei ist eine Gesellschaft, die siebzehn Jahre unter Pinochet entrechtet wurde? Und wie lange braucht es, bis die Wunden zu Narben werden, Körperstellen, die beim nächsten politischen Wetterumschwung frühzeitig zu jucken beginnen?

Mir erscheinen sieben Jahre eine kurze Zeit. Wenn ich an jene deutsche Diktatur denke, die das Gesicht der Welt in nur zwölf Jahren geändert hat, und spüre, dass mich, geboren zwanzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, zwanzig Jahre nach der Befreiung der Vernichtungslager, das Thema nicht loslässt, es mich gefangen hält, ich es als mein historisches Erbe anerkenne, für das ich mich manchmal rechtfertigen muss („Warum schreibst du über den Holocaust? Was hast du damit zu tun?“), dann bin ich sehr gespannt, welche Innovationskraft die Sprache Winters entwickelt, um sich aus der Klammer der Diktatur, des Faschismus zu befreien, ohne das Gedächtnis zu verlieren.

Antonia Torres notiert:

Mit ein wenig Geduld vergessen wir um uns zu erinnern

Wir werden dort geboren wo wir ein wenig sterben