Agnès de Lestrade | Valeria Docampo: „Die große Wörterfabrik“

Drei Worte auf einmal

so lautet der Titel eines überaus erfolgreichen Romans meiner Kollegin Maria Knissel. Ich erinnere mich, wie sie damals den Text in der Darmstädter Textwerkstatt II von Martina Weber vorstellte, noch mit einem Arbeitstitel versehen, den ich nicht überzeugend fand. Von ihrem Text ausgehend schlug ich Drei Worte auf einmal vor.

Es geht, kurz gesagt, um geschwisterliche Liebe zwischen dem Protagonisten und seinem nach einem Verkehrsunfall schwerbehinderten älteren Bruder, der kaum noch Worte vorbringen kann. An einem guten Tag schafft er es, Drei-Wort-Sätze zu bilden.

Maria widersprach zunächst meinem Vorschlag mit dem Argument, Drei Worte auf einmal erinnere sie immer an den Satz: Ich liebe dich! Ich konnte sie von der Richtigkeit des Titels überzeugen: Ja, aber darum geht es doch! Ganz gleich, was der ältere Bruder an den guten Tagen dem Jüngeren  mit drei Worten sagt: Es geht um die Liebe!

Was hat das nun mit Die große Wörterfabrik von Agnès de Lestarde (Text) (Übersetzung ins Deutsche: Anna Taube), Valeria Docampo (Illustration) zu tun?

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Raoul Eisele und Monika Ernst: „immer wenn es ein wenig den Himmel entlang grollt, Maman“

Hinfälligkeit des Hoffens

ich vermisse dich, ich vermisse unsere Gespräche und führe sie hierdurch fort, denn immer übersieht und vergisst man, was man gerne hätte gesagt; dort wo ich unsere Leerstellen von damals erkunde, scheint es mir, dass nur du dazu im Stande wärst, mir zu helfen, du dieses kurze Aufleuchten, als wäre hinter jedem Halm ein Haar von dir, eine Wimper […]

schreibt der Protagonist Emile im September 1989 aus Paris an seine Schwester Kristine. Raoul Eisele (Text) (* 1991) und Monika Ernst (Illustration) (* 1996) erzählen eine Familiengeschichte, die von Brüchen gezeichnet ist.

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Emma Adbåge: „Unsere Grube“

Die Erwachsenen stehen miesepetrig oben am Rand.

Der schönste Satz des Gewinners des Deutschen Jugendliteraturpreises 2022 in der Kategorie Bilderbuch.

Das von der schwedischen Autorin und Illustratorin Emma Adbåge (*1982 in Linköping) gestaltete Buch (ins Deutsche von Friederike Buchinger) erzählt aus Sicht der Kinder über ihren Lieblingsspielplatz, unsere Grube, wo die Spiele nicht vorgegeben sind durch die Erwachsenen mit ihren verkopften Vorstellungen über Regeln und Unfallvermeidung, sondern sich deren Kontrolle entziehen und freien Lauf nehmen. Die Spiele heißen

Bärenmama, Hütte, Verstecken, Kiosk …

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Anja Tuckermann, Mehrdad Zaeri & Uli Krappen: „Nusret und die Kuh“

Fortgehen und Heimkehren

Nusret lebt bei seinen Großeltern in einem Dorf im Kosovo. Die Eltern wohnen mit den Nusrets Geschwistern in Deutschland. Die Entfernung zwischen der alten und der neuen Heimat der Familie ist groß, Briefe verkürzen sie. Doch die Großeltern können nicht lesen und Nusret ist noch nicht in der Schule, also hilft der freundliche Briefträger aus.

Anja Tuckermann erzählt in Nusret und die Kuh eine Geschichte über Heimat, Exil, Sehnsucht und über die Wichtigkeit, Lesen und Schreiben zu erlernen. Die Kuh tut es Nusret gleich, auch sie lernt das Alphabet. Als Nusret nach einem Besuch im Kosovo zurück nach Deutschland fährt, die Kuh aber bei den Großeltern bleibt, liest fortan die Kuh die Briefe aus Deutschland vor.

Das Buch ist von  Mehrdad Zaeri und Uli Krappen lebhaft, wild, phantasie- und liebevoll illustriert.

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Schirin Nowrousian: „Wilna-Worte | Vilniaus žodžiai“

Katzen rennen hinter jedem Wort her

Ich bin mir sicher, die Antipathie besteht beiderseits. Wie diese Katze, sicher ein leicht fett gewordener, kastrierter Kater mich ansieht: misstrauisch, frustriert, mürrisch.

Ich gebe zu, ich bin kein besonderer Freund des Katzentiers, auch kein Käufer von Katzenkalendern, wiewohl es ein offenes Branchengeheimnis ist, das damit Lyrikpublikationen querfinanziert werden können. Aber dort sind ohnehin nur diese jungen Dinger drin! Der Wächter des mehrsprachigen Lyrikbands Wilna-Worte | Vilniaus žodžiai von Schirin Nowrousian (* 1975 in Bochum) (ins Litauische von Vertė Austėja Merkevičiūtė) bleibt regelmäßig bei den Shootings für den Kalender unberücksichtigt, vielleicht ist er ein ehemaliger König der Gosse.

Jedenfalls hat er mir über Tage den Zugang zu den Gedichten verwehrt. Ich schlich mich schließlich in einem Moment seiner Unachtsamkeit von hinten in den Band. Und siehe: Es funktioniert.

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Bachtyar Ali: „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“

Nachtwind

Oh, der Nachtwind weht sanft, warm und leise
über die Wälder, die Städte und Dörfer
Rio Reiser: Bei Nacht

1995 hatte ich einen Traum über meinen plötzlich und viel zu früh verstorbenen Vater. Ich notierte mir auf:

»Vater ist ein toter Körper, geschrumpft zu einem annähernd ebenen, ledrigen Stück Pergament. Der verschrumpelte Körper ist nur noch an wenigen Stellen dreidimensional, ansonsten ein toter Lappen. Er ist leicht zu tragen.«

Es berührt mich sehr und spendet mir Trost, den ich nach so langer Zeit immer noch vertragen kann, dass er im übertragenen Sinn mit dem Protagonisten Djamschid Khan des Romans Mein Onkel, den der Wind mitnahm von Bachtyar Ali (* 1966 in Sulaimaniya, Nordirak) eine furiose Auferstehung als literarische Figur, die im Herbstwind hoch über mir flattert, erlebt und ich diesen gekonnten Flug bezeugen darf.

Die Originalausgabe der Romans ist in Sorani (Zentralkurdisch) geschrieben und erschien bereits 2010. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Ute Cantera-Lang (* 1974 in Erlangen) und Rawezh Salim (* 1973 im Irak), einem Übersetzer-Duo, das sich dem Werk Alis angenommen hat (mit Ausnahme des hier ausführlich gewürdigten Romans Die Stadt der weißen Musiker) und das uns mit Sherzad Hassans Roman Die Nacht, in der Jesus herabstieg in den kommenden Wochen das Werk eines weiteren kurdischen Autors präsentieren wird.
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Dinçer Güçyeter: „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“

An: script@elifverlag.de
Betreff: Nachtfalter

Es ist Nacht. Und es ist Deutschland. Wer könnte darüber Klügeres sagen als König Rio I.?
Oh, es ist ein schönes Land …
… bei Nacht …

Und was ließe sich Sinnfälligeres über deine Existenz sagen als
Nachtfalter werden alle Vertreter der Schmetterlinge bezeichnet, die nicht zu den Tagfaltern gehören?
Punkt. Fertig. So einfach ist es nämlich.

Wenn du aber solcher Sprache, solchen Definitionen misstraust, dann bleibt dir nur, an deine Handschrift zu glauben. Du hast keine andere Wahl. Sie wird dir ein Vademecum sein, das nicht verschwindet, selbst wenn es im Ofen verbrannt wird.

… und nicht mal dann!

Du musst durch die Erinnerungen hindurchschreiten, das Fruchtwasser wie eine verbrauchte Flüssigkeit auskippen und dich deiner Hölle stellen, mein Prinz.

Aber was sage ich dir: Du hast es ja bereits getan. Deine Gedichte sind dir, sie sind wunderbar. Deine Gedichte sind du. Und das ist gut so.

Albert (= der das Alphabet eröffnet)

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Eric Giebel: „Güstrow, Ernst Barlach und Uwe Johnson“


Publikation Barlachstadt Güstrow, 2007
Titelfoto: © Heinz Lehmbäcker


Eidechsenort

Als ich am 15. Juli von Krakow am See nach Güstrow aufbreche, weiß ich noch nicht, was mich erwartet. Nun ja, Barlachstadt als Stichwort im Gepäck, mache ich mich mit meiner Familie bereit für einen weiteren Ausflug in diesem Sommer, der eher zu kühl und zu wolkig daherkommt.

Ernst Barlach hatte mich bereits in der ersten Urlaubswoche begleitet. In Eutin war im Ostholstein-Museum Der ganze Barlach zum 150. Geburtstag des Bildhauers gezeigt worden. Das Ausstellungsende traf mit unserer Ankunft zusammen. Plakate noch zu sehen, die Ausstellung bereits geschlossen. Später, im Staatlichen Museum Schwerin, war ich dann durch den Raum mit den Barlach-Bronzen gegangen.

Nun eine weitere Möglichkeit, sich dem Werk Barlachs zu nähern. Wir fahren von Süden in die Stadt, deren Namen, das lese ich erst viel später, aus der westslawischen Sprache Altpolabisch stammt, die im 18. Jahrhundert ausgestorben ist. Polabisch ist mit Kaschubisch verwandt, aber wohin soll mich diese Sprachforscherei führen? Ich sollte mich praktischen Dingen widmen: Wo am besten das Auto abstellen, was ansehen? Wo bin ich?

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Adam Zagajewski: „Unsichtbare Hand“

Rozmawiac o ciemnosci w takim jasnym cieniu
Über das Dunkel sprechen in so hellem Schatten

Der Poesie wohnt die Kraft des Trostes inne. Sie ist geeignet, Menschen, die sich im Dunkel der Tage, und damit meine ich bei Weitem nicht nur die Zeit vor Weihnachten, verlieren, aufzurichten und ihnen Hoffnung zu geben. Sie konkurriert somit unweigerlich mit Religion, die ebensolche Angebote versendet.

Ich bin als Katholik ein Anfänger,
der versucht, Gut und Böse zu trennen,
aber nicht weiß, wie sie sich unterscheiden,
vor allem in der Morgen- und Abenddämmerung, wenn
das Licht einen langen Augenblick zögert.
(aus: Erstkommunion)

Adam Zagajewski zu lesen, seine Lyrik mit den Augen (oder bei Lesungen mit den Ohren) aufzunehmen, ist ein großes Geschenk, das uns der 1945 in Lemberg geborene Dichter reicht.

Poesie ist der Königsweg,
der uns am weitesten führt.
(aus: Poesie ist die Suche nach Glanz)

Für den Band Unsichtbare Hand  (2012) wählte der Autor Gedichte aus seinen drei Bänden Powrót (2003), Anteny (2005) und Niewidzialna ręka (2009) aus. Aus dem Polnischen übertrug  Renate Schmidgall in eine einfühlsame und liquide Sprache, flüssig und werthaltig. 2009 wurde Schmidgall mit dem Karl-Dedecius-Preis (für ihre Übersetzungen polnischer Literatur ins Deutsche) ausgezeichnet.

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Happy Birthday – 5 Jahre Literaturblog »vitabu vingi«

Für den ersten Geburtag meines Blogs wählte ich das Cover von „Ein Winter in Hakkari“. Es stand stellvertretend für gute Gestaltung und für wichtige Bücher, die ich noch nicht besprochen habe. Eine Aufforderung, nicht stehen zu bleiben, sondern in der Fremde den Weg in die Literatur zu wagen.

Nun, bei diesem Jubiläum, stelle ich Judith Beveridges „Storm and Honey“ im gleichen Sinn vor. Ein schön gestaltetes Cover und eine Arbeitsaufforderung. Sie geht über das Schreiben einer Rezension hinaus. Ich sollte mir Beveridges dichte Sprache zugänglich machen, sie in meine Sprache übersetzen. Ein Projekt, für das meine sprachlichen Fähigkeiten kaum ausreichen werden. Aber, wer weiß?!

Die 1956 in London geborene Beveridge kam 1960 mit ihren Eltern nach Australien. Sie ist eine preisgekrönte Stimme der zeitgenössischen australischen Lyrik, die hier zu hören und von Sabine Scho übersetzt in deutscher Sprache nachzulesen ist.

Für den 2009 erschienenen Band „Storm and Honey“ wendet sich Beveridge den Fischern zu, die mit ihren Booten an der Küste und in der Flussmündungen auf Fang gehen.

Jellyfish translucent as onionskin pulse through the bay.
Davey gets one on his oar and lifts it up like a dripping wad

of plastic wrap. I see others floating in and out the shallows
changing colour likes globes of thin photosensitive glass.
(from: Jellyfish)

Quallen, transluzent wie Zwiebelhaut, pulsieren durch die Bucht.
Davey kriegt eine aufs Ruder und hebt sie hoch wie ein triefendes

Bündel Plastikfolie. Ich sehe andere in Untiefen ein- und ausschweben,
wie Kugeln aus dünnem, lichtempfindlichem Glas ihre Farbe ändernd.
(aus: Quallen)

Christa Morgenrath, Eva Wernecke (Hg.): „Imagine Africa 2060“

Schmetterlingseffekt

Die Zeiten sind lang vorbei, in denen es uns egal sein konnte, ob in China ein Sack Reis umfällt. Politische Aussagen von vor etwas mehr als 10 Jahren erscheinen uns bereits aus einer anderen Epoche, nennen wir sie im metaphorischen Sinne, ob der Hartnäckigkeit der Ignoranz, steinzeitlich.

Frage: Bleibt die heimische Braunkohle…
Antwort: Wer hier nun fordert, zur Rettung des Weltklimas aus der Braunkohle auszusteigen, der sollte sich die Welt aber auch mal anschauen, wie sie ist. Allein die Chinesen bauen beispielsweise jedes Jahr zwei Milliarden Tonnen Kohle ab und eröffnen alle ein bis zwei Wochen ein neues Kohlekraftwerk – ohne auf Umweltschutztechnik einen besonderen Wert zu legen! Deshalb sage ich zugespitzt: Ob wir in Brandenburg unsere beiden Kraftwerke Jänschwalde und Schwarze Pumpe schließen, hat auf das Weltklima ungefähr soviel Auswirkungen, als ob in China ein Sack Reis umfällt.
(aus: Interview mit dem brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck am 12.05.2008 für Super-Illu)

Die Welt, wie sie ist, in Augenschein zu nehmen, bedarf vieler Perspektiven. Christa Morgenrath und Eva Wernecke haben als Herausgeberinnen des Buches Image Africa 2060. Geschichten zur Zukunft eines Kontinents zehn Perspektiven zusammengetragen, die einen Ausblick auf die Zukunft Afrikas und der Welt wagen.

Es bedarf keiner vertieften Kenntnis der Chaostheorie, in der der Flügelschlag eines Schmetterlings in Zusammenhang gesetzt wird mit gewaltigen Wetterphänomenen, um zu verstehen, was den Protagonisten Makomborero umtreibt.

Er dreht sich auf seinem Stuhl nach rechts und nahm Nikkei, Mumbai Sensex und Hang Seng in den Blick. Geschäftsschluss war gestern. Heutzutage war davon längst keine Rede mehr. Heute galt 24/7, Handel rund um die Uhr. Schön anzuschauen, grüne und rote Pfeile, alles mit allen verbunden. Schmetterlingseffekt. Der Schnupfen, den all kriegen, wenn Peking niest.
(aus: Data Farming von Tendai Huchu)

Die Beiträge von Ellen Banda-Aaku (Sambia), Ken Bugul (Senegal), Aya Cissoko (Mali), Youssouf Amine Elalamy (Marokko), Tendai Huchu (Simbabwe), Sonwabiso Ngcowa (Südafrika), Okwiri Oduor (Kenia), Nii Ayikwei Parkes (Ghana) und Chika Unigwe (Nigeria) sind eigens für diesen Band geschrieben, der Text von José Eduardo Agualusa (Angola) ist ein Ausschnitt aus seinem Roman A Vida no Céu.

Die Übersetzungen wurden von Michael Kegler (aus dem Portugiesischen), Jutta Himmelreich (aus dem Englischen) und Gudrun Honke (aus dem Französischen) gefertigt.

So sehr ich den Romanausschnitt genossen habe, und so sehr dieser ein gelungener Einstieg in das Buch ist (mitsamt des Cliffhanger-Endes, der meine Neugier antreibt, den gesamten Roman zu lesen), so ist doch Agualusas Text nicht mit den für dieses Buch geschriebenen Texte vergleichbar, die oftmals auf das Schlüsselwort 2060 fokussieren, während der Roman sich darüber mit der Leichtigkeit eines Luftschiffes hinwegzusetzen kann. Es mag ein hartes Urteil sein, darin eine konzeptionelle Schwäche des Buches ausmachen zu wollen.

Ich heiße Carlos Benjamin Tucano und bin vor sechzehn Jahren in einem Dorf namens Luanda geboren, einem Zusammenschluss von mehr als dreihundert Flößen. Ein ziemlich großes Areal insgesamt. Große Dörfer sind träge und schwierig zu steuern. Ein einzelnes Floß, das zwar langsamer ist als ein Luftschiff, kann sich vor Unwettern in Sicherheit bringen, vor den Wolken davonfahren.
(aus: Als die Welt untergegangen war … von José Eduardo Agualusa)

Die Vielfalt der Perspektiven, die uns hier aus Afrika erreichen, ist großartig. Morgenrath und Wernecke haben einen lesenswerten Band vorgelegt, der in Deutschland, in Europa Gehör finden sollte. Ignoranz können wir uns schon lange nicht mehr leisten.

Die zehn Stimmen sprechen weit weniger als erwartet von einer fernen Zukunft, sondern von uns wohl bekannten Strukturen, die sich trotz aller Innovation und technischer Revolution (Roboter, aus Stammzellen gezüchtete Ersatzorgane) nicht geändert haben werden.

Sie fand es lachhaft, dass er seinen Kinderwunsch ausgerechnet in dem Moment äußerte, in dem ihr das bedeutendste Rennen ihres Lebens bevorstand. Eine Schwangerschaft war ausgeschlossen, sowohl jetzt, als auch während der vier Jahre ihrer Präsidentschaft. Und wahrscheinlich würde sie sich überhaupt nie dafür entscheiden. Versuchte Ejike etwa, ihren Traum zu sabotieren?
(aus: Amara for President von Chika Unigwe)

Mir sind diejenigen Texte näher, die mit erzählerischen Mitteln eine Verbindung der Generationen herstellen und daraus ihr Bildnis der Zukunft entwerfen.

Wir scheißen alle und vergessen das nie, hat dir Gogo, die Mutter deiner Mutter erzählt, als du neun warst.
(aus: Froschaugen von Ellen Banda-Aaku)

Anders als sein Vater, und dessen Vater vor ihm, hatte Makomborero nichts Handfestes herstellen müssen. Allein der Gedanke deprimierte ihn, während er aus den Augenwinkeln rotes Blinken wahrnahm.
(aus: Data Farming von Tendai Huchu)

Mamma,
Was machst du, wenn sie deiner Schwester das Herz geklaut ham, und die Nieren? Und du, du hast die Wahrheit so rausgefunden.
(aus: Die Wahrheit von Sonwabiso Ngcowa)

Die Mama lachte kurz auf. „Kind“, sagte sie, „meine Nabelschur, die Nabelschur meiner Mama und die meiner Großmama, alle haben sie deine Füße hier an diesen Boden, an diese Erde gebunden. […] Das Land wird dich immer wieder hierher zurückrufen. Weißt du das nicht? „
(aus: Heimwärts von Okwiri Oduor)

Wo Erzählung zurückweicht und einem Ton der Behauptung Platz einräumt, schwindet meine Interesse spürbar. Ich möchte Geschichten hören, als Leser nicht hingeworfene Statements fressen müssen.

Die Königinmutter leidet stumm, seit so langer Zeit.
Bis wann?
Sie ist Zeugin all der Misshandlungen gewesen, die die Völker ihres Königsreichs erdulden mussten. Sie hat sich gewehrt, vergeblich. Ihre Ältesten, gehirnmanipuliert auch sie, machen gemeinsame Sache mit der mächtigen Clique, obwohl die ihre Versprechungen niemals einlöst.
(aus: Utopie von Ken Bugul)

Mali war niemals ein armer, sterbender Staat gewesen. Die Übernahme des Landes durch eine gebildete, ehrgeizige, integre und unternehmungsfreudige Jugend war die einzige Möglichkeit, ihm die vollständige Souveränität wiederzugeben.
(aus: Die Rückkehr von Aya Cissoko)

Daran kein Wort falsch, entstehen in mir jedoch bei dieser Art des Schreibens keine Bilder, die in die Tiefe gehen, zurück in die Familiengeschichten, die mich umtreiben. Von denen ich nie genug bekommen werde und in diesem Band reichlich bekam.

 

Renate Schmidgall | Eric Giebel am 02. Mai im Literaturhaus Darmstadt

Lesung am Donnerstag 2. Mai 2019, 19:30 Uhr im Literaturhaus Darmstadt, Kasinostraße 3.

Eine Veranstaltung der Lesebühne. Moderation: Barbara Zeizinger.
Eintritt frei.

Renate Schmidgall, ehemalige Mitarbeiterin des Deutschen Polen-Instituts, Lyrikerin, Übersetzerin aus dem Polnischen und Preisträgerin des Johann-Heinrich-Voß-Preises 2017 liest aus ihrem zweisprachigen Gedichtband: „Nach Weinsberg fahren / Pojechać do Weinsberg“.

Rezension

Eric Giebel, Lyriker und Übersetzer (gemeinsam mit Eva Bourke) des zweisprachigen Bands „A Private Country | Ein privates Land“ stellt die irische Lyrikerin Moya Cannon mit einer Gedichtsauswahl aus ihrer ersten Einzelveröffentlichung in deutscher Sprache vor.

Rezension