Bachtyar Ali: „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“

Nachtwind

Oh, der Nachtwind weht sanft, warm und leise
über die Wälder, die Städte und Dörfer
Rio Reiser: Bei Nacht

1995 hatte ich einen Traum über meinen plötzlich und viel zu früh verstorbenen Vater. Ich notierte mir auf:

»Vater ist ein toter Körper, geschrumpft zu einem annähernd ebenen, ledrigen Stück Pergament. Der verschrumpelte Körper ist nur noch an wenigen Stellen dreidimensional, ansonsten ein toter Lappen. Er ist leicht zu tragen.«

Es berührt mich sehr und spendet mir Trost, den ich nach so langer Zeit immer noch vertragen kann, dass er im übertragenen Sinn mit dem Protagonisten Djamschid Khan des Romans Mein Onkel, den der Wind mitnahm von Bachtyar Ali (* 1966 in Sulaimaniya, Nordirak) eine furiose Auferstehung als literarische Figur, die im Herbstwind hoch über mir flattert, erlebt und ich diesen gekonnten Flug bezeugen darf.

Die Originalausgabe der Romans ist in Sorani (Zentralkurdisch) geschrieben und erschien bereits 2010. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Ute Cantera-Lang (* 1974 in Erlangen) und Rawezh Salim (* 1973 im Irak), einem Übersetzer-Duo, das sich dem Werk Alis angenommen hat (mit Ausnahme des hier ausführlich gewürdigten Romans Die Stadt der weißen Musiker) und das uns mit Sherzad Hassans Roman Die Nacht, in der Jesus herabstieg in den kommenden Wochen das Werk eines weiteren kurdischen Autors präsentieren wird.
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Elif Shafak: „Unerhörte Stimmen“

10 Minuten 38 Sekunden in dieser sonderbaren Welt

Elif Shafaks Roman, 2019 erschienen, übersetzt aus dem Englischen von Michaela Grabinger, ist das Werk einer Meisterin.

Wie sie den Tod und das Leben ihrer Protagonistin erzählt (und das Weiterleben ihrer fünf Freund*innen), erinnert mich an zwei Bücher, die auf meiner ewigen Bestenlisten sehr weit oben stehen:

Die drei Tode des Jochen Wasserbrüller von Jorge Amado und
Das Ministerium des äußersten Glücks von Arundhati Roy.

Bei Amado das Motiv des doppelten Todes: der des ehrhaften Mannes im Kreise seiner Familie mit einer feierlichen und würdigen Bestattung, der des Lebemanns und Säufers im Milieu der Prostituierten, Spieler und Zechkumpanen. Seine Freunde nehmen den Leichnam mit zu einer letzten, chaotischen Feier, eine Segeltörn, wenn ich recht erinnere, die tödlich, wie sonst?, endet.

Bei Roy das Motiv der Trans*Menschen, die ihre Identität nicht in einem binären System finden können und ihre Existenz auf einem Friedhof, am Rand der Gesellschaft fristen.

Roys Widmung Für die Ungetrösteten könnte auch bei Shafak stehen.
Sie aber hat sich für folgende Widmung entschieden:

Für die Frauen Istanbuls
und für die Stadt Istanbul,
die eine weibliche Stadt ist
und immer war

Der Originaltitel 10 Minutes 38 Seconds in this Strange World wurde für die deutsche Ausgabe leider nicht beibehalten.

Es wäre im Zusammenhang mit der Geschichte Tequila Leilas, der ermorderten Prostituierten, die bereits im Alter von sechs Jahren von ihrem Onkel sexuell belästigt und missbraucht wurde, eine Gelegenheit gewesen, über die Nuancen der Bedeutung für strange nachzudenken und eine der folgenden Übersetzungsmöglichkeiten zu wählen:

eigenartig, merkwürdig, seltsam,  kurios, befremdlich.

Ich habe mich, wegen der Nähe zu wunderbar, für sonderbar entschieden. Denn trotz allen Leids, sind die Unerhörten Stimmen ein Chor, der das Leben feiert.

Dato Turaschwili: „Das andere Amsterdam“

Abschweifungen

Mit Das andere Amsterdam liegt der zuletzt erschienene Roman des georgischen Schriftstellers Dato (David) Turaschwili (* 1966) in deutscher Übersetzung von Katja Wolters vor.

Das Original სხვა ამსტერდამი (transkribiert: skhva amst’erdami) erschien 2014, dem Jahr des Todes von Amiran (Pako) Swimonischwili, von dem Turaschwili schreibt:

An dem Tag, als man in Tiflis Pako Svimonishvili beerdigte, ging ich in Amsterdam das Hotel suchen, in dem David Jaschwili (Jaschka) gestorben ist.

Ich kann der Spur Turaschwilis nicht folgen, seiner Suche, die letzten Endes eine Suche nach den Gründen seiner Reise in die Niederlande ist:

Warum ich überhaupt nach Amsterdam gekommen war, darüber dachte ich auch den ganzen Tag nach und erwog sogar, daß ich mir alles nur ausgedacht hätte: das Amsterdamer Abenteuer meines Großvaters, die auf der holländischen Insel lebende Georgierin, die mir E-Mails schreibt.

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Leopold Federmair: „Die lange Nacht der Illusion“

Das Leuchten der Ränder

Man kann sich nicht lange der Illusion hingeben, das Leuchten an den Rändern unserer Welt, das stets auch bedeutet: an den Rändern unserer Sprache(n), unseres verbalen Ausdrucksvermögens, sei ein Licht am Ende einer anhaltenden Dunkelheit. Was uns Leopold Federmair, mittlerweile seit 17 Jahren in Japan lebend, in seinem neuen Roman vorführt, ist eine Erstarrung, ein Verlöschen, ein Scheitern – und ein Trotzdem. Mit Die lange Nacht der Illusion schließt der Österreicher nach Tokyo Fragmente (2018) und Schönheit und Schmerz (2019) seine Japan-Trilogie ab.

Es geht um ein aufgebrochenes Dreieck zwischen Mutter, Vater und Tochter. Oder nein, besser: um die der Stabilität der Familie verlustig gewordenen Hauptpersonen Yuuki, Theo und Yoko.

Sie hatte ihren Mann nie „Vater“ genannt, wie es so viele japanische Ehefrauen taten, sobald ein Kind da war (auch in Geschäften, auf Ämtern, im Krankenhaus wurde man so angesprochen). Die Einzelperson war identisch mit der Rolle, die sie spielte.

Dies sind Sätze mit universellem Inhalt. Sie belegen, dass Ränder überall sind. Findet diese Nichttrennung von Person und Rolle nicht auch flächendeckend in Europa und sonst auf der Welt statt? Und führt dieses Verschleifen nicht früher oder später zu einem Identitätsverlust? Das sind Fragen, die in der Familie bleiben dürfen, um dort ihre Antwort zu finden.

Ja, man kann sagen, Federmairs Roman ist eine „kleine Japan-Kunde“, wie es Sebastian Fasthuber formuliert hat, aber er geht noch sehr viel tiefer in den Bereich zwischenmenschlicher Nicht-Kommunikation, die per se immer nur an den Rändern geschieht. Wir alle leben auf einer schmalen Kruste Zivilisation und vergessen, wie sehr es im Innern (unseres Planeten) brodelt. Und schaffen dann doch (trotzdem!) eine kühne und kühle Analyse, die Worte setzt, wo Leerstellen sich eingenistet haben.

Die Beziehung zwischen uns, Yuuki und mir, ist mit der Zeit immer feiner geworden, ein jedesmal zerbrechlicheres, reineres Gespinst aus Zeit. Und dann wieder gröber, mag sein, es gab Brüche und Abbrüche, so wie jetzt, plötzlich, ohne Übergang, keine Brücke, nicht einmal eine Furt.

Yuuki trennt sich von Theo, als Yoko in der sechsten Klasse ist. Sie verlässt Tokio und die Familie. Theo erinnert sich:

Plötzlich, ohne Vorankündigung, während der Ferien. Ein Kollege in der Zweigstelle ihrer Firma in Nagasaki, kaum älter als sie, zuständig für International Consulting, war einem Herzinfarkt erlegen, angeblich konnte nur Yukki ihn so kurzfristig ersetzen. Für sechs Monate, hatte es geheißen, bis ein Ortsansässiger eingeschult wäre, aber bald war von einem Jahr die Rede gewesen.

Federmair baut den Roman in zwei Teilen (Okarina und Kinkakuji) auf und ergänzt eine Einleitung (Affektenlehre) und einen kurzen Schlusstext (Kein Traum). Er macht sich Gedanken über das Erzählen und sucht nach neuen Formen der Romanstruktur. Als Instanz Autor wird Federmair erkennbar, wenn er schreibt:

Kaum eine Erzählung echter („echter“) Ereignisse läßt sich mit exakt der selben Anzahl von Worten bewältigen, die eine andere beansprucht; nicht einmal zwei Versionen ein und desselben Ereignisses sind in der Regel gleich lang, ganz zu schweigen von unterschiedlichen Rhythmen, Pausen, Akzentuierungen. Mehr noch, es fragt sich, ob zwei Ereignisse überhaupt gleichzeitig geschehen können. […] Blieb immer noch die Frage, wer beginnen würde, wie bei einem Gesellschaftsspiel, etwa: Der Jüngste zuerst. Oder nach der alten Regel des Gentlemans: Ladies first! Ich oder du, im Grunde genommen ist es egal.

Zunächst folgen wir Yuuki nach Nagasaki. Das Kapitel Okarina baut eine durch Einsamkeit und Entfremdung bedrohliche Kulisse auf, die sich in einer Extremwetterlage mit Starkregen, Überflutungen und schließlich einem Erdrutsch Bahn bricht und dabei alles, was an Ordnung und Sicherheit gültig war (hierfür die Metapher des violetten Müllsacks, dessen Inhalt nicht fachgerecht entsorgt wird), mit sich reißt.

Unschwer, sich dieses Katastrophenszenario vorzustellen, haben wir doch noch die Bilder des Tsunamis vom 11. März 2011 in unseren europäischen Köpfen. Doch wer in Japan lebt, braucht nicht so weit zurückgreifen, Murenabgänge und Hochwasser kommen immer wieder (öfter?) vor. Federmair dürfte hier den Bergrutsch vom Juli 2018 verarbeitet haben, als im Westen Japans und seinem Wohnort Hiroshima über hundert Menschen starben. Oder aber jenen vom August 2014 mit Dutzenden Toten.

Sturzbäche suchten sich Wege, Bette entstanden im Nu, Seitenarme flohen in den unversehrten Wald, vereinzelt kollerten Steine, schwarze Schollen rührten sich dumpf wie Rücken gewaltiger Schlangen. Die Mulde vor der Straße, am Fuß der Böschung, war jetzt, im lidlosen Traum, ein See. Und dann, im nächsten, wie letzten Augenblick, lag alles still, das Grollen war verklungen, nur das viel leisere, fast schon zarte Rauschen des Regens erfüllte den für immer – Jahrzehnte oder Jahrhunderte – veränderten Raum: die Traumlandschaft einer Mure […]

In der Szene, als Yuuki im obersten Stockwerk des Hochhauses der Künstlerin begegnet, die nachts die Okarina spielt, liegt ein besonderer Zauber mit ebenso viel Irritation wie Hoffnung. Yuuki, die Einzelgängerin, begegnet Menschen, Individuen, die nicht in der Uniformität der japanischen Gesellschaft aufgehen. Da passt jemand nicht ins System – und das ist gut so! Das nächtliche Okarinaspiel ist eine gelungene Interpretation einer Szene aus dem Animefilm Mein Freund Totoro, in der Totoro auf der Baumkrone thront, die Okarina spielt und eine kindlich-naive Hoffnung schenkt: Trotz alledem, alles wird gut!

Kurz nach der Katastrophe telefonieren Yuuki und Theo. Ist die Entfernung, die Entfremdung groß, so sind doch beide froh, einander zu hören, das wohl bekannte Schweigen des anderen zu hören, ein Lebenszeichen, wertvoll im Angesichts des Todes: ein Leuchten der Ränder!

Theos Perspektive, die im Kapitel Kinkakuji ausgebreitet wird, ist mit Yuukis nicht deckungsgleich. Kann es nicht sein. Der verlassene Ehemann, der sich um seine inzwischen in der Pubertät befindlichen Tochter kümmert, er hätte sich Raum nehmen können für eine lange Klage, ein Lamento auf die Ungerechtigkeit der Welt. Er tut es nicht. Er nimmt sich zurück. Der Fokus ist auf der Gegenwart, in der Theo sich seines viel tiefer gehenden Scheiterns am Leben, das sich in den kleinen Dingen zeigt, gewahr wird. Zum Beispiel am Erlernen der Schriftzeichen:

So viele Zeichen mußten draußenbleiben, sie schafften den Eintritt nicht, gewannen kein Bleiberecht. Bei seiner Tochter hingegen, das bemerkte er nicht nur im Hinblick auf die Landessprache, sondern auch beim Erkennen und Behalten von Details auf Bildern und in Filmen oder beim Anhören und Bewahren von Melodien und Liedtexten, genügte ein ein- oder zweimaliges Hören, Sehen oder Schreiben, damit sie, wahrscheinlich für alle Zeiten, ins Gedächtnis Aufnahme fanden.

Mit dem Wort Bleiberecht ruft Federmair eine Diskussion um Migration auf. Ist es nicht eine legitime Forderung, dass die, die zu uns kommen und bleiben wollen, unsere Sprache erlernen, sich an unsere Regeln halten? Der wachsame Nachbar hat einen Hinweis an den violetten Müllsack angebracht, nach ein paar Tagen wird der Bemerkung mehrsprachig, vielleicht, nein: bestimmt ist der Malefikant ein Ausländer!

Was passiert jedoch, wenn trotz guten Willens nicht gelingt, in Sprache und Kultur tief genug einzutauchen?

Sein Wunsch, diese Sprache zu erlernen, und nicht nur die gesprochene Sprache, sondern auch die Schrift, mit der sie festgehalten wird, dieser Wunsch war erwacht, als er den bekanntesten der Romane Yukio Mishimas in einer alten, längst vergriffenen deutschen Übersetzung las. Oder genauer, als er das Buch mit der holperigen Übersetzung und dem Fünfzigerjahre-Cover, das den Schattenriß eines Tempels mit Rot und Gelb drumherum zeigte, weglegte, weil er es nicht mehr länger ertrug, die Eleganz von Mishimas Sätzen, die er zu ahnen glaubte, mit solch groben deutschen Füßen getreten zu sehen.

Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Ein Yoko mitgegebenes Informationsschreiben der Schule kann Theo nicht lesen, deren Zeichen nicht entziffern, nicht richtig deuten. Die Tochter muss ihm den Text vorlesen. Hier zeigt sich, was es heißt, müde vom Leben zu sein: Ein Prozess des Welkens, während die Tochter aufblüht und ihre Kraft, ihre Duftmarken verströmt. Manchmal sagt sie ihrem Vater, er sei dumm. Halb, um ihn zu necken, halb, um ihn zu verletzen, in einem Ablösungsprozess, in dem Väter alt werden.

An irgendeinem Punkt, der ihm entgangen war und den er auch im Rückblick nicht genau zu bestimmen vermochte, hatte sich alles geändert. Die Geschichte – seine Geschichte – war gekippt. Einmal, als er seiner in Zorn geratenen Tochter schweigend zuhörte, sah er dieses Kippen deutlich vor sich: ein Bunker im Sand der Atlantikküste. Der Betonklotz verwandelte sich, während die zornige Stimme lauter wurde, in ein riesiges, viel zu großes, behäbiges Tier, das langsam zur Seite fiel und dann schicksalsergeben im Staub lag, es würde sich nie mehr erheben.

Federmair findet Worte für Prozesse innerhalb der Familie, die uns allzu oft verletzt zurücklassen, kraftlos, ratlos. Dass er seiner Figur Theo nahe ist und dabei eine Sprachkraft entwickelt, die Distanz schafft, Selbstbeobachtung ohne Anflug von Larmoyanz ermöglicht, die Leere in unaufgeregter und präziser Weise füllt, das ist Sprachkunst.

Übersetzen kann man nur trotzdem. Trotz was? („Wotrotz“?) Leben kann man nur trotzdem. […] Worte machen inmitten einer Unzahl von Wörtern. Indem er bis zum letzten Atemzug seine wachsende Tumbheit bekämpfte, bekämpfte und umhegte, würde der Roman vom Goldenen Tempel aus den verbrannten Wörtern noch einmal, das erste Mal, entstehen.

Am Ende erweist sich das Leuchten doch als reines Licht einer hinter sich gelassenen Dunkelheit.

Leopold Federmair: „Schönheit und Schmerz“

Gespräch mit Leopold Federmair auf Faustkultur.

Schönheit und Schmerz
Annäherung an Leopold Federmair

Essay

Ich spüre die Unmöglichkeit, dieses Buch zu besprechen, ihm mein (wer bin ich?) Werturteil aufzudrücken. Es geht nicht um Daumen hoch oder runter, ich bin nicht in der Arena, weder Zuschauer, der brav sein Brot frisst, noch Herrscher, der sein Machtspiel treibt. Schönheit und Schmerz von Leopold Federmair macht etwas mit mir, darüber will ich schreibend sprechen.

Könnte ich dann nicht auch eine Rezension schreiben? Ist es nicht so, dass jedes Buch etwas mit der Leserin, dem Leser macht und dass sie alles Recht der Welt haben, diese Leseerfahrung zum Maßstab einer Kritik zu machen? Spielt es eine Rolle, was der Autor sagen will oder kommt es nur darauf an, was ankommt? Entsteht Literatur erst im Auditorium, mit der Leserschaft?

Um nicht nur Fragen zu stellen, gebe ich auf die letzte Frage ein Nein zu Protokoll. Literatur entsteht im Schreiben, unabhängig von der Anzahl und Bewertung der Leserinnen und Leser, daran glaube ich, muss ich glauben, sonst wäre ich kein Schreibend-Suchender.

Weshalb die Flucht ins Essay? Weil es mehr Raum zum Scheitern gibt oder weil ich unverfrorener über mich sprechen kann?

Noch weiß ich es nicht, habe jedoch die Vorahnung, dass sich ein Satz bilden wird, der da lautet:

ICH – SCHREIBE – GEGEN – DEN – TOD

Plötzlich schlägt Unbekümmertheit in Versehrtheit um, ein Unfall, eine Krankheit. Es trifft mich nicht allein. Es geschieht ständig, überall. Und schreiben wir, schreiben wir also immer gegen den Tod. Wollen ihm Leben abtrotzen oder zumindest den Zurückbleibenden ein Vermächtnis hinterlassen.

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Kim Kyung-Uk: „Was? Leslie Cheung ist tot?“

Schiff der Barbaren

Der Band Was? Leslie Cheung ist tot? versammelt neun Erzählungen des 1971 in Gwanju geborenen koreanischen Schriftstellers Kim Kyung-Uk, der zur Neuen Generation gehört. Er hat mehrere Erzählbände und Romane geschrieben und ist für sein Werk ausgezeichnet worden.

Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer haben für diese erste Veröffentlichung in deutscher Sprache eine repräsentative Auswahl der Erzählungen vorgenommen, um uns mit dem Autor und seinen Themen bekannt zu machen. Diese knüpfen durchaus auch an jene der ebenfalls vom Duo Kim | Selzer übersetzten Eun Hee-Kyung an. Ich denke an Großstadtleben und Einsamkeit. Doch der Sound ist anders als bei der 1959 geborenen Eun. Die Geschichten haben eher eine absurde Note, denn eine traurig-depressive wie bei Eun.
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Eun Hee-Kyung: „Wer glücklich ist, schaut nicht auf die Uhr“

Wieso weinst du?

Nach der Erzählung sagte Hye-Rin noch: „Für mich sehen alle Gäste gleich aus. Sie scheinen nur am Leben zu sein, wenn sie traurig sind.“
„Wir sind wir selbst, wenn wir Traurigkeit empfinden. Deswegen wollen alle dorthin, wo es traurig ist“, erwiderte ich.
„Ja, weil man am Leben sein möchte“, ergänzte Hye-Rin.
(aus: In My Life)

Die Koreanerin Eun Hee-Kyung, 1959 im Südwesten Koreas geboren, mit ihrer Familie im Alter von 13 Jahren nach Seoul gezogen, ist in ihrem Land eine bekannte literarische Größe. Ihr Werk wurde bereits mehrfach ins Deutsche übersetzt. Nun ist sie mit einer neuen Publikation auf dem deutschsprachigen Markt angekommen. Es handelt sich bei Wer glücklich ist, schaut nicht auf die Uhr um sieben Erzählungen, die von Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer ins Deutsche übertragen wurden. Das Übersetzerduo zeichnete schon für Das Schöne verschmäht mich (und andere Erzählungen) aus dem Jahr 2012 verantwortlich.

Es sind traurige Erzählungen, die im Gegensatz zur heiteren Pastelligkeit der Covergestaltung, vielleicht einer von Kinderhand bemalten Rauhfasertapete, von Juana Burghardt stehen.

Es sind traurige Erzählungen, die wir lesen, kunstvoll komponiert, die ein genaues Lesen erfordern.  Sie entwickeln sich nicht linear, sondern bauen sich zyklisch auf und drehen sich um Beziehungen zwischen Menschen, zwischen Mann und Frau, sind Bewegungen, die ihre Richtungen wechseln, ein Aufeinanderzubewegen, ein Sichabwenden. Das Magnetfeld, auf dem die Erzählungen stattfinden, ist das städtische-moderne Leben im Korea des 21. Jahrhunderts, in dem Anonymität und Einsamkeit als Preis für eine hochtechnologisierte Gesellschaft erscheinen.

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Amiran Swimonischwili: „Gedichte“

Emailbläue

Der georgische Lyriker, Übersetzer und Filmautor Amiran (Pako) Swimonischwili starb 2014 im Alter von vierzig Jahren.

2018, dem Jahr, als Georgien Guest of Honour der Frankfurter Buchmesse war, erschien eine umfangreiche Sammlung von Gedichten in einem zweisprachig gestalteten Band, für den der Schweizer Thomas Häusermann für die Übersetzungen, die akribisch verzeichneten Anmerkungen und das Nachwort verantwortlich zeichnet. Er schreibt:

Die kommentierte Übersetzung möchte interessierten Lesern helfen, die Distanz zwischen Georgien und dem deutschsprachigen Raum, zwischen dem in einigermaßen geordneten Bahnen dahinlebenden Europa und dem von der aktuellen Geschichte gebeutelten Kaukasus wenn nicht überwindbar, so doch erkennbar zu machen. Ich hoffe, die langjährige Freundschaft mit Pako, dessen Gedichte ich anfangs aus reiner Neugier zu übersetzen versuchte, wird mir diese Aufgabe erleichtern.

Was hier aus dem Antrieb der Entdeckerlust geschaffen wurde, darf man schlicht als Glücksfall ansehen. Mit Häusermann, der Germanistik, Slawistik und Klavier studierte, nimmt sich einer Swimonischwilis Gedichte an, dessen Musikalität, dessen geschultes Gehör, dessen Rhythmussicherheit und dessen Freundschaft zum Autor und seiner Familie ihm Inspiration und Anleitung gibt, wie die deutschen Versionen aussehen, wie sie sich anhören können.

Der Konsonantenreichtum der georgischen Sprache erlaubt ein virtuoses Spiel mit Assonanzen und unreimen Reimen, das Pako gerne und nicht nur am Versende nutzt.
Eine Übersetzung kann diese Kunstfertigkeit nicht wiedergeben. […] Stattdessen bemüht sie sich – gewissermassen als Hinweis auf die Wahrung der klassischen Formen im Original – eine gleichmässige Metrik einzuhalten.

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Khalaf Ali Alkhalaf: „Tagebücher eines Krieges“

Über Leben

0 | Scham schläft, Krieg nicht

Scham lässt uns Menschen schrumpfen. Ganz klein werden wir, wollen uns im Nichts auflösen, können es nicht, verhalten uns ganz ruhig, verstecken uns vor uns selbst. Damit wir unsere hässliche Fratze nicht sehen müssen, schließen wir die Augen und … schlafen ein. Der Tod, der während des Kriegs seine Hochzeit mit verstümmelten Leichen immer wieder aufs Neue feiert, braucht keinen Schlaf. Er braucht den Blutrausch, der sich gleichermaßen der Schamlosigkeit und der Scham bedient. Wenn wir schlafen, hat der Tod ein leichteres Spiel.

Seit 2011 habe ich viel geschlafen.

Strategien, der Scham zu entfliehen, gibt es zahlreiche. Es ist unnütz, sie in Stellung zu bringen, denn ich bin mir des Versagens bewusst. Ein Impuls will mir diktieren: „Es ist nicht allein dein Versagen, die Politik …“ Strategien des Schutzes der eigenen Person sind mächtige Instrumente.

In Syrien haben mächtige Personen Instrumente genutzt, die Menschen vollkommen schutzlos zu machen: Scharfschützen, Fassbomben, Raketen, Giftgas, Hunger, Folter.

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Hadaa Sendoo: „Sich zuhause fühlen“

Doch stiller // das Land

Der 1961 in der Inneren Mongolei (China) geborene Dichter Hadaa Sendoo entwickelt seine Themen, wie er im Interview mit Maya Gogoladse sagt, aus den Widersprüchen zwischen traditioneller nomadischer Lebensweise und städtischer Zivilisation, die er mit Inhumanität und Verzweiflung assoziiert. Sendoo wurde in Hohhot, der Hauptstadt der Inneren Mongolei geboren und wuchs dort auf, heute eine Stadt von über 2,5 Millionen Einwohnern, überschritt sie bereits in den Sechzigern die Millionengrenze.

In der Gedichtauswahl Sich zuhause fühlen mit Übersetzungen ins Deutsche von Astrid Nischkauer und Andreas Weiland aus vom Autor angefertigten englischen Übersetzungen der mongolischen Originale, bleibt Sendoo den Nachweis der Zerstörung menschlichen Seins durch den Moloch Stadt weitgehend schuldig.

Die weißen Wände sind
Nicht die dunklen Jahre, oder kalte Wände,
Verputzt mit Kalkzement
Und darüber
Zerbrochenes Glas, zusammengehalten von Stacheldraht

Die weißen Wände sind Wollfilz der mongolischen Steppe
[aus: Weiße Wände]

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Zwei georgische Lyrikerinnen: Bela Chekurishvili und Irma Shiolashvili

 

Bela Chekurishvili und Irma Shiolashvili wurden 1974 in Georgien geboren, studierten und arbeiteten in Tbilissi. Zur Zeit leben beide in Bonn und waren im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse 2018 mit dem Ehrengast Georgia – made by Characters auf gemeinsamer Lesereise.

Ein Anlass, ihre jeweils neuesten Lyrikbände nebeneinander zu legen, nach gemeinsamen Wurzeln zu suchen und nach dem Maß der Entfremdung in der neuen Heimat Ausschau zu halten.

Bela Chekurishvili: „Barfuß“

Übersetzung: Lika Kevlishvili (interlinear) und Norbert Hummelt
90 Seiten, Erscheinungsjahr: 2018
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg

Irma Shiolashvili: „Kopfüber“

Nachdichtung: Sabine Schiffner
92 Seiten, bilingual: georgisch – deutsch, Erscheinungsjahr: 2018
Pop Verlag, Ludwigsburg

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Aka Morchiladze: „Der Filmvorführer“

Schatten: riesig, endlos

Einen Vorführraum habe ich nie von innen gesehen. Als Kind habe ich manchmal die Lichtstrahlen, die die Kinoleinwand ausfüllten, zurückverfolgt bis zu jenem magischen Auge, aus dem die Lichtbündel und mit ihnen die Geschichten kamen. Habe ich da bereits das Kino als Ort filmischen Erzählens verstanden? Ich glaube nicht. Machte ich mir Gedanken über die einsame Arbeit des Filmvorführers? Kaum. Schnell ging mein Blick wieder zur Leinwand und überwand mit einer 180 Grad-Drehung die Schwärze des ehrwürdigen Saals, der noch mit Klappstühlen aus rotem Plüsch (oder war es grüner Cord?) bestückt war.

Aka Morchiladze, 1966 in Tbilissi, Georgien, geboren, wird bei der Eröffnungszeremonie zur Frankfurter Buchmesse 2018 am 9. Oktober gemeinsam mit Nino Haratischwili Hauptredner des diesjährigen Ehrengastes sein: Georgia – Made by Characters.

Morchiladzes aus dem Jahr 2009 stammender Roman მამლუქი wurde nun in der Übersetzung von Iunona Guruli mit Unterstützung des Georgian National Book Center und des Ministry of Culture and Sport of Georgia im Bonner Weidle Verlag im Vorfeld der Messe herausgegeben.

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