Ich bin es, der den Organismus anführt
Das geheime Tagebuch des Miron Białoszewski
Vorüberlegungen
Warum sollte ich das Tagebuch eines mir unbekannten Menschen lesen? Mit welchen Erwartungen gehe ich an die Lektüre, die als geheim klassifiziert ist? Welche Zugangsberechtigung habe ich für diese Aufzeichnungen?
Die Euphorie in der Stimme des Verlegers Andreas Rostek, als er den Vornamen Miron aussprach und mir das Buch zur Rezension empfahl, machte mich neugierig und verleitete mich, diesem Ansinnen zuzustimmen. Miron, sagte er, sei noch heute in Polen ein klingender Name und jeder kenne den Schriftsteller, der 1922 in Warschau geboren wurde und 1983 dort starb.
Von Bialoszewski sind in deutscher Sprache dank der Übersetzungs- und Herausgebertätigkeit von Dagmara Kraus zwei Gedichtbände erschienen: Wir Seesterne und Vom Eischlupf (2012 und 2015, Reinecke & Voß).
Einige Protagonisten der deutschen Literaturszene sprechen über Bialoszewski als eine Entdeckung. Vielmehr ist es eine Öffnung, eine Europäisierung des Blicks, die Zueignung eines poetischen Schimmers über deutsche Staatsgrenzen hinweg, wie Armin Steigenberger erkennt. Unsere Begrenztheit abzulegen, ist in Zeiten aggressiver Nationalismen Pflicht.
Diese Erkenntnis, so wichtig und notwendig sie ist, beantwortet die eingangs gestellten Fragen nicht.
Gilt die Regel, dass Literatur Interesse weckt, wenn es ihr gelingt, die Leserschaft in Schwingungen, Resonanzen zu versetzen, auch für den intimen Bereich des Tagebuchs? Tadeusz Sobolewski stellt in seinem Vorwort klar: „Was ist das Geheime Tagebuch? Ein literarisches Werk.“ Die Biografie bietet durch die deutsche Besatzung Polens und Bialoszewskis Teilnahme am Warschauer Aufstand wie auch seine Zeitzeugenschaft des Stalinismus und der Demokratiebewegung in der Volksrepublik eine historische Dimension. Doch der Autor versteht sich nicht in erster Linie als politisch agierend. Im Tagebuch folgen wir einem Netzwerk von Beziehungen in der Literaten- und Künstlerszene, mithin der intellektuellen Elite des Landes, das es einem Außenstehenden schwer macht, zumal aufgrund des akribischen Fußnotenapparates, in dem Sobolewski Initialen auflöst und Kurzbiografien mitliefert, gedanklich dem Text zu folgen. Rivalitäten und Eifersüchtelei in einer in sich geschlossenen Gruppe kommen zum Ausdruck. Das erinnert an Uwe Kolbes Die Lüge, ein Werk, das einen Vater-Sohn-Konflikt ankündigt, aber als Roman versagt, weil es in Betrachtungen über die Egoismen einer über Arbeiter und Bauern stehenden Klasse erstarrt. Im Tagebuch mag es legitim sein, solchem Raum zu geben, ermüdend ist es trotzdem. Aber Bialoszewski verbringt viel Zeit im Bett und Träume/Albträume bieten ihm eine legitime Projektionsfläche auf die Wirklichkeit des real existierenden Sozialismus.
Was löst in mir Resonanzen aus? Ich bin Schriftsteller, doch meine Netzwerke sind kleiner, weniger mondän. Ich wurde in eine Demokratie hineingeboren, habe keine totalitären Erfahrungen. Insofern bleibe ich als Fremder und Unerfahrener außen vor. In der Homosexualität Bialoszewskis finde ich jedoch Bezüge zu meinem Vater, der es Zeit seines Lebens nicht geschafft hat, sich zu öffnen und „die Grenze der Scham und der Angst“ (Sobolewski) zu überwinden. Bialoszewski gelingt dies im New Yorker Tagebuch, Kapitel, die in der Lektüre des Buches noch vor mir liegen. Ich denke zurück an so wichtige Bücher wie Edmund Whites Die brennende Bibliothek oder die Autobiografie Reinaldo Arenas‘ Before Night Falls, die mir schwule Kultur nahebrachten. Jedoch erscheint mir vor allem, dass mit den schmerzlichen Schnittstellen von Sozialismus, Katholizismus und Homosexualität Bialoszewski im Westen mit Pier Paolo Pasolini, wie der Pole 1922 geboren, einen Bruder im Geiste hatte, der eine ebenso überragende Bedeutung für die Intellektualität seiner Nation und weit darüber hinaus einnahm.
[29./30.06.2016]
Nachts überlegte ich, weshalb der Sozialismus irgendwie weniger gelungen ist als die christliche Kirche. Mehrere Male hatte ich diesen Vergleich, der mir zu hinken schien, verworfen, bis er mir plötzlich gar nicht mehr wie ein hinkender Vergleich vorkam. Bei beiden gibt es eine Gesellschaftsvorstellung, eine Moralvorstellung. Bei beiden die Gleichberechtigung. Bei beiden soll die Belohnung in der Zukunft kommen. Folglich unüberprüfbar. Bei beiden entsetzlicher Missbrauch und hässliche Sachen. Bei beiden Schismen und Abweichungen. Und Aufspaltungen. Kennt der Kommunismus keine Kunst? Er kennt den Sozrealismus. Es haben sich doch verschiedene interessante Künstler in den Sozrealismus ergeben. Maler. Ich erinnere mich, dass sich sowohl Fougeron als auch Picasso engagiert haben. Und Pablo Neruda hat uns in den schlimmsten stalinistischen Zeiten Gedichte zur Übersetzung hergeschickt; eines seiner Poeme, ein riesiges, hatte übrigens eine Passage dieser Art:
In den drei Zimmern des alten Kreml
Wohnt ein Mann mit Namen Stalin
Lang brennt das Licht in seinem Zimmer …
Dass in der UdSSR Millionen Menschen verbannt wurden und ein Großteil der Welt nichts davon wusste oder es nicht glauben wollte, erinnert an die Kirche; die einen wähnen Rom als das Ziel aller Pilgerer, die anderen als Hauptstadt des Verbrechens. […]
[Sonntag, 20. März 1978]
Tod des Vaters
Im September 1979 stirbt Bialoszewskis Vater. Eine Verbindung zwischen Vater und Sohn scheint seit langer Zeit nicht mehr zu bestehen. Spuren hat der Vater bislang im Tagebuch des Sohnes nicht hinterlassen. Nun aber zeigt sich in der Verarbeitung des Todes, in den Erinnerungen eine unerwartete Zartheit, die sich in Mirons Träumen spiegelt. Zweifelsohne ist die verspätete Klärung des Vater-Sohn-Verhältnisses die wichtigste Triebfeder meines Schreibens, meiner Suche nach verloren gegangenen und ungesagten Worten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die wenigen Vaterspuren in Mirons Tagebuch, für mich einen besonderen Stellenwert haben. Und in ihrer Wortkargheit helfen, eigene Leerstellen mit entliehenen Sätzen zu füllen. Ist das legitim? Darf ich seine und meine Bilder überlagern, gegen die Sonne halten, um mit blinzelnden und tränenden Augen zu sehen, ob die Puzzleteile einen ähnlichen Zuschnitt haben? Oder ist das vermessen? Überschreitet es die dem Leser erlaubten Resonanzen? Darf ich meine Vaterträume öffnen?
[11.07.2016]
Zwei Tage lang unausgeschlafen. Ich wurde morgens wach, weil es ein Hämmern gegen die Tür gab. Ich dachte sofort, es müsse etwas Schlechtes sein. Mutter betreffend. Oder zur Abwechslung vielleicht Vater. Ich machte nicht auf. Aber nach einer Stillephase wieder Klopfen, Rütteln an der Tür, Hämmern. Ich dachte, dass sich der Tod auf diese Weise Zugang verschafft. […]
Ich habe von Dorata, die mit ihm zusammenwohnte, erfahren, dass er nach seinem Infarkt im Juli entlassen worden sei, danach sei es etwas schlechter gegangen, und drei Tage vor seinem Tod sei er wieder ins Krankenhaus; sie brachten ihm irgendein Essen hin, er bestellte noch Sauerkrautsuppe, plante, nach Hause zu gehen. Und starb plötzlich.
Und genau das hat mich gerührt, dass er mir seit langem keine Umstände bereitete, ja selbst mit seinem Tod hat er mir keine Umstände bereitet. Er ist schnell und weit weg gestorben.
[…]
Es tut mir um Vater leid. In schweren Zeiten brachte er mir über sehr lange Zeit täglich Essen aus der Milchbar. Meine Freunde bewunderten ihn für seine Geduld. Nicht selten verzog ich das Gesicht, dass ich dies nicht esse, das nicht esse, er brachte mir weiterhin zu essen, sogar noch, als ich bereits Geld hatte und in einer bessere Situation war. […]
[6. September 1979]
Heute habe ich geträumt, dass ich mit einem riesigen Schiff auf einem Arm oder Zufluss der Weichsel fahre, nicht weit weg vom Meer, und gleichzeitig schien das auch die Marszalkowskastraße zu sein. […] Ich kehrte zu meiner Bank zurück, die sich in ein Bett verwandelt hatte, zog einen Pyjama an und legte mich hin. Es war immer noch diese Kirche und immer noch das Warten auf die Andacht. Einen Moment später erhob ich mich schon wieder. Ich schaute mich um, und in einem weiteren Bett schien der Leichnam meines Vaters zu liegen. Als ich genau hinsah, war es kein Gespenst. Es war mein bleich lächelnder Vater. Ich ging zu ihm hin und fragte
– Du lebst?
Vater hob den Kopf, und da sah ich, dass er halb tot und halb lebendig war, aber er lächelte weiterhin und lebte auf
– Ja, als sie mich beerdigten, da …
Bewegung in der Kirche hatte mein Interesse geweckt, und ich hörte zu, was er sagte, aber er riss mich an der Schulter, weil er dachte, ich wolle nicht zuhören, und fühlte sich beleidigt. […]
[27. November 1979]
Mein Vater ist ein toter Körper, geschrumpft zu einem annähernd ebenen, ledrigen Stück Pergament, nur noch an wenigen Stellen dreidimensional, ansonsten ein toter Lappen. Er ist leicht ins Bad zu tragen. Der junge Mann ist starr vor Entsetzen über mein Anliegen, meinem Vater von ihm einen körperlichen Dienst angedeihen zu lassen. Ich rede mit Engelszunge und mit dem Hinweis auf die nicht unerhebliche Geldmenge solange, bis der Boy sich in die Situation hereinfindet. Ich verlasse das Bad und kann dann doch beobachten, was geschieht. Der Boy lässt Wasser in die Wanne und legt den ledrigen Pergamentkörper meines Vaters kurz ins Wasser, so dass die Fasern geschmeidiger werden. Anschließend klebt er sich den feuchten Körper auf den seinen und beide tanzen einen mir unbekannten, traurig-elegischen Tanz. Ihre Gesichter schauen sich nicht an, sind hintereinander gereiht. Der Boy neigt den Kopf auf die Schultern meines halb erweichten Vaters, eine zärtliche, unwirkliche Geste voller Sanftmut. Der Rhythmus ihres Tanzes dringt mir tief ins Ohr und ich erkenne ihre Bewegungen als Totentanz im gleichen Augenblick als der Boy plötzlich lächelt, dabei seine spitzen Eckzähne bleckt und von hinten in den Pergamenthals meines Vaters rammt.
[10.06.1995]
Tod der Mutter
Ein geschwollener Bauch, Übelkeit und Erbrechen, Klagen, Gejammer. In der ersten Nacht musste ich mir sogar die Ohren mit Watte und Wachs verstopfen, um nichts davon zu hören. Von dem, woran ich nichts ändern kann. Danach wurde ihr aber doch etwas besser. Die Übelkeit ging vorbei. Irgendwie aß sie und sah wieder etwas besser im Gesicht aus, weil sie furchtbar ausgesehen hatte. Ich gewöhnte mich daran, bei ihr zu sein. Und an die andauernden Lügen, die Sinn machen. Mutter lebt im doppelten Bewusstsein. Einerseits vermutet sie, dass sie etwas Ernsthaftes hat, vielleicht Krebs, sie hat es sogar einmal gesagt, aber wenn es ihr besser geht, hat sie die Hoffnung, dass sie noch ein wenig lebt. […]
[Neujahr 1980]
Bialoszewskis Eintragungen im Winter/Frühjahr 1980 werden zur Chronik eines schleichenden Todes. Die Mutter geht nicht wie der Vater plötzlich und fern. Der Sohn fährt oft nach Garwolin, etwa fünfzig Kilometer von Warschau entfernt. Wenn die Nähe des Todes zu groß wird, fährt Miron zurück nach Warschau. Man spürt den Kampf des Sohnes um ein autonomes Leben angesichts der Fürsorgepflicht gegenüber der Mutter.
[11.07.2016]
Schnee, leichter Frost, aber ich laufe weiter durch Warschau. […]
[3. Januar]
Wieder Garwolin. Meine Ankunft in der Nacht. Frost. Aber mit Energie, mit Notizen und Geschreibe, Abschriften. Die ganze Nacht. Und sogar morgens. Nichts gegessen. Das steigert das Wohlbefinden. Mutter ist normal lebendig, immer wieder beschwert sie sich über die Schwellungen, […]
[10. Januar]
Mutter wollte ausschlafen. Also musste ein Mittelchen her. Ich gab ihr eines. Eines mit leichter Wirkung. Sie schlief ein, stöhnte. […]
[15. Januar]
Mutter fühlt sich seit zwei Tagen besser. Sie beschwert sich über die gewohnten Schwellungen, aber selbst die Schwellungen sind etwas abgeklungen. Sie isst wie immer wenig, aber es nützt ihr. Sie wirtschaftet in der Wohnung herum. Sie hat mir das Hemd für die Fahrt gewaschen. Als ob ihre Krankheit seit einem Monat auf der Stelle stünde. […]
[17. Januar]
Ich habe in Garwolin angerufen. Mutter fühlt sich passabel, so wie vorher. Sie hat am Telefon sogar gelacht. […]
[25. Januar]
Weil ich Lust hatte, bin ich nach Garwolin gefahren. Mutter ist in quasi unverändertem Zustand, obwohl sich das Ganze womöglich langsam, aber unmerklich abwärts bewegt.
[Freitag, den 1. Februar]
Ich habe mit Mutter telefoniert. Am Dienstag geht sie ins Krankenhaus. Sie ist ein wenig nervös, ein wenig hat sie sich damit abgefunden. Sie hat Hoffnung auf die Rückkehr nach Hause.
[Sonntag, den 10. Februar]
Ich bin abends zu Mutter ins Krankenhaus gefahren. Sie hat eine weitere Entwässerungskur hinter sich. Sie hat geholfen. […]
[Freitag, den 22. Februar]
Ich bin zu Mutters Namenstag nach Garwolin gefahren. […]
[4. März]
Ich habe bei Mutter angerufen. Sie irrt durch die Wohnung, schwillt an, ich weiß nicht wie stark. […]
[14. März]
Ich schlief und hörte es durch die mit Watte und Wachs verstopften Ohren klingeln. Einmal, ein zweites, ein drittes. Ich schlief weiter, obwohl mich die Unruhe gepackt hatte. Dass etwas mit Mutter sei. Aber ich beschloss, auszuschlafen, um Kraft für das zu haben, was mich erwartet. […] Sie schlief ein, erwachte wieder, und eigentlich war das schon das Sterben. […] Sie trugen Mutter herein. Schnell auf das Sofa. Der Sanitär überprüfte die Atmung mit einem Spiegel. Keine Atmung. […]
[Karfreitag 4. April]
New Yorker Tagebuch
Heute habe ich mir einen von mir lange gesuchten Leckerbissen für nur 6 Dollar gekauft. Ein herrlicher Neger mit gewaltigem Teil bläst sich selbst einen.
[Mittwoch, 13. Oktober 1982]
Man kann diesen Tagebucheintrag Bialoszewskis unter verschiedenen Aspekten betrachten.
Derlei Abbildungen von Geschlechtsteilen sind Werkzeug, Taststock innerhalb des Systems einer nach oben offenen Skala individueller Erregung, die sich der allgemeinen Bewertung entzieht. Weniger kopflastig ausgedrückt: Was wen wie aufgeilt, geht niemand was an. Da ich aber durch die Lektüre des Buches eingeladen bin, diesen intimsten Bereich eines Menschen zu teilen, habe ich die Möglichkeit und Notwendigkeit, mich prüde zu zeigen oder nicht. Leicht ließe sich Pornografie schreien, ließe sich Empörung hecheln. Ehrlich gesagt habe ich nie verstanden, wieso die Sexszenen im Film Intimacy von Patrice Chéreau (2001) manche zum Geifern brachten. Und was den Begriff der Pornografie angeht, finde ich wichtig und nach wie vor gültig, was Gellu Naum in Zenobia aufzeigt: wie der Staat pornografisch ist, in dem er seine Macht schamlos ausnutzt, das Volk zu knechten. Pasolini ist mit Salò oder die 120 Tage von Sodom ein zeitlos gültiger Beleg gelungen, der den sexuellen Aspekt der Machtausübung mit Nachdruck einschließt.
Die Pornoindustrie bündelt und lenkt individuelle Phantasien, um durch Ausbeutung der Beteiligten hohe Gewinne zu erzielen. Es ist eine seltsam erschreckende Erkenntnis, gut gehütete sexuelle Phantasien bei anderen zu entdecken. Ich erinnere mich, dass ich beim Lesen von Hervé Guiberts Blinde rote Ohren bekam und mich erwischt fühlte. Was dort stand, hatte ich bislang nur denken können, niemals aussprechen. Pornos berauben uns durch die Instrumentalisierung individueller Phantasien, ihre Einordnung in Stereotypen letztes Endes unserer Humanität. Die Pornoindustrie ist am Mehrwert interessiert und zerstört das menschliche Gefühl. Ob 6 Dollar in den achtziger Jahren ein guter Preis war, den man bereitwillig für den Mythos eines sich selbst blasenden Mannes bezahlt, dies zu beurteilen, habe ich keine Berechtigung.
Zweifelsfrei kann die Abbildung, jenseits ihres realen Inhalts, als
rassistisch und sexistisch gekennzeichnet werden. Das Stereotyp: huge black cock. Es ist irritierend bei Bialoszewski zu lesen:
Ich will Andersartigkeit, und sei es für nur 6 Wochen. Die Andersartigkeit der Welt. Aber hier gibt es das Neger-Problem. Sie haben Washington eingenommen, die Weißen sind in die Vororte geflüchtet. Immer mehr dieser Neger in New York. […]
[Dienstag 12. Oktober 1982]
Man muss Bialoszewskis Leckerbissen auch unter dem Aspekt der AIDS-Historie betrachten und einordnen. Der Pole besucht New York gerade in einer Zeit, als sich die Krankheit langsam, viel zu langsam ins Bewusstsein der Bevölkerung und ihrer Regierung drängt. Am 1. Dezember 1981 erkennt man die Krankheitssymptome als eigenständige Krankheit an. Im Juli 1982 einigen sich die Fachleute auf den Namen Acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS). Am 15. Oktober 1982, kurz nach Bialoszewskis 6-Dollar-Kauf, werden bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus Fragen über AIDS mit witzig gemeinten Bemerkungen ins Lächerliche gezogen. Die Administration Ronald Reagans zeigt sich unfähig, adäquat auf die Bedrohung durch den Virus zu reagieren. Und so wirken Bialoszewskis Beschreibungen der Sexkinos wie ein Abgesang auf eine Zeit ungehemmter Sexualität, die mit dem Attribut safe nichts anzufangen weiß.
Das Vorzimmer zum Himmel oder zur Hölle. Gleichzeitiges Stöhnen von der Leinwand und live. Der nackte Selbstdarsteller hat sich nach einer ausgedehnten Session mit einem Zischen entladen, und das auf elegante Weise, da er sich langsam erst das Hemd angezog, dann die Unterhose und Hose und schließlich verschwand. An seiner Stelle hat sich ein junger, recht groß gewachsener Asiate einem König gleich installiert; er ließ sich gern so fest wie möglich anfassen. Voller Geilheit erlag er der selbst und kam vor dem Hintergrund des Gestöhns und Geschlürfes auf der Leinwand an sein Ziel. […]
[Freitag 15. Oktober 1982]
Schließlich ist das Abbildnis jener oralen Selbstbefriedigung eine Metapher für Selbsterschöpfung. Damit meine ich gleichermaßen die schaffenden und zerstörenden Anteile der menschlichen Existenz. Aus sich selbst zu schöpfen, ist keine demütige Haltung, sondern eine selbstbewusste, zur Selbstüberhebung neigende. Der Mensch legt sich mit Gott und seiner Schöpfung an, reibt sich. Und verliert dabei an Kraft. Bialoszewskis Tagebuch weist die Kraftverluste aus. Es sind keine veröffentlichten Texte enthalten. Der schöpferische Anteil fehlt. Dem Tagebuch vertraut er vor allem die Erschöpfung, die überlangen Schlafphasen mit seinen Alpträumen an, die in ihrer Intensität wiederum Material für die schöpferischen Momente liefern. Aber dies ist kein Perpetuum mobile, sondern das sich erschöpfende System Leben mit Geburt und Kindheit bis hin zum Tod.
[12.07.2016]
Kindheit
Während Bialoszewskis Aufenthalts in New York meldet sich Czeslaw Milosz mehrmals telefonisch bei ihm. Der 1911 im heutigen Litauen geborene Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1980 hatte Polen bereits im Jahr 1951 verlassen. Beide Männer begegnen sich mit Respekt und Hochachtung. Das geheime Tagebuch und Miloszs Tal der Issa standen über Monate friedlich in der Ablage neben meinem Bett, meinem bevorzugten Leseort, darauf wartend, gelesen zu werden. Miloszs Roman ist das Buch seiner Kindheit an einem fiktiven Fluss und mit einem fiktiven Jungen namens Thomas. Er beginnt mit ausführlichen Naturbeobachtungen, die sich durch das Buch ziehen und das Leben des Jungen begleiten.
Man muß mit der Beschreibung des Landes der Seen beginnen, wo Thomas wohnte. Diese Gegenden Europas sind lange von Eisbergen bedeckt gewesen, und ihre Landschaft hat die Strenge des Nordens. Der Erdboden ist hier im allgemeinen sandig und steinig, nur für den Anbau von Kartoffeln, Korn, Hafer und Flachs geeignet. Das erklärt, warum der Mensch die Wälder nicht vernichtet hatte, die das Klima mildern und vor den Winden des Baltischen Meeres schützen. In ihnen überwiegen Kiefer, Tanne, es gibt auch Birken, Eichen, Weißbuchen; Rotbuchen fehlen, ihre Reichweite erstreckt sich viel weiter nach Süden. […]
[Czeslaw Milosz: Tal der Issa]
Die beiden Männer unterhalten sich über amerikanische Landschaften, doch scheinen die Bilder schnell verbraucht und die Gedanken wandern zurück nach Europa. Zu Beginn der Reise wiederholt Bialoszewski einen Satz, den er schon bei anderen Reisen, Paris, Kairo, nutzte:
– Das also ist die große Welt. Diese aufklappbaren Geheimnisse.
[Dienstag 12. Oktober 1982]
Gegen Ende seines Aufenthalts hingegen schreibt Bialoszewski in sein Tagebuch:
Über die Niagara-Fälle sagte Milosz, dass sie schon lange nicht mehr in Mode seien. Jetzt sei der Grand Canyon in Mode.
An verschiedenen Orten hatte ich mehrmals plötzlich Mozart im Ohr. Ich habe das wie einen Ruf nach Europa verstanden, in mein Bett. Mozart ist mir viel näher als Manhattan mit seinen Menschen.
[15. November 1982]
Während Milosz seiner Kindheitswelt im Roman einen episch-breiten Raum gibt, erfahren wir in Bialoszewskis Tagebuch wenig über dessen Kindheit.
Bis zu meinem zehnten Lebensjahr habe ich in der Lesznostraße in einem Zimmer mit Küche mit meinen Eltern zusammengewohnt, mit Nanka, Sabina, Nankas Mann, dem Trinker, und Opa Walenty Bialoszewski. Opa war Tischlermeister und Liebhaber von polnischen Büchern. Ein von ihm gemachtes Regal stand von oben bis unten voller Bücher. […]
[13. März 1983]
Ich bin mir sicher, die Kindheitsorte der beiden polnischer Schriftsteller hatten eine feste Verankerung und unterlagen keinen Moden. Sie waren Lebensquellen, die erst nach unterschiedlich langem Lauf versiegten.
[12.07.2016]
Todesahnung
die verbrauchten Metaphern rächen sich
[Briefe an die Eumeniden: Anin, 26. Mai 1983]
Nachtrag
Ich hatte das Buch auf unsere Reise in die polnische Provinz mitgenommen. Sehen wollte ich, ob sich die Gesichter der Polen durch Bialoszewskis Anwesenheit erhellen würden. Nun, es kam anders. Miron fiel in der Provinz in einen leichten Schlaf und begegnete Menschen allenfalls im Traum.
Am letzten Julitag fand ich in der Buchhandlung Tajne Komplety in Wroclaw Bialoszewskis Band Sprawdzone soba mit den gesammelten Gedichten im Poesieregal. Ich fragte nach, ob auch die Tagebücher verfügbar seien. Die Buchhändlerin schaute in den Computer und verneinte.
Abends ging das 16. Nowe Horyzonty-Filmfest mit einem Openair-Screening des Filmes Brand New Testament von Jaco van Dormael auf dem Marktplatz von Wroclaw zu Ende. Festivaldirektor Roman Gutek setzte ein politisches Signal gegen das nationalkonservative Establishment der mit absoluter Mehrheit regierenden PiS, als er, nur wenige Worte verlierend, auf den Ort der Filmhandlung verwies: Brüssel. Van Dormaels Film kann man als Absage einer göttlich(-männlich)en Zerstörungswut hin zu einer weiblichen Neuschöpfung des Lebens sehen. Diese Respektlosigkeit vor religiösen Dogmen, diese tiefe Humanität, diese Feier des Lebens, das hätte Miron zweifelsohne erfreut und ihn seiner Schwere entbunden.
[09.08.2016]
Der Sommer ist zurück. Heute Nachmittag habe ich aus dem Fenster gesehen. Wärme, warmes Wehen, Sonne, Bewegung. Auf dem Flughafen Staub von den Grabungen und leichter Nebel. In den Stockwerken hoch über der Stadt und darüber ein mildes Blauen. Ich dachte mir: Das ist unser Planet. Voller Luft, blau, schimmernd, wehend. So fliegen wir dahin. […]
[13. September 1976]