Nichita Danilov: „Vulturii orbi | Die blinden Adler“

Umbra, Cenușa | Schatten, Asche

Beide Worte verweisen auf die Vergänglichkeit (des eigenen Seins) und die Vergangenheit (als Lebensgeschichte der Vorfahren), auch wenn sie gelegentlich im gegenständlichen Sinn gemeint sind: Häuserschatten oder Asche, die von einer Zigarette abfällt (hier: scrumul = Die Asche)

Stă în umbra mea cel a cărui umbră sînt eu.
In meinem Schatten steht der dessen Schatten ich bin.
(aus: Arlechini la marginea cîmpului | Harlekine am Rand des Feldes)

Liniștit creștea cenușa…
Sacht vermehrte sich die Asche …
(aus: Poem pentru absență | Gedicht für die Abwesenheit)

Mit Vulturii orbi | Die blinden Adler erreichen uns Gedichte des rumänischen Dichters Nichita Danilov (* 1952 in Climăuți) in der Übersetzung von Jan Koneffke (* 1960 in Darmstadt) in einer wohlgestalteten zweisprachigen Ausgabe.

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Myriam Sauer: „Passage durch den reißenden Strom“

Ozeanische Leiblichkeit

In dem gerade mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis (Kategorie: Sachbuch) ausgezeichneten Buch Queer gestreift. Alles über LGBTIQA+ lese ich folgenden Satz:

Dabei kann eine cis Person doch gar nicht wissen, wie es ist, trans zu sein. Wie soll sie das also beurteilen?

Ich bekenne: Ich schreibe diese Rezension aus einer Position heraus, in der die cis heteronormative Gesellschaft, die mich über Jahrzehnte lenkte und formte, zunehmend mehr Risse bekommt. Durch diese dringt Licht, ich erkenne die Begrenztheit meiner Welt, die möglicherweise gar nicht meine Welt ist.

Wie also diese Rezension schreiben?

Es darf mir nur gehen um eine vorsichtige Annäherung an eine Welt (hinter | vor? der Mauer), die sich eine Sprache erschafft, um eine Sprache, die sich eine Welt erschafft.

Mit Passage durch den reißenden Strom legt die Schriftstellerin Myriam Sauer ihr Prosadebüt vor.

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Uroš Prah: „Erdfall“

Bernsteinstämme

Der slowenische Dichter Uroš Prah (* 1988 in Trate) seziert unseren Planeten als urqueeren Unort, während die Mehrheitsgesellschaft ihn als unqueeren Urort (der der Ausbeutung dient) versteht. Ein kleiner Buchstabendreher, der uns den Zugang zu Nischen erlaubt, jene der Lyrik, jene der „displaced persons“, derjenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, keine Heimat finden oder sie verloren haben.

Kontinente sind Körper. Ihre Drift ist Körperlichkeit, Begehren, Sex.

Wo sich der Subkontinent
in den Kontinent bohrt
vom schroffen Gestein
ein Körperknöpfchen
ein weicher Tropfen fällt.

Im Lyrikband Erdfall findet sich eine Auswahl aus den drei bisherigen Gedichtsveröffentlichungen Prahs in slowenischer Sprache (Čezse polzeči, 2012, Tišima, 2015 und Udor, 2019). Die Übersetzungsarbeit leistete Daniela Kocmut im engen Austausch mit dem Poeten, der an der slowenisch-österreichischen Grenze aufgewachsen ist und Deutsch nicht als Fremdsprache versteht.

Im Gespräch mit Tino Schlench bezeichnet Prah Deutsch als Zwischenraum. Räume zu schaffen, Räume zu entdecken, es ist das, was den Slowenen anzieht, was ihn zu Erkundungen aufbrechen lässt.

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Ilija Jovanović: Vom Wegrand | Dromese rigatar

Jek kućin ćišaj sem me

Der da auf Gurbet (Varietät des Vlax Romani) schreibt Ein Sandkorn bin ich, er muss ein Wesensverwandter sein. Einer, der die Einsamkeit in der Menschenmasse kennt und dessen Band ich vom Wegrand aufgelesen habe. Welch ein Fund!

Ilija Jovanovićs zweisprachiger (Gurbet – Deutsch) Lyrikband Vom Wegrand | Dromese rigatar wurde 2006 veröffentlicht. Wer dieses Buch zum Sperrmüll gelegt hat, tut den Gedichten Gleiches an, wie es Jovanović (1950-2010) widerfahren:

Eintauchen wollte ich
in die wunderbare Sprache
der Lyrik.
Doch schon
auf dem Gang meiner Wohnung
standen, auf dem Kopf
und eng aneinandergeschmiegt,
meine aus dem Schlafzimmer
gerissenen Matratzen.
Eine graue Ahnung überfiel mich.
[…]
Wo um Gottes Willen
sind Bachmann, Eliot, Rilke, Puschkin,
Mariella Mehr, wo Jovan Nicolić …?
„Wo sind sie?“
schrie ich außer mir.
„In einem Sackerl“, kam es von dort zurück,
wo unsere Küche ist.
[…]
(aus: Eintauchen wollte ich …)

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Armin Steigenberger: „rohherz und antikkörper – reprisen zur zerschönerung der welt“

Berserkergang,
Berserkergesang.

Mittelalterliche skandinavische Quellen bezeichneten im Rausch kämpfende Menschen, die keine Schmerzen wahrnehmen, als Berserker. Sie haben sich in einen Furor hineinbegeben, sei es als Kampftechnik des Kriegers oder als Manifestation der Verachtung des Todes, dem sie nur Hohn entgegenbringen. Erste Anwendung findet das Wort in dem Preisgedicht Haraldskvæði (um 872).

es brüllten die Berserker,
der Kampf kam in Gang,
es heulten die Wolfpelze
und schüttelten die Eisen.
(Strophe 8)

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Andreas Neeser: „Nachts wird mir wetter“

: Hätten Wörter ein Gedächtnis

, fragt der Schweizer Andreas Neeser (* 1964) in seinem neuesten Lyrikband Nachts wird mir wetter,

wäre das
eine gute Nachricht?
(Einsagen. Aus – XVI)

Wörter mit einem künstlichen Intelligenzapparat zu versehen, der in Sekundenschnelle ausspuckt, wer, wann, wo und wie oft welche Wörter benutzt hat? Wem warum gelungen ist, aus Wörtern Worte zu machen? Aus den Einzelelementen einer Sprache Zusammenhänge zu flechten oder zu weben, je nach Handwerkskunst und Tradition? Wäre das eine gute Nachricht?

Nein, ich glaube nicht.

Das Gedächtnis (und das Vergessen) darf auf der Seite der Menschen bleiben, jedenfalls im Bereich der Literatur, der Lyrik, der Sprache.

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Emma Adbåge: „Unsere Grube“

Die Erwachsenen stehen miesepetrig oben am Rand.

Der schönste Satz des Gewinners des Deutschen Jugendliteraturpreises 2022 in der Kategorie Bilderbuch.

Das von der schwedischen Autorin und Illustratorin Emma Adbåge (*1982 in Linköping) gestaltete Buch (ins Deutsche von Friederike Buchinger) erzählt aus Sicht der Kinder über ihren Lieblingsspielplatz, unsere Grube, wo die Spiele nicht vorgegeben sind durch die Erwachsenen mit ihren verkopften Vorstellungen über Regeln und Unfallvermeidung, sondern sich deren Kontrolle entziehen und freien Lauf nehmen. Die Spiele heißen

Bärenmama, Hütte, Verstecken, Kiosk …

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Tatjana Gromača: „Die göttlichen Kindchen“

Darlegung

Allzu leichtfertig, allzu inflationär fällt das Wort von messerscharfen, sezierenden Worten. Und dann dieser Satz:

Es gibt verschiedene Arten von Messern, aber für das Abschlachten von Menschen im Krieg sind am besten etwas längere Exemplare geeignet, so wie die Jagdmesser zum Schlachten von Wildschweinen.

Mit dieser Exposition beginnt Tatjana Gromača (* 1971 in Sisak) ihren Roman Die göttlichen Kindchen (aus dem Kroatischen von Will Firth).

Welche Erwartungen an ihren Roman weckt Gromača mit diesem ersten Satz? Darf man einen Ton voll scharfzüngigem Witz erwarten, wie es der Klappentext vorschlägt?

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Tadeusz Dąbrowski: „Wenn die Welt schläft“

Zertrümmerte Tastatur der Stadt

Es ist meine erste Begegnung mit dem polnischen Lyriker Tadeusz Dąbrowski (* 1979 in Elbląg), ermöglicht durch die Übersetzerin Renate Schmidgall.
Sie hat Gedichte der beiden letzten Lyrikbände Ausdrucksmitte(l) von 2016, Scrabble von 2020 und neuere, unveröffentlichte Gedichte zu einem Band zusammengefasst.

Die Gedichte lesen sich in der deutschen Fassung leicht und selbstverständlich, sie scheinen auf den ersten Blick keine allzu großen Geheimnisse zu bergen, sie erzählen aus dem Leben, sie erzählen vom Leben, wie es ist, aus der Perspektive eines lyrischen Ich-Erzählers, der nahe am Autor verortet ist. Sie erzählen von Reisen und Lesestationen eines Schreibenden, der seinem Beruf in verschiedenen Städten nachgeht, dabei immer im Gepäck die Entfremdung und die Sehnsucht.

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Verónica Gerber Bicecci: „Leere Menge“

Und wo sind die Scherben?
Über die Umdeutung einer gemeinsamen Schnittmenge.

Die vom deutschen Mathematiker Georg Cantor (1845-1918) begründete Mengenlehre schaffte es in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts als Schulstoff in meine Grundschule, die im Volksmund gemeinhin Volksschule genannt wurde (ein Ausdruck, der weit in die deutsche Geschichte reicht und nach Schnittmenge, Differenz und Komplement verschiedener Systeme fragt: Kaiserreich, Weimarer Republik, das Dritte Reich, das getrennte Deutschland).

Ich erinnere mich noch an den Aufschrei meiner Mutter, die sich mit anderen zusammentat, um gegen diesen unverständlichen Unterrichtsstoff zu protestieren. Muss ich erwähnen, dass dies im Westen des Landes geschah?
Muss ich mutmaßen, dass sie die Klappe gehalten hätte, wäre sie im Osten des Landes geblieben?

Ach Mama, jetzt bist du fast ein Jahr tot und ich lese und bespreche ein Buch, das die Mengenleere auf Gefühlslagen anwendet. Du fragst nach?

Leere Menge ist von der mexikanischen Künstlerin und Schriftstellerin Verónica Gerber Bicecci (* 1981 in Mexiko) geschrieben und mit Zeichnungen (Diagrammen) versehen. Die Übersetzung aus dem mexikanischen Spanisch stammt von Birgit Weilguny (* 1980).

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Anja Tuckermann, Mehrdad Zaeri & Uli Krappen: „Nusret und die Kuh“

Fortgehen und Heimkehren

Nusret lebt bei seinen Großeltern in einem Dorf im Kosovo. Die Eltern wohnen mit den Nusrets Geschwistern in Deutschland. Die Entfernung zwischen der alten und der neuen Heimat der Familie ist groß, Briefe verkürzen sie. Doch die Großeltern können nicht lesen und Nusret ist noch nicht in der Schule, also hilft der freundliche Briefträger aus.

Anja Tuckermann erzählt in Nusret und die Kuh eine Geschichte über Heimat, Exil, Sehnsucht und über die Wichtigkeit, Lesen und Schreiben zu erlernen. Die Kuh tut es Nusret gleich, auch sie lernt das Alphabet. Als Nusret nach einem Besuch im Kosovo zurück nach Deutschland fährt, die Kuh aber bei den Großeltern bleibt, liest fortan die Kuh die Briefe aus Deutschland vor.

Das Buch ist von  Mehrdad Zaeri und Uli Krappen lebhaft, wild, phantasie- und liebevoll illustriert.

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Schirin Nowrousian: „Wilna-Worte | Vilniaus žodžiai“

Katzen rennen hinter jedem Wort her

Ich bin mir sicher, die Antipathie besteht beiderseits. Wie diese Katze, sicher ein leicht fett gewordener, kastrierter Kater mich ansieht: misstrauisch, frustriert, mürrisch.

Ich gebe zu, ich bin kein besonderer Freund des Katzentiers, auch kein Käufer von Katzenkalendern, wiewohl es ein offenes Branchengeheimnis ist, das damit Lyrikpublikationen querfinanziert werden können. Aber dort sind ohnehin nur diese jungen Dinger drin! Der Wächter des mehrsprachigen Lyrikbands Wilna-Worte | Vilniaus žodžiai von Schirin Nowrousian (* 1975 in Bochum) (ins Litauische von Vertė Austėja Merkevičiūtė) bleibt regelmäßig bei den Shootings für den Kalender unberücksichtigt, vielleicht ist er ein ehemaliger König der Gosse.

Jedenfalls hat er mir über Tage den Zugang zu den Gedichten verwehrt. Ich schlich mich schließlich in einem Moment seiner Unachtsamkeit von hinten in den Band. Und siehe: Es funktioniert.

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