Raoul Eisele und Monika Ernst: „immer wenn es ein wenig den Himmel entlang grollt, Maman“

Hinfälligkeit des Hoffens

ich vermisse dich, ich vermisse unsere Gespräche und führe sie hierdurch fort, denn immer übersieht und vergisst man, was man gerne hätte gesagt; dort wo ich unsere Leerstellen von damals erkunde, scheint es mir, dass nur du dazu im Stande wärst, mir zu helfen, du dieses kurze Aufleuchten, als wäre hinter jedem Halm ein Haar von dir, eine Wimper […]

schreibt der Protagonist Emile im September 1989 aus Paris an seine Schwester Kristine. Raoul Eisele (Text) (* 1991) und Monika Ernst (Illustration) (* 1996) erzählen eine Familiengeschichte, die von Brüchen gezeichnet ist.

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Nichita Danilov: „Vulturii orbi | Die blinden Adler“

Umbra, Cenușa | Schatten, Asche

Beide Worte verweisen auf die Vergänglichkeit (des eigenen Seins) und die Vergangenheit (als Lebensgeschichte der Vorfahren), auch wenn sie gelegentlich im gegenständlichen Sinn gemeint sind: Häuserschatten oder Asche, die von einer Zigarette abfällt (hier: scrumul = Die Asche)

Stă în umbra mea cel a cărui umbră sînt eu.
In meinem Schatten steht der dessen Schatten ich bin.
(aus: Arlechini la marginea cîmpului | Harlekine am Rand des Feldes)

Liniștit creștea cenușa…
Sacht vermehrte sich die Asche …
(aus: Poem pentru absență | Gedicht für die Abwesenheit)

Mit Vulturii orbi | Die blinden Adler erreichen uns Gedichte des rumänischen Dichters Nichita Danilov (* 1952 in Climăuți) in der Übersetzung von Jan Koneffke (* 1960 in Darmstadt) in einer wohlgestalteten zweisprachigen Ausgabe.

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Uroš Prah: „Erdfall“

Bernsteinstämme

Der slowenische Dichter Uroš Prah (* 1988 in Trate) seziert unseren Planeten als urqueeren Unort, während die Mehrheitsgesellschaft ihn als unqueeren Urort (der der Ausbeutung dient) versteht. Ein kleiner Buchstabendreher, der uns den Zugang zu Nischen erlaubt, jene der Lyrik, jene der „displaced persons“, derjenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, keine Heimat finden oder sie verloren haben.

Kontinente sind Körper. Ihre Drift ist Körperlichkeit, Begehren, Sex.

Wo sich der Subkontinent
in den Kontinent bohrt
vom schroffen Gestein
ein Körperknöpfchen
ein weicher Tropfen fällt.

Im Lyrikband Erdfall findet sich eine Auswahl aus den drei bisherigen Gedichtsveröffentlichungen Prahs in slowenischer Sprache (Čezse polzeči, 2012, Tišima, 2015 und Udor, 2019). Die Übersetzungsarbeit leistete Daniela Kocmut im engen Austausch mit dem Poeten, der an der slowenisch-österreichischen Grenze aufgewachsen ist und Deutsch nicht als Fremdsprache versteht.

Im Gespräch mit Tino Schlench bezeichnet Prah Deutsch als Zwischenraum. Räume zu schaffen, Räume zu entdecken, es ist das, was den Slowenen anzieht, was ihn zu Erkundungen aufbrechen lässt.

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Ilija Jovanović: Vom Wegrand | Dromese rigatar

Jek kućin ćišaj sem me

Der da auf Gurbet (Varietät des Vlax Romani) schreibt Ein Sandkorn bin ich, er muss ein Wesensverwandter sein. Einer, der die Einsamkeit in der Menschenmasse kennt und dessen Band ich vom Wegrand aufgelesen habe. Welch ein Fund!

Ilija Jovanovićs zweisprachiger (Gurbet – Deutsch) Lyrikband Vom Wegrand | Dromese rigatar wurde 2006 veröffentlicht. Wer dieses Buch zum Sperrmüll gelegt hat, tut den Gedichten Gleiches an, wie es Jovanović (1950-2010) widerfahren:

Eintauchen wollte ich
in die wunderbare Sprache
der Lyrik.
Doch schon
auf dem Gang meiner Wohnung
standen, auf dem Kopf
und eng aneinandergeschmiegt,
meine aus dem Schlafzimmer
gerissenen Matratzen.
Eine graue Ahnung überfiel mich.
[…]
Wo um Gottes Willen
sind Bachmann, Eliot, Rilke, Puschkin,
Mariella Mehr, wo Jovan Nicolić …?
„Wo sind sie?“
schrie ich außer mir.
„In einem Sackerl“, kam es von dort zurück,
wo unsere Küche ist.
[…]
(aus: Eintauchen wollte ich …)

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Armin Steigenberger: „rohherz und antikkörper – reprisen zur zerschönerung der welt“

Berserkergang,
Berserkergesang.

Mittelalterliche skandinavische Quellen bezeichneten im Rausch kämpfende Menschen, die keine Schmerzen wahrnehmen, als Berserker. Sie haben sich in einen Furor hineinbegeben, sei es als Kampftechnik des Kriegers oder als Manifestation der Verachtung des Todes, dem sie nur Hohn entgegenbringen. Erste Anwendung findet das Wort in dem Preisgedicht Haraldskvæði (um 872).

es brüllten die Berserker,
der Kampf kam in Gang,
es heulten die Wolfpelze
und schüttelten die Eisen.
(Strophe 8)

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Andreas Neeser: „Nachts wird mir wetter“

: Hätten Wörter ein Gedächtnis

, fragt der Schweizer Andreas Neeser (* 1964) in seinem neuesten Lyrikband Nachts wird mir wetter,

wäre das
eine gute Nachricht?
(Einsagen. Aus – XVI)

Wörter mit einem künstlichen Intelligenzapparat zu versehen, der in Sekundenschnelle ausspuckt, wer, wann, wo und wie oft welche Wörter benutzt hat? Wem warum gelungen ist, aus Wörtern Worte zu machen? Aus den Einzelelementen einer Sprache Zusammenhänge zu flechten oder zu weben, je nach Handwerkskunst und Tradition? Wäre das eine gute Nachricht?

Nein, ich glaube nicht.

Das Gedächtnis (und das Vergessen) darf auf der Seite der Menschen bleiben, jedenfalls im Bereich der Literatur, der Lyrik, der Sprache.

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Tadeusz Dąbrowski: „Wenn die Welt schläft“

Zertrümmerte Tastatur der Stadt

Es ist meine erste Begegnung mit dem polnischen Lyriker Tadeusz Dąbrowski (* 1979 in Elbląg), ermöglicht durch die Übersetzerin Renate Schmidgall.
Sie hat Gedichte der beiden letzten Lyrikbände Ausdrucksmitte(l) von 2016, Scrabble von 2020 und neuere, unveröffentlichte Gedichte zu einem Band zusammengefasst.

Die Gedichte lesen sich in der deutschen Fassung leicht und selbstverständlich, sie scheinen auf den ersten Blick keine allzu großen Geheimnisse zu bergen, sie erzählen aus dem Leben, sie erzählen vom Leben, wie es ist, aus der Perspektive eines lyrischen Ich-Erzählers, der nahe am Autor verortet ist. Sie erzählen von Reisen und Lesestationen eines Schreibenden, der seinem Beruf in verschiedenen Städten nachgeht, dabei immer im Gepäck die Entfremdung und die Sehnsucht.

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Volker Braun: „Luf-Passion“

Eremiteninseln | Hermite Islands

I

Mit Luf-Passion hat Volker Braun (* 1939) eine Textcollage vorgelegt, die vom Verlag als Gedichtzyklus beworben und von den meisten Rezensent*innen so verstanden wird.

Interessanterweise fehlt diese Kategorisierung im Buch, neutraler wird von einem Text gesprochen. Die Widmung sollte stutzig machen. Der Text ist für den Trommler (hier scheint mir das deutsche Wort für den Drummer und Percussionisten zu kurz greifend) Günther Baby Sommer.

Sommer (* 1943) ist eine Größe in der europäischen und internationalen Jazzszene und hat schon mehrfach mit Autor*innen zusammengearbeitet, um Texte musikalisch zu hinterlegen und in Performances zur Aufführung zu bringen.

Von vornherein strebt Braun eine Zusammenarbeit mit dem Musiker an, mit dem Ziel, den Text auf die Bühne zu bringen. Insofern ist die Bezeichnung dramatisches Gedicht treffender. Aber ich gehe soweit zu sagen, dass die Textcollage ebenso als Libretto verstanden werden kann.

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Jean-Philippe Toussaint: „Das Verschwinden der Landschaft“

Never forget:
My Atlegrim, Aline Bastin, Yves Cibuabua-Ciyombo, Mélanie Defize, Oliver Delespesse, David Dixon, Sabrina Esmael Fazal, Raghavendran Ganesan, Léopold Hecht, Loubna Lafquiri, Gilles Laurent, Marie Lecaille, Janina Panasewicz, Patricio Rizzo, Johan Van Steen, Lauriane Visart
22-03-2016

Die Geschichte, die Jean-Philippe Toussaint (* 1957 in Brüssel) in Das Verschwinden der Landschaft erzählt (deutsche Übersetzung: Joachim Unseld), ist kurz und der Inhalt in wenigen Sätzen wiedergegeben.

Ein Mann sitzt unbeweglich im Rollstuhl in einem Haus mit Meeresblick. Durch eine Baumaßnahme wird die Sicht verbaut, die Landschaft verschwindet und dem Mann geht die Kraft aus, sich an die Ereignisse zu erinnern, die ihn in diese ausweglose Situation geführt haben.

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Adolf Endler: „Das Sandkorn“

Titelschutz

Kurz vor der Druckfreigabe meines neuen Gedichtbands Sandkorn stellte ich überrascht und erschrocken fest, dass es bereits einen Gedichtband gibt, oder mit der Kurzfristigkeit des Buchmarktes gesprochen: gab, der nahezu einen identischen Titel trägt.

Das Sandkorn von Adolf Endler (1930–2009) erschien 1974 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale).

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Bachtyar Ali: „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“

Nachtwind

Oh, der Nachtwind weht sanft, warm und leise
über die Wälder, die Städte und Dörfer
Rio Reiser: Bei Nacht

1995 hatte ich einen Traum über meinen plötzlich und viel zu früh verstorbenen Vater. Ich notierte mir auf:

»Vater ist ein toter Körper, geschrumpft zu einem annähernd ebenen, ledrigen Stück Pergament. Der verschrumpelte Körper ist nur noch an wenigen Stellen dreidimensional, ansonsten ein toter Lappen. Er ist leicht zu tragen.«

Es berührt mich sehr und spendet mir Trost, den ich nach so langer Zeit immer noch vertragen kann, dass er im übertragenen Sinn mit dem Protagonisten Djamschid Khan des Romans Mein Onkel, den der Wind mitnahm von Bachtyar Ali (* 1966 in Sulaimaniya, Nordirak) eine furiose Auferstehung als literarische Figur, die im Herbstwind hoch über mir flattert, erlebt und ich diesen gekonnten Flug bezeugen darf.

Die Originalausgabe der Romans ist in Sorani (Zentralkurdisch) geschrieben und erschien bereits 2010. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Ute Cantera-Lang (* 1974 in Erlangen) und Rawezh Salim (* 1973 im Irak), einem Übersetzer-Duo, das sich dem Werk Alis angenommen hat (mit Ausnahme des hier ausführlich gewürdigten Romans Die Stadt der weißen Musiker) und das uns mit Sherzad Hassans Roman Die Nacht, in der Jesus herabstieg in den kommenden Wochen das Werk eines weiteren kurdischen Autors präsentieren wird.
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Adalber Salas Hernández: „Auf dem Kopf durch die Nacht“

Den Toten mit Grippe

La eternidad no es un pañuelo, ¿sabes?

 

Freunde, wie stelle ich es mir vor: Caracas auf einem Taschentuch, / in dem die Barrios das Muster bilden auf der blanken, geglätteten Baumwolle / und Rotze schnell wachsende Krebsgeschwüre sind, die wuchern, / den alten Kern auffressen mit der Gewalt einer ewigen Krankheit, / die wir nicht aussprechen können, weil unsere Münder zerschossen und verfault?

Freunde, wie übersetzen wir Worte, spiegeln deren Sinn, wiewohl wir (noch) / der Grammatik des sozialen Friedens frönen? Unsere Schreibtische stehen auf vier / Beinen und tragen die Last unserer Ellbogen, deren Rauheit die Joppen / zurückliegender, glücklicher Tage längst durchgescheuert. Ach, eure ewige / Husterei! Euer nie endend wollender Schleim, der eure Nasen gefangen hält!

Diese Zeilen reagieren auf das Gedicht VII (Planto por la muerte de Maese Don Domingo).

Es ist mein hilfloser Versuch, die Distanz zwischen Caracas und Europa zu verkürzen, die Riesenlücke zwischen einem collapsed state und noch funktionierenden Demokratien zu schließen. Kann ich nun, nach ein paar hingeworfenen Zeilen, beginnen, eine Rezension des Buches zu schreiben? Wie verhandeln wir Lyrik angesichts der Toten, die uns den Spiegel vorhalten?

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