Uroš Prah: „Erdfall“

Bernsteinstämme

Der slowenische Dichter Uroš Prah (* 1988 in Trate) seziert unseren Planeten als urqueeren Unort, während die Mehrheitsgesellschaft ihn als unqueeren Urort (der der Ausbeutung dient) versteht. Ein kleiner Buchstabendreher, der uns den Zugang zu Nischen erlaubt, jene der Lyrik, jene der „displaced persons“, derjenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, keine Heimat finden oder sie verloren haben.

Kontinente sind Körper. Ihre Drift ist Körperlichkeit, Begehren, Sex.

Wo sich der Subkontinent
in den Kontinent bohrt
vom schroffen Gestein
ein Körperknöpfchen
ein weicher Tropfen fällt.

Im Lyrikband Erdfall findet sich eine Auswahl aus den drei bisherigen Gedichtsveröffentlichungen Prahs in slowenischer Sprache (Čezse polzeči, 2012, Tišima, 2015 und Udor, 2019). Die Übersetzungsarbeit leistete Daniela Kocmut im engen Austausch mit dem Poeten, der an der slowenisch-österreichischen Grenze aufgewachsen ist und Deutsch nicht als Fremdsprache versteht.

Im Gespräch mit Tino Schlench bezeichnet Prah Deutsch als Zwischenraum. Räume zu schaffen, Räume zu entdecken, es ist das, was den Slowenen anzieht, was ihn zu Erkundungen aufbrechen lässt.

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Emma Adbåge: „Unsere Grube“

Die Erwachsenen stehen miesepetrig oben am Rand.

Der schönste Satz des Gewinners des Deutschen Jugendliteraturpreises 2022 in der Kategorie Bilderbuch.

Das von der schwedischen Autorin und Illustratorin Emma Adbåge (*1982 in Linköping) gestaltete Buch (ins Deutsche von Friederike Buchinger) erzählt aus Sicht der Kinder über ihren Lieblingsspielplatz, unsere Grube, wo die Spiele nicht vorgegeben sind durch die Erwachsenen mit ihren verkopften Vorstellungen über Regeln und Unfallvermeidung, sondern sich deren Kontrolle entziehen und freien Lauf nehmen. Die Spiele heißen

Bärenmama, Hütte, Verstecken, Kiosk …

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Tadeusz Dąbrowski: „Wenn die Welt schläft“

Zertrümmerte Tastatur der Stadt

Es ist meine erste Begegnung mit dem polnischen Lyriker Tadeusz Dąbrowski (* 1979 in Elbląg), ermöglicht durch die Übersetzerin Renate Schmidgall.
Sie hat Gedichte der beiden letzten Lyrikbände Ausdrucksmitte(l) von 2016, Scrabble von 2020 und neuere, unveröffentlichte Gedichte zu einem Band zusammengefasst.

Die Gedichte lesen sich in der deutschen Fassung leicht und selbstverständlich, sie scheinen auf den ersten Blick keine allzu großen Geheimnisse zu bergen, sie erzählen aus dem Leben, sie erzählen vom Leben, wie es ist, aus der Perspektive eines lyrischen Ich-Erzählers, der nahe am Autor verortet ist. Sie erzählen von Reisen und Lesestationen eines Schreibenden, der seinem Beruf in verschiedenen Städten nachgeht, dabei immer im Gepäck die Entfremdung und die Sehnsucht.

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Verónica Gerber Bicecci: „Leere Menge“

Und wo sind die Scherben?
Über die Umdeutung einer gemeinsamen Schnittmenge.

Die vom deutschen Mathematiker Georg Cantor (1845-1918) begründete Mengenlehre schaffte es in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts als Schulstoff in meine Grundschule, die im Volksmund gemeinhin Volksschule genannt wurde (ein Ausdruck, der weit in die deutsche Geschichte reicht und nach Schnittmenge, Differenz und Komplement verschiedener Systeme fragt: Kaiserreich, Weimarer Republik, das Dritte Reich, das getrennte Deutschland).

Ich erinnere mich noch an den Aufschrei meiner Mutter, die sich mit anderen zusammentat, um gegen diesen unverständlichen Unterrichtsstoff zu protestieren. Muss ich erwähnen, dass dies im Westen des Landes geschah?
Muss ich mutmaßen, dass sie die Klappe gehalten hätte, wäre sie im Osten des Landes geblieben?

Ach Mama, jetzt bist du fast ein Jahr tot und ich lese und bespreche ein Buch, das die Mengenleere auf Gefühlslagen anwendet. Du fragst nach?

Leere Menge ist von der mexikanischen Künstlerin und Schriftstellerin Verónica Gerber Bicecci (* 1981 in Mexiko) geschrieben und mit Zeichnungen (Diagrammen) versehen. Die Übersetzung aus dem mexikanischen Spanisch stammt von Birgit Weilguny (* 1980).

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Schirin Nowrousian: „Wilna-Worte | Vilniaus žodžiai“

Katzen rennen hinter jedem Wort her

Ich bin mir sicher, die Antipathie besteht beiderseits. Wie diese Katze, sicher ein leicht fett gewordener, kastrierter Kater mich ansieht: misstrauisch, frustriert, mürrisch.

Ich gebe zu, ich bin kein besonderer Freund des Katzentiers, auch kein Käufer von Katzenkalendern, wiewohl es ein offenes Branchengeheimnis ist, das damit Lyrikpublikationen querfinanziert werden können. Aber dort sind ohnehin nur diese jungen Dinger drin! Der Wächter des mehrsprachigen Lyrikbands Wilna-Worte | Vilniaus žodžiai von Schirin Nowrousian (* 1975 in Bochum) (ins Litauische von Vertė Austėja Merkevičiūtė) bleibt regelmäßig bei den Shootings für den Kalender unberücksichtigt, vielleicht ist er ein ehemaliger König der Gosse.

Jedenfalls hat er mir über Tage den Zugang zu den Gedichten verwehrt. Ich schlich mich schließlich in einem Moment seiner Unachtsamkeit von hinten in den Band. Und siehe: Es funktioniert.

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Volker Braun: „Luf-Passion“

Eremiteninseln | Hermite Islands

I

Mit Luf-Passion hat Volker Braun (* 1939) eine Textcollage vorgelegt, die vom Verlag als Gedichtzyklus beworben und von den meisten Rezensent*innen so verstanden wird.

Interessanterweise fehlt diese Kategorisierung im Buch, neutraler wird von einem Text gesprochen. Die Widmung sollte stutzig machen. Der Text ist für den Trommler (hier scheint mir das deutsche Wort für den Drummer und Percussionisten zu kurz greifend) Günther Baby Sommer.

Sommer (* 1943) ist eine Größe in der europäischen und internationalen Jazzszene und hat schon mehrfach mit Autor*innen zusammengearbeitet, um Texte musikalisch zu hinterlegen und in Performances zur Aufführung zu bringen.

Von vornherein strebt Braun eine Zusammenarbeit mit dem Musiker an, mit dem Ziel, den Text auf die Bühne zu bringen. Insofern ist die Bezeichnung dramatisches Gedicht treffender. Aber ich gehe soweit zu sagen, dass die Textcollage ebenso als Libretto verstanden werden kann.

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Bachtyar Ali: „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“

Nachtwind

Oh, der Nachtwind weht sanft, warm und leise
über die Wälder, die Städte und Dörfer
Rio Reiser: Bei Nacht

1995 hatte ich einen Traum über meinen plötzlich und viel zu früh verstorbenen Vater. Ich notierte mir auf:

»Vater ist ein toter Körper, geschrumpft zu einem annähernd ebenen, ledrigen Stück Pergament. Der verschrumpelte Körper ist nur noch an wenigen Stellen dreidimensional, ansonsten ein toter Lappen. Er ist leicht zu tragen.«

Es berührt mich sehr und spendet mir Trost, den ich nach so langer Zeit immer noch vertragen kann, dass er im übertragenen Sinn mit dem Protagonisten Djamschid Khan des Romans Mein Onkel, den der Wind mitnahm von Bachtyar Ali (* 1966 in Sulaimaniya, Nordirak) eine furiose Auferstehung als literarische Figur, die im Herbstwind hoch über mir flattert, erlebt und ich diesen gekonnten Flug bezeugen darf.

Die Originalausgabe der Romans ist in Sorani (Zentralkurdisch) geschrieben und erschien bereits 2010. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Ute Cantera-Lang (* 1974 in Erlangen) und Rawezh Salim (* 1973 im Irak), einem Übersetzer-Duo, das sich dem Werk Alis angenommen hat (mit Ausnahme des hier ausführlich gewürdigten Romans Die Stadt der weißen Musiker) und das uns mit Sherzad Hassans Roman Die Nacht, in der Jesus herabstieg in den kommenden Wochen das Werk eines weiteren kurdischen Autors präsentieren wird.
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Adalber Salas Hernández: „Auf dem Kopf durch die Nacht“

Den Toten mit Grippe

La eternidad no es un pañuelo, ¿sabes?

 

Freunde, wie stelle ich es mir vor: Caracas auf einem Taschentuch, / in dem die Barrios das Muster bilden auf der blanken, geglätteten Baumwolle / und Rotze schnell wachsende Krebsgeschwüre sind, die wuchern, / den alten Kern auffressen mit der Gewalt einer ewigen Krankheit, / die wir nicht aussprechen können, weil unsere Münder zerschossen und verfault?

Freunde, wie übersetzen wir Worte, spiegeln deren Sinn, wiewohl wir (noch) / der Grammatik des sozialen Friedens frönen? Unsere Schreibtische stehen auf vier / Beinen und tragen die Last unserer Ellbogen, deren Rauheit die Joppen / zurückliegender, glücklicher Tage längst durchgescheuert. Ach, eure ewige / Husterei! Euer nie endend wollender Schleim, der eure Nasen gefangen hält!

Diese Zeilen reagieren auf das Gedicht VII (Planto por la muerte de Maese Don Domingo).

Es ist mein hilfloser Versuch, die Distanz zwischen Caracas und Europa zu verkürzen, die Riesenlücke zwischen einem collapsed state und noch funktionierenden Demokratien zu schließen. Kann ich nun, nach ein paar hingeworfenen Zeilen, beginnen, eine Rezension des Buches zu schreiben? Wie verhandeln wir Lyrik angesichts der Toten, die uns den Spiegel vorhalten?

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Elif Shafak: „Unerhörte Stimmen“

10 Minuten 38 Sekunden in dieser sonderbaren Welt

Elif Shafaks Roman, 2019 erschienen, übersetzt aus dem Englischen von Michaela Grabinger, ist das Werk einer Meisterin.

Wie sie den Tod und das Leben ihrer Protagonistin erzählt (und das Weiterleben ihrer fünf Freund*innen), erinnert mich an zwei Bücher, die auf meiner ewigen Bestenlisten sehr weit oben stehen:

Die drei Tode des Jochen Wasserbrüller von Jorge Amado und
Das Ministerium des äußersten Glücks von Arundhati Roy.

Bei Amado das Motiv des doppelten Todes: der des ehrhaften Mannes im Kreise seiner Familie mit einer feierlichen und würdigen Bestattung, der des Lebemanns und Säufers im Milieu der Prostituierten, Spieler und Zechkumpanen. Seine Freunde nehmen den Leichnam mit zu einer letzten, chaotischen Feier, eine Segeltörn, wenn ich recht erinnere, die tödlich, wie sonst?, endet.

Bei Roy das Motiv der Trans*Menschen, die ihre Identität nicht in einem binären System finden können und ihre Existenz auf einem Friedhof, am Rand der Gesellschaft fristen.

Roys Widmung Für die Ungetrösteten könnte auch bei Shafak stehen.
Sie aber hat sich für folgende Widmung entschieden:

Für die Frauen Istanbuls
und für die Stadt Istanbul,
die eine weibliche Stadt ist
und immer war

Der Originaltitel 10 Minutes 38 Seconds in this Strange World wurde für die deutsche Ausgabe leider nicht beibehalten.

Es wäre im Zusammenhang mit der Geschichte Tequila Leilas, der ermorderten Prostituierten, die bereits im Alter von sechs Jahren von ihrem Onkel sexuell belästigt und missbraucht wurde, eine Gelegenheit gewesen, über die Nuancen der Bedeutung für strange nachzudenken und eine der folgenden Übersetzungsmöglichkeiten zu wählen:

eigenartig, merkwürdig, seltsam,  kurios, befremdlich.

Ich habe mich, wegen der Nähe zu wunderbar, für sonderbar entschieden. Denn trotz allen Leids, sind die Unerhörten Stimmen ein Chor, der das Leben feiert.

Dato Turaschwili: „Das andere Amsterdam“

Abschweifungen

Mit Das andere Amsterdam liegt der zuletzt erschienene Roman des georgischen Schriftstellers Dato (David) Turaschwili (* 1966) in deutscher Übersetzung von Katja Wolters vor.

Das Original სხვა ამსტერდამი (transkribiert: skhva amst’erdami) erschien 2014, dem Jahr des Todes von Amiran (Pako) Swimonischwili, von dem Turaschwili schreibt:

An dem Tag, als man in Tiflis Pako Svimonishvili beerdigte, ging ich in Amsterdam das Hotel suchen, in dem David Jaschwili (Jaschka) gestorben ist.

Ich kann der Spur Turaschwilis nicht folgen, seiner Suche, die letzten Endes eine Suche nach den Gründen seiner Reise in die Niederlande ist:

Warum ich überhaupt nach Amsterdam gekommen war, darüber dachte ich auch den ganzen Tag nach und erwog sogar, daß ich mir alles nur ausgedacht hätte: das Amsterdamer Abenteuer meines Großvaters, die auf der holländischen Insel lebende Georgierin, die mir E-Mails schreibt.

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Margaret Atwood: „Der Report der Magd“

Welcome to Gilead

Als in Polen vor wenigen Tagen die Proteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechtes begannen, sah ich in den Nachrichten, wie eine Demonstratin ein Schild mit den Worten Welcome to Gilead hochhielt.

Wer nicht versteht, was diese Begrüßungsformel meint, dem sei Margaret Atwoods Roman Der Report der Magd (deutsch von Helga Pfetsch) zur Lektüre oder zur erneuten Lektüre dringend anempfohlen.

Diese Zukunftsvision aus dem Jahr 1985 (deutsche Ausgabe: 1987) greift auf, das hat Atwood in einem Interview für den virtuellen Gastlandauftritt Kanadas zur Frankfurter Buchmesse 2020 deutlich gemacht, was in der Gesellschaft schon vorhanden ist. Insofern sind Atwoods Texte keine Anti-Utopien oder Dystopien, sondern eine erweitere Beschreibung der Gegenwart.

Über Gilead lässt die Autorin am Ende des Romans einen Universitätsprofessor bei der Internationalen Tagung der Vereinigung der Historiker am 25. Juni 2195 rückblickend sagen:

Wie ich schon an anderer Stelle sagte, gab es nur wenig, was seinem Ursprung oder seiner Herkunft nach mit Gilead verbunden war: Gileads Begabung war die Synthese.

[…] und das Regime von Gilead war nicht das einzige, das damals darauf [Rückgang der Geburtenrate] reagierte. Rumänien, zum Beispiel, war Gilead bereits in den achtziger Jahren zuvorgekommen, in dem es alle Formen der Geburtenkontrolle verbot.

Polens Verbot von Abtreibung bei diagnostizierter Fehlbildung des Fötus galt (gilt! – diese Stück Literatur ist zeitlos gültig) auch in Atwoods totalitärem Staat Gilead.

Marzanna Kielar: „Lass uns die Nacht“

Schwarz dringt immer tiefer, lautlos, zärtlich

In ihrem Nachwort zu Lass uns die Nacht schreibt die Übersetzerin Renate Schmidgall über die polnische Lyrikerin Marzanna Kielar:

[Sie] wurde 1963 in Gołdap/Masuren geboren und gehört zur ersten Dichtergeneration, die sich vom Diktat der gesellschaftlichen Relevanz freimachen konnte. […] Die polnische Kritik hebt hervor, wie sehr sich ihre Gedichte von denen der anderen Autoren unterscheiden, die in den achtziger und neunziger Jahren debütierten – und diese Andersartigkeit und Eigenständigkeit wird bis heute betont.

Man könnte diese Zeilen so lesen: Naturlyrik steht im Verdacht, irrelevant zu sein. Das meint die Übersetzerin nicht und doch ist die öffentliche (Nicht-)Wahrnehmung einer Lyrik, die sich den Vorgängen in der Natur, also außerhalb der urbanen Räume, widmet, geprägt von Desinteresse und Unkenntnis. Naturlyrik, so darf eine Literaturkritikerin im öffentlich-rechtlichen Fernsehen (Thea Dorn, Das Literarische Quartett, ZDF, 09.10.20) sagen, im konkreten Fall über die Naturlyrik der US-amerikanischen Nobelpreisträgerin Louise Glück, sei

keine Literatur, die engagiert ist.

Dass diese Aussage, auch wenn aus dem Zusammenhang genommen, falsch und dumm ist, belegt Ulrike Draesner, Glücks Übersetzerin (Kulturzeit, 3sat, 08.10.20). Die Amerikanerin sei

eine eigene, originäre lyrische Stimme. […] Ich glaube, dass man hier etwas sieht, was einfach im heutigen Diskurs relevant geworden ist und was in dieser Lyrik lange Zeit schon davor da war […]

Draesner weiß die politische Dimension dieser Lyrik einzuordnen und wer Glücks Schneeglöckchen aus ihrem Mund gehört hat, kann körperlich wahrnehmen, was es heißt, Gedichte aus einer weiblichen Perspektive zu schreiben und solche zu hören.

Hat zeitgenössische Naturlyrik keinen Platz in einer Welt, die der Mensch des 20. und 21. Jahrhunderts durch sein Handeln zerstört? Wie lange glauben wir, uns solche Ignoranz noch leisten zu können? Wann hören wir auf die Fachleute? Warum erlauben wir den Schwätzern, den Diskurs zu bestimmen?

Abseits der Städte mit seinen (Über-)Angeboten für die moderne, hedonistische Gesellschaft ist der Zugang zum Tod als Teil des Lebenszyklus‘ nicht kaschiert, versteckt, verleugnet, sondern unmittelbar.

Schon im ersten Gedicht Marzanna Kielars aus ihrem 1992 veröffentlichten Band Sacra conversazione wird dies deutlich.

die sanften Hügel stehen in prächtigem Licht,
in den Gräsern, unten, bettet sich der Tod
(aus: noch vor einer Stunde …)

Der Tod wird uns durch Kielars vier Gedichtbände Sacra conversazione (1992), Materia prima (1999), Monodonie (2006) und Navigationen (2018) begleiten.

In Materia prima fragt das lyrische Ich

wie wirst du sterben, da du so an dir hängst, mit der Sonne
zwischen den Kiefernnadeln, du heller Tag?
(aus: wie wirst du sterben …)

Auf die Frage kommt unvermittelt eine Antwort

als du plötzlich sagtest: „Ich möchte vor dir
sterben.“

In deinem Haus auf dem Land, gestern, sah ich, wie du einschliefst
beim Lesen – wie eine abfließende Welle
säumte der Schlaf das Ruder deines Körpers.

Ich nahm dir das Buch aus der Hand, löschte das Licht.
Eine Rippe der Nacht
leuchtete in den Zweigen
(aus: Telefongespräch)

Die Beziehung zwischen lyrischem Ich und lyrischem Du verliert die Leichtigkeit, das Alter macht sich bemerkbar, die Gewissheit, dass die Kraft des Menschen nicht unerschöpflich ist, im Gegensatz zu den Naturgewalten, die die Landschaft prägten und prägen.

Im Schnee öffnen sich Adern, voll von erstarrtem Gras, Sand,
quellendem Lehm –

Krähen trinken daraus
(aus: Tauwetter)

Das Schwarz dringt tiefer ein ins Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit. Und doch ist Platz, der Absurdität des Lebens und Sterbens hoffnungsvoll entgegenzutreten.

[…] und der Tod möge sein
wie der Schnee, der die Erde schützt
vor dem völligen Erfrieren
(aus: Stränge von Reif im Graben …)

In Monodie ist diese Hoffnung verloren gegangen.

Der Tod hat sein Lager in dir eingerichtet.
Hat seine verschimmelten Lappen, steifen Bandagen angeschleppt;
jetzt fletscht er die Zähne und steckt das Terrain ab.

Die Brutstätte bist du seiner schwarzen Vögel,
der Laichplatz seiner Fische.

Wie fette Erde vierteilt er dich mit seinen Wurzeln,
durch enge Gefäße wandert er in dir wie Wasser in der Pflanze.

Sein lehmiges Tal bist du.
Verlängerung seines Seins: Es schmilzt in dir wie ein Brocken Toteis
unter der Kiesdecke und fließt dann in deiner Brust, gegabeltes Delta.
Er verschüttet, verschlammt dich, als wärst du ein Altarm: verlassenes Flussbett.
(aus: Der Tod hat sein Lager …)

Zunehmend nutzt Kielar ein Vokabular, das sie aus der masurischen Landschaft zieht, die von der letzten Eiszeit geformt wurde. Das hat für mich einen großen Reiz. Das Arbeiten mit Fachvokabular (hier: der Glazialen Serie) eröffnet neue Räume, ermöglicht Worte in anderen Kontexten zu erschließen. Ich habe nachgeschlagen, was Ogiven sind, wollte es genau wissen, dabei lassen Kielars Sätze im konkreten und im poetischen Sinn nichts an Deutlichkeit vermissen.

Wie Gletscher-Ogiven legen sich wieder die Nächte:
abwechselnd Schichten aus dunklem Eis

und Streifen von hellem, entstanden aus feinen Körnern einstiger Berührungen, Liebkosungen,
aus dem Flaum der Worte in der Dunkelheit;

Schneedünen wandern (Träume), Ogivenfalten.
(Wie Gletscher-Ogiven)

In Navigationen findet sich der Beleg für Kielars Arbeitsweise.

Wanderndes Eis errichtete hier am Ende des Pleistozäns
Moränenhügel, die das Haus von Süden und Westen abschirmen.
Es kerbte die Rinne eines Sees, in der Licht brennt.

Die hohe Mauer an der Südterrasse hält gut.
Du hast sie aus Findlingen gebaut, angeschleppt vom Eisschild.
Hast die Steine zerschlagen, die ungleichen Formen behauen, mit Zement verfugt.

Ich sammle abgesplitterte Teile: gesprenkelte Diorite, Granite –
rosa und grau,
Porphyre, Syenite, gestreifte Gneise mit Schuppen von Mineralien.
Unser geologisches
Erbe. Auf einem Bogen Pappe erstellte ich in Geographie eine Tafel.

Damals, als Zehnjährige, begann ich Gedichte zu lesen,
Lyrikbändchen zu sammeln.
Sie trugen ein anderes Material. Die Worte bearbeiteten die
Materie des Lebens, stumpften sie ab
oder schärften

die Ecken des Todes.
(aus: Steine und Gedichte)

Dass Landschaft ein Gedächtnis besitzt und also Geschichte bezeugen kann, wird leicht übersehen. Wie wenig es braucht, die politische Dimension von Naturlyrik herauszuarbeiten, zeigt Kilar meisterlich.

Ach, dies damals zu sehen! 1926, der letzte Tag im Mai,
da unten zwei Gletscherseen – der kleine und der große Tobellus –
zwischen Staatshausen (Stanczyki) und Blindgallen (Blakaly).
Als hier noch die Preußen waren, als die Puszcza Romincka
Rominter Heide hieß.

Spüren wie das Gewitter heraufzieht. Sehen wie es mächtig
Hagel ins tintenfarbene Wasser schlägt, bei den hohen Brücken,
ü ber die
Züge mit Pilzsammlern und Anglern fahren; noch transportierten
sie keine Steine für den Bau der Wolfsschanze.

Schauen wie nach einem Blitze jäh Methan und Sauerstoff
explodieren,
wie das Wasser hochschießt und aus seiner Tiefe
riesige Massen von Erde, Torf und Schlamm wirft.

Wie das Gewitter den Toteiskessel, schwarz, rund wie ein Vulkankrater,
auf die andere Seite dreht.

Schauen wie es abzieht, wie über die Hügel Fichten herabkommen
zum eisigen, gestirnten Wasser –
jetzt ist dort eine schäbige Badeanstalt, ein Zeltplatz
und das feuchte Ufer
(Tobellus)