10 Minuten 38 Sekunden in dieser sonderbaren Welt
Elif Shafaks Roman, 2019 erschienen, übersetzt aus dem Englischen von Michaela Grabinger, ist das Werk einer Meisterin.
Wie sie den Tod und das Leben ihrer Protagonistin erzählt (und das Weiterleben ihrer fünf Freund*innen), erinnert mich an zwei Bücher, die auf meiner ewigen Bestenlisten sehr weit oben stehen:
Die drei Tode des Jochen Wasserbrüller von Jorge Amado und
Das Ministerium des äußersten Glücks von Arundhati Roy.
Bei Amado das Motiv des doppelten Todes: der des ehrhaften Mannes im Kreise seiner Familie mit einer feierlichen und würdigen Bestattung, der des Lebemanns und Säufers im Milieu der Prostituierten, Spieler und Zechkumpanen. Seine Freunde nehmen den Leichnam mit zu einer letzten, chaotischen Feier, eine Segeltörn, wenn ich recht erinnere, die tödlich, wie sonst?, endet.
Bei Roy das Motiv der Trans*Menschen, die ihre Identität nicht in einem binären System finden können und ihre Existenz auf einem Friedhof, am Rand der Gesellschaft fristen.
Roys Widmung Für die Ungetrösteten könnte auch bei Shafak stehen.
Sie aber hat sich für folgende Widmung entschieden:
Für die Frauen Istanbuls
und für die Stadt Istanbul,
die eine weibliche Stadt ist
und immer war
Der Originaltitel 10 Minutes 38 Seconds in this Strange World wurde für die deutsche Ausgabe leider nicht beibehalten.
Es wäre im Zusammenhang mit der Geschichte Tequila Leilas, der ermorderten Prostituierten, die bereits im Alter von sechs Jahren von ihrem Onkel sexuell belästigt und missbraucht wurde, eine Gelegenheit gewesen, über die Nuancen der Bedeutung für strange nachzudenken und eine der folgenden Übersetzungsmöglichkeiten zu wählen:
eigenartig, merkwürdig, seltsam, kurios, befremdlich.
Ich habe mich, wegen der Nähe zu wunderbar, für sonderbar entschieden. Denn trotz allen Leids, sind die Unerhörten Stimmen ein Chor, der das Leben feiert.