Agnès de Lestrade | Valeria Docampo: „Die große Wörterfabrik“

Drei Worte auf einmal

so lautet der Titel eines überaus erfolgreichen Romans meiner Kollegin Maria Knissel. Ich erinnere mich, wie sie damals den Text in der Darmstädter Textwerkstatt II von Martina Weber vorstellte, noch mit einem Arbeitstitel versehen, den ich nicht überzeugend fand. Von ihrem Text ausgehend schlug ich Drei Worte auf einmal vor.

Es geht, kurz gesagt, um geschwisterliche Liebe zwischen dem Protagonisten und seinem nach einem Verkehrsunfall schwerbehinderten älteren Bruder, der kaum noch Worte vorbringen kann. An einem guten Tag schafft er es, Drei-Wort-Sätze zu bilden.

Maria widersprach zunächst meinem Vorschlag mit dem Argument, Drei Worte auf einmal erinnere sie immer an den Satz: Ich liebe dich! Ich konnte sie von der Richtigkeit des Titels überzeugen: Ja, aber darum geht es doch! Ganz gleich, was der ältere Bruder an den guten Tagen dem Jüngeren  mit drei Worten sagt: Es geht um die Liebe!

Was hat das nun mit Die große Wörterfabrik von Agnès de Lestarde (Text) (Übersetzung ins Deutsche: Anna Taube), Valeria Docampo (Illustration) zu tun?

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Emma Adbåge: „Unsere Grube“

Die Erwachsenen stehen miesepetrig oben am Rand.

Der schönste Satz des Gewinners des Deutschen Jugendliteraturpreises 2022 in der Kategorie Bilderbuch.

Das von der schwedischen Autorin und Illustratorin Emma Adbåge (*1982 in Linköping) gestaltete Buch (ins Deutsche von Friederike Buchinger) erzählt aus Sicht der Kinder über ihren Lieblingsspielplatz, unsere Grube, wo die Spiele nicht vorgegeben sind durch die Erwachsenen mit ihren verkopften Vorstellungen über Regeln und Unfallvermeidung, sondern sich deren Kontrolle entziehen und freien Lauf nehmen. Die Spiele heißen

Bärenmama, Hütte, Verstecken, Kiosk …

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Anja Tuckermann, Mehrdad Zaeri & Uli Krappen: „Nusret und die Kuh“

Fortgehen und Heimkehren

Nusret lebt bei seinen Großeltern in einem Dorf im Kosovo. Die Eltern wohnen mit den Nusrets Geschwistern in Deutschland. Die Entfernung zwischen der alten und der neuen Heimat der Familie ist groß, Briefe verkürzen sie. Doch die Großeltern können nicht lesen und Nusret ist noch nicht in der Schule, also hilft der freundliche Briefträger aus.

Anja Tuckermann erzählt in Nusret und die Kuh eine Geschichte über Heimat, Exil, Sehnsucht und über die Wichtigkeit, Lesen und Schreiben zu erlernen. Die Kuh tut es Nusret gleich, auch sie lernt das Alphabet. Als Nusret nach einem Besuch im Kosovo zurück nach Deutschland fährt, die Kuh aber bei den Großeltern bleibt, liest fortan die Kuh die Briefe aus Deutschland vor.

Das Buch ist von  Mehrdad Zaeri und Uli Krappen lebhaft, wild, phantasie- und liebevoll illustriert.

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Beate Laudenberg, José F. A. Oliver, Ulrike Wörner (Hg.): „kinderleicht & lesejung. Poetik-Dozentur für Kinder- und Jugendliteratur“

Blick für eine Zukunft

Die vorliegende Publikation, die die Vorlesungen der Poetik-Dozentur für Kinder- und Jugendliteratur des Hausacher LeseLenzes und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe von 2014 bis 2019 versammelt, ist eine Pflichtlektüre für alle, die sich über den Stand der Kinder- und Jugendliteratur im deutschsprachigen Raum (und darüber hinaus) informieren und sich inspirieren lassen wollen.

Was zeichnet gute Kinder- und Jugendliteratur aus? Wie gelingt sie? Welche Beschränkungen herrschen für Autorinnen und Autoren? Wie erreichen sie ihr Publikum?

Die fünf Dozent*innen Thorsten Nesch, Franco Supino, Nils Mohl, Kathrin Schrocke und Julia Willmann werfen Fragen auf und geben individuelle Antworten, bezogen auf ihr Schreiben. Dabei formulieren sie teilweise erstmals eine Poetik, ihre Lehre von der Dichtkunst, eine Disziplin, die mir größten Respekt abnötigt.

Dass ein Text klüger als seine Urheberin, sein Verfasser ist, das ist ein alter Hut, eine gern zitiertes Bonmot. Ich habe es mir mal mit Worten von Adam Zagajewski in mein Notizbuch eingetragen:

Ich muss sagen, dass ich keinen dummen Lyriker spielen möchte, aber ich verstehe meine Gedichte nicht ganz. Das ist das Süße und das Wunderbare an der Lyrik: dass wir nicht ganz verstehen, was wir herstellen.
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Ray Lavallee und Judith Silverthorne: „Die Würdigung des Bisons – Eine Legende der Plains Cree“

Vorschau Frankfurter Buchmesse 2020, Ehrengast: Kanada
Vom Rentier zum Bison – Die Überreichung der GastRolle anderer Art

Meinen Besuch bei der Frankfurter Buchmesse 2019 beschloss ich mit Traditional Sámi Joik and Joik Poetry, vorgetragen von Inga Ravna Eira, Biret Riste Sara und Karen Anne Buljo am Sonntagmittag im Ehrengast-Pavillon. Dabei wurde abermals, wie in den Tagen zuvor, über die große Bedeutung der Rentier-Herden für die Sámi gesprochen. Alle Körperteile des Rentiers sind den Sámi von Nutzen.

Das galt auch für ein anderes Säugetier, den Bison, der für den Kultur der Cree in Kanada von überragender Bedeutung war. Einst gab es viele Millionen Bisons, die die weiten Ebenen bevölkerten. (Heute gibt es etwa 20000 wildlebende Bisons.)

Daran erinnert das preisgekrönte Buch Die Würdigung des Bisons. Eine Legende der Plains Cree, das gerade im Verlag MONS in einer bilingualen Fassung erschienen ist. Dass hier die Sprache Plains Cree oder auch Dialekt Y gezeigt und in Beziehung zur deutschen Sprache gesetzt wird, allein das ist bedeutend im Internationalen Jahr der indigenen Sprachen 2019.

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Paula Ikuutaq Rumbolt | Lenny Lishchenko: „The Origin of Day and Night“

Vorschau Frankfurter Buchmesse 2020, Ehrengast: Kanada
Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen

The Origin of Day and Night von Paula Ikuutaq Rumbolt (Text) und Lenny Lishchenko (Illustration) ist ein Kinderbuch aus dem Jahr 2018. Es ist ihm zu wünschen, dass es nächstes Jahr, wenn Kanada Guest of Honour der Frankfurter Buchmesse 2020 sein wird, dem Publikum mit einer deutschsprachigen Ausgabe vorgestellt werden kann.

Der Verlag schreibt:
In very early times, there was no night or day, and words spoken by chance could become real. When a hare and a fox meet and express their longing for light and darkness, their words are powerful enough to change the world forever.
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Kurt Heyd: „Christophs Abenteuer in Australien“

Von Butzbach nach Bathurst

Kurt Heyd (* 1906 Darmstadt, † 1981 Darmstadt) veröffentlichte im Sommer 1935 das Kinder- und Jugendbuch „Christophs Abenteuer in Australien“ im Gustav Kiepenheuer Verlag. Dieses Buch, schon überaus erfolgreich im Dritten Reich, aber auch noch in der Nachkriegszeit, war sein literarisches Debüt. In diesem Abenteuerroman nahm er die Erinnerungen seines Großvaters auf, der, wie Heyd in der Vorrede sagt, in den Wintern der Kriegsjahre dem Enkel die Erlebnisse seiner Australien-Reise aus dem Jahr 1854 so lebhaft beschrieb, dass sie sich dem späteren Schriftsteller und Journalisten für immer einprägten.

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Joshua Doder: „Grk ist nicht zu fassen“

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Unversehens wachsen Kinder aus dem Vorlese- und Leselernalter heraus. Plötzlich lesen sie selbst und ehrlich gesagt: wir Eltern sind darüber heil froh. Wissen wir alle um die Bedeutung des Vorlesens, dieser Phase der Lesebegleitung, so begrüßen wir ebenso sehr diese Autonomie, auch wenn wir dann keine Ahnung mehr haben, was die Kinder lesen. Bestenfalls kennen wir die bunten Cover und die Ratschläge der Buchhändlerin, die Kinderbücher in lebhaften Worten zu empfehlen vermag. Welcher Erwachsene liest freiwillig ein Kinderbuch?

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Ramsingh Urveti: „I Saw a Peacock with a Fiery Tail“

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Was passiert, wenn man ein aus dem 17. Jahrhundert stammendes Gedicht anonymer Herkunft, das auf zweierlei Weise gelesen werden kann, zusammenbringt mit einem Künstler aus Zentralindien, 1970 geboren und einem Buchdesigner aus São Paulo stammend, heute in New York lebend?

Es entsteht prämierte Buchkunst vom Feinsten.

Das Gedicht I Saw a Peacock with a Fiery Tail ist fester Bestandteil von Anthologien zur Kinderpoesie in England, weist in seinen Lesarten des Verrückten, Absurden und des Geordneten, Normalen aber weit über Kinderreime hinaus.

Is the difference between fantasy and reality largely grammatical? Or are these inventions the very essence of poetry […]?

Wie Ramsingh Urveti und Jonathan Yamakami dieses Gedicht für Tara Books graphisch umsetzen und als Buch gestalten, ist sehr schön. Und diese Schönheit wirkt seit 2011, inzwischen in der 3. Auflage.

Einen Einblick gibt ein Video auf Youtube. Doch, Vorsicht! Dieses Buch in eigenen Händen zu halten, ist unvergleichlich. Und man muss gar nicht auf Buchmessen sein (wie gerade aktuell in Frankfurt) oder nach Chennai reisen, wo Tara Books zuhause ist, um Bücher aus dem Verlagsprogramm zu bekommen: Runge Verlagsauslieferung (Kontaktperson: Jutta Hartmann) in Steinhagen hilft gerne weiter.

Antje Herden: „Letzten Donnerstag habe ich die Welt gerettet“

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Die Welt zu retten, ist eine ziemlich aufregende Angelegenheit.

Kurt, Sandro und die Prinzessin beobachten merkwürdige Veränderungen. Um der Sache auf den Grund zu gehen, müssen sie in die Unterwelt absteigen, im Dunkel(deutsch)land von Kanalisation und Bunkeranlagen. Dort treffen sie auf Kröten, Ratten und Molche, die viel größer als normal sind und den Kindern bedrohlich nahekommen.

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Hermann Schulz: „Mandela & Nelson“

Hermann Schulz: Mandela & Nelson

Das Buch war eine Empfehlung der Buchhändlerin, einer rar gewordenen Spezies, die nicht nur Bücher verkauft, sondern auch den Inhalt in eigenen Worten wiedergeben kann. Bei dem Titel dachte ich sofort, dass die Handlung in Südafrika spielt, aber schnell begriff ich diesen Irrtum. Die Menschen von Bagamoyo stehen im Mittelpunkt dieses Buches.

Bagamoyo, nördlich der tansanischen Hafenstadt Dar-es-Salaam gelegen, war einmal, so lange ist das noch gar nicht her, die Hauptstadt von Deutsch-Ostafrika. Und der Ort, an dem die aus dem Landesinnern verschleppten Einheimischen als Sklaven verschifft wurden. Deutsche Kolonialpolitik, in Bagamoyo sind die Schatten dieser unheilvollen Zeit immer noch zu spüren. Gemeinsam mit meiner Frau habe ich 1998 diesen Ort auf unserer dreiwöchigen Tansania-Reise besucht. Die Reise dorthin war eine der aufregendsten meines Lebens, aber das ist eine andere Geschichte …

Ja, wie das Cover schon vermuten lässt, geht es in diesem Buch um Fußball. Aber es geht doch um so viel mehr. Der Autor lässt seinen Erzähler Nelson, Zwillingbruder von Mandela, unbekümmert über die harten Seiten des afrikanischen Alltags berichten, spart das dunkle Kapitel der Sklavenzeit nicht aus und blickt dennoch optimistisch auf jeden neuen Tag.

Als eine Jugendmannschaft aus Deutschland sich für ein Freundschaftsspiel ankündigt, muss Nelson plötzlich sehr viel organisieren, und das heißt: improvisieren. Die Gäste sollen einen guten Eindruck vom afrikanischen Fußball bekommen. Das wird, mit viel Lebensfreude und Witz, gelingen.

David Safier: „28 Tage lang“

David Safier: "28 Tage lang"

Wann werden meine Kinder dieses Buch lesen? Gibt es ein richtiges Alter für diese Geschichte, die uns in einem spannenden (Jugend-)Roman die Vernichtung des Warschauer Ghettos näher bringt, den Kampf ums nackte Überleben, den jüdischen Widerstand, der 28 Tage lang dem absoluten Zerstörungswillen der SS im Warschauer Ghettoaufstand trotzt?

Safier zeigt exemplarisch an seiner Hauptfigur Mira wichtigen Facetten des Ghettolebens und Ghettosterbens im Jahr 1942 und 1943 auf. Und stellt dabei uns durch den Mund Miras Fragen, etwa, wie wir als Mensch leben wollen, zu welcher Sorte Mensch wir gehören wollen.

Eine einfache Zuordnung wäre: Ich gehöre zur Sorte Nachfahre der Täter. Safier ist in dieser reduzierten Logik Nachfahre der Opfer. Die Schnittmenge wäre: Wir sind deutsche Schriftsteller, die die Erinnerung an Krieg und Vernichtung bewahren müssen.

In diesem Sinn habe ich meine kurze Prosa „Das blonde Schaf“ geschrieben, das an verschiedenen Orten und Zeiten spielt, ihren Kern jedoch im Warschau zwischen Kriegsbeginn und der ersten Aktion im Juli 1942 hat, als mit dem Versprechen, Brot und Marmelade auszuteilen, Juden zum Umschlagplatz gelockt wurden. Martha, meine Protagonistin wird in Treblinka sterben, Safiers Mira entkommt dem Ghetto durch die Kanalisation, so wie es Marek Edelman und wenigen Kämpfern im Mai 1943 gelungen ist.