Nino Haratischwili | Julia B. Nowikowa: „Löwenherzen“

Übergangsobjekt

Bei der Arbeit mit Kindern im Rahmen meiner Ausbildung zum Erzieher sehe ich sie mehr oder weniger täglich: Kuscheltiere, die die neuen Kinder in den Kita-Alltag begleiten; treue Freunde, die stumm sind und doch unbemerkt und unentwegt sprechen, den Kindern Mut zusprechen, die vertraute Situation loszulassen, sich auf eine neue einzulassen und darin heimisch zu werden.

Sprach man früher (und auch heute noch im täglichen Gebrauch) von der Eingewöhnung, die das Kind zu bewältigen habe, um zum Beispiel klassischerweise der Mutter die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit zu ermöglichen, geht die Transitionsforschung heute von einem ko-konstruktiven Prozess aus. Kurz gesagt: Die neue Situation ist von allen zu begleiten und zu bewältigen. Oder noch prägnanter: Die Kinder dürfen nicht allein gelassen werden bei der Anpassungsleitung. Sie ist von den Erziehungsberechtigten, dem Gesamtsystem Familie, Freunden und auch Erziehern und Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrern zu leisten.

Um das Kind unmittelbar in der neuen Situation zu unterstützen, sind Übergangsobjekte hilfreich.

Den Theorieblock an dieser Stelle abschließend, verweise ich auf die Objektbeziehungstheorie nach Donald Woods Winnicott, der den Begriff Übergangsobjekt geprägt hat.

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Lote Vilma Vītiņa: „Der kleine Dichter und der Duft“

Petrichor

Es war ein wolkenverhangener Tag, und der kleine Dichter hatte keine Idee, worüber er schreiben könnte. Da ging plötzlich das Fenster auf und eine blaue Wolke kam herein. Sie schwebte dem Dichter in die Nase! Das war der Duft von Sommerregen.  […]

So beginnt Der kleine Dichter und der Duft der lettischen Illustratorin und Lyrikerin Lote Vilma Vītiņa (* 1993), ein Kinderbuch ab 4 Jahren, das von Lil Reif ins Deutsche übertragen wurde.

Erst kürzlich lernte ich ein neues Wort. Es bezeichnet den Geruch ausgetrockneter Erde nach einem plötzlichen Sommerregen. Ich denke, jede*r kennt diesen muffigen, erdigen Geruch. Nur wenige, vermute ich hingegen, kennen das Wort dazu: Blut der Götter, das auf Steine fällt = Petrichor.

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Agnès de Lestrade | Valeria Docampo: „Die große Wörterfabrik“

Drei Worte auf einmal

so lautet der Titel eines überaus erfolgreichen Romans meiner Kollegin Maria Knissel. Ich erinnere mich, wie sie damals den Text in der Darmstädter Textwerkstatt II von Martina Weber vorstellte, noch mit einem Arbeitstitel versehen, den ich nicht überzeugend fand. Von ihrem Text ausgehend schlug ich Drei Worte auf einmal vor.

Es geht, kurz gesagt, um geschwisterliche Liebe zwischen dem Protagonisten und seinem nach einem Verkehrsunfall schwerbehinderten älteren Bruder, der kaum noch Worte vorbringen kann. An einem guten Tag schafft er es, Drei-Wort-Sätze zu bilden.

Maria widersprach zunächst meinem Vorschlag mit dem Argument, Drei Worte auf einmal erinnere sie immer an den Satz: Ich liebe dich! Ich konnte sie von der Richtigkeit des Titels überzeugen: Ja, aber darum geht es doch! Ganz gleich, was der ältere Bruder an den guten Tagen dem Jüngeren  mit drei Worten sagt: Es geht um die Liebe!

Was hat das nun mit Die große Wörterfabrik von Agnès de Lestarde (Text) (Übersetzung ins Deutsche: Anna Taube), Valeria Docampo (Illustration) zu tun?

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Emma Adbåge: „Unsere Grube“

Die Erwachsenen stehen miesepetrig oben am Rand.

Der schönste Satz des Gewinners des Deutschen Jugendliteraturpreises 2022 in der Kategorie Bilderbuch.

Das von der schwedischen Autorin und Illustratorin Emma Adbåge (*1982 in Linköping) gestaltete Buch (ins Deutsche von Friederike Buchinger) erzählt aus Sicht der Kinder über ihren Lieblingsspielplatz, unsere Grube, wo die Spiele nicht vorgegeben sind durch die Erwachsenen mit ihren verkopften Vorstellungen über Regeln und Unfallvermeidung, sondern sich deren Kontrolle entziehen und freien Lauf nehmen. Die Spiele heißen

Bärenmama, Hütte, Verstecken, Kiosk …

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Anja Tuckermann, Mehrdad Zaeri & Uli Krappen: „Nusret und die Kuh“

Fortgehen und Heimkehren

Nusret lebt bei seinen Großeltern in einem Dorf im Kosovo. Die Eltern wohnen mit den Nusrets Geschwistern in Deutschland. Die Entfernung zwischen der alten und der neuen Heimat der Familie ist groß, Briefe verkürzen sie. Doch die Großeltern können nicht lesen und Nusret ist noch nicht in der Schule, also hilft der freundliche Briefträger aus.

Anja Tuckermann erzählt in Nusret und die Kuh eine Geschichte über Heimat, Exil, Sehnsucht und über die Wichtigkeit, Lesen und Schreiben zu erlernen. Die Kuh tut es Nusret gleich, auch sie lernt das Alphabet. Als Nusret nach einem Besuch im Kosovo zurück nach Deutschland fährt, die Kuh aber bei den Großeltern bleibt, liest fortan die Kuh die Briefe aus Deutschland vor.

Das Buch ist von  Mehrdad Zaeri und Uli Krappen lebhaft, wild, phantasie- und liebevoll illustriert.

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Beate Laudenberg, José F. A. Oliver, Ulrike Wörner (Hg.): „kinderleicht & lesejung. Poetik-Dozentur für Kinder- und Jugendliteratur“

Blick für eine Zukunft

Die vorliegende Publikation, die die Vorlesungen der Poetik-Dozentur für Kinder- und Jugendliteratur des Hausacher LeseLenzes und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe von 2014 bis 2019 versammelt, ist eine Pflichtlektüre für alle, die sich über den Stand der Kinder- und Jugendliteratur im deutschsprachigen Raum (und darüber hinaus) informieren und sich inspirieren lassen wollen.

Was zeichnet gute Kinder- und Jugendliteratur aus? Wie gelingt sie? Welche Beschränkungen herrschen für Autorinnen und Autoren? Wie erreichen sie ihr Publikum?

Die fünf Dozent*innen Thorsten Nesch, Franco Supino, Nils Mohl, Kathrin Schrocke und Julia Willmann werfen Fragen auf und geben individuelle Antworten, bezogen auf ihr Schreiben. Dabei formulieren sie teilweise erstmals eine Poetik, ihre Lehre von der Dichtkunst, eine Disziplin, die mir größten Respekt abnötigt.

Dass ein Text klüger als seine Urheberin, sein Verfasser ist, das ist ein alter Hut, eine gern zitiertes Bonmot. Ich habe es mir mal mit Worten von Adam Zagajewski in mein Notizbuch eingetragen:

Ich muss sagen, dass ich keinen dummen Lyriker spielen möchte, aber ich verstehe meine Gedichte nicht ganz. Das ist das Süße und das Wunderbare an der Lyrik: dass wir nicht ganz verstehen, was wir herstellen.
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Ray Lavallee und Judith Silverthorne: „Die Würdigung des Bisons – Eine Legende der Plains Cree“

Vorschau Frankfurter Buchmesse 2020, Ehrengast: Kanada
Vom Rentier zum Bison – Die Überreichung der GastRolle anderer Art

Meinen Besuch bei der Frankfurter Buchmesse 2019 beschloss ich mit Traditional Sámi Joik and Joik Poetry, vorgetragen von Inga Ravna Eira, Biret Riste Sara und Karen Anne Buljo am Sonntagmittag im Ehrengast-Pavillon. Dabei wurde abermals, wie in den Tagen zuvor, über die große Bedeutung der Rentier-Herden für die Sámi gesprochen. Alle Körperteile des Rentiers sind den Sámi von Nutzen.

Das galt auch für ein anderes Säugetier, den Bison, der für den Kultur der Cree in Kanada von überragender Bedeutung war. Einst gab es viele Millionen Bisons, die die weiten Ebenen bevölkerten. (Heute gibt es etwa 20000 wildlebende Bisons.)

Daran erinnert das preisgekrönte Buch Die Würdigung des Bisons. Eine Legende der Plains Cree, das gerade im Verlag MONS in einer bilingualen Fassung erschienen ist. Dass hier die Sprache Plains Cree oder auch Dialekt Y gezeigt und in Beziehung zur deutschen Sprache gesetzt wird, allein das ist bedeutend im Internationalen Jahr der indigenen Sprachen 2019.

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Paula Ikuutaq Rumbolt | Lenny Lishchenko: „The Origin of Day and Night“

Vorschau Frankfurter Buchmesse 2020, Ehrengast: Kanada
Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen

The Origin of Day and Night von Paula Ikuutaq Rumbolt (Text) und Lenny Lishchenko (Illustration) ist ein Kinderbuch aus dem Jahr 2018. Es ist ihm zu wünschen, dass es nächstes Jahr, wenn Kanada Guest of Honour der Frankfurter Buchmesse 2020 sein wird, dem Publikum mit einer deutschsprachigen Ausgabe vorgestellt werden kann.

Der Verlag schreibt:
In very early times, there was no night or day, and words spoken by chance could become real. When a hare and a fox meet and express their longing for light and darkness, their words are powerful enough to change the world forever.
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Kurt Heyd: „Christophs Abenteuer in Australien“

Von Butzbach nach Bathurst

Kurt Heyd (* 1906 Darmstadt, † 1981 Darmstadt) veröffentlichte im Sommer 1935 das Kinder- und Jugendbuch „Christophs Abenteuer in Australien“ im Gustav Kiepenheuer Verlag. Dieses Buch, schon überaus erfolgreich im Dritten Reich, aber auch noch in der Nachkriegszeit, war sein literarisches Debüt. In diesem Abenteuerroman nahm er die Erinnerungen seines Großvaters auf, der, wie Heyd in der Vorrede sagt, in den Wintern der Kriegsjahre dem Enkel die Erlebnisse seiner Australien-Reise aus dem Jahr 1854 so lebhaft beschrieb, dass sie sich dem späteren Schriftsteller und Journalisten für immer einprägten.

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Joshua Doder: „Grk ist nicht zu fassen“

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Unversehens wachsen Kinder aus dem Vorlese- und Leselernalter heraus. Plötzlich lesen sie selbst und ehrlich gesagt: wir Eltern sind darüber heil froh. Wissen wir alle um die Bedeutung des Vorlesens, dieser Phase der Lesebegleitung, so begrüßen wir ebenso sehr diese Autonomie, auch wenn wir dann keine Ahnung mehr haben, was die Kinder lesen. Bestenfalls kennen wir die bunten Cover und die Ratschläge der Buchhändlerin, die Kinderbücher in lebhaften Worten zu empfehlen vermag. Welcher Erwachsene liest freiwillig ein Kinderbuch?

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Ramsingh Urveti: „I Saw a Peacock with a Fiery Tail“

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Was passiert, wenn man ein aus dem 17. Jahrhundert stammendes Gedicht anonymer Herkunft, das auf zweierlei Weise gelesen werden kann, zusammenbringt mit einem Künstler aus Zentralindien, 1970 geboren und einem Buchdesigner aus São Paulo stammend, heute in New York lebend?

Es entsteht prämierte Buchkunst vom Feinsten.

Das Gedicht I Saw a Peacock with a Fiery Tail ist fester Bestandteil von Anthologien zur Kinderpoesie in England, weist in seinen Lesarten des Verrückten, Absurden und des Geordneten, Normalen aber weit über Kinderreime hinaus.

Is the difference between fantasy and reality largely grammatical? Or are these inventions the very essence of poetry […]?

Wie Ramsingh Urveti und Jonathan Yamakami dieses Gedicht für Tara Books graphisch umsetzen und als Buch gestalten, ist sehr schön. Und diese Schönheit wirkt seit 2011, inzwischen in der 3. Auflage.

Einen Einblick gibt ein Video auf Youtube. Doch, Vorsicht! Dieses Buch in eigenen Händen zu halten, ist unvergleichlich. Und man muss gar nicht auf Buchmessen sein (wie gerade aktuell in Frankfurt) oder nach Chennai reisen, wo Tara Books zuhause ist, um Bücher aus dem Verlagsprogramm zu bekommen: Runge Verlagsauslieferung (Kontaktperson: Jutta Hartmann) in Steinhagen hilft gerne weiter.

Antje Herden: „Letzten Donnerstag habe ich die Welt gerettet“

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Die Welt zu retten, ist eine ziemlich aufregende Angelegenheit.

Kurt, Sandro und die Prinzessin beobachten merkwürdige Veränderungen. Um der Sache auf den Grund zu gehen, müssen sie in die Unterwelt absteigen, im Dunkel(deutsch)land von Kanalisation und Bunkeranlagen. Dort treffen sie auf Kröten, Ratten und Molche, die viel größer als normal sind und den Kindern bedrohlich nahekommen.

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