Nichita Danilov: „Vulturii orbi | Die blinden Adler“

Umbra, Cenușa | Schatten, Asche

Beide Worte verweisen auf die Vergänglichkeit (des eigenen Seins) und die Vergangenheit (als Lebensgeschichte der Vorfahren), auch wenn sie gelegentlich im gegenständlichen Sinn gemeint sind: Häuserschatten oder Asche, die von einer Zigarette abfällt (hier: scrumul = Die Asche)

Stă în umbra mea cel a cărui umbră sînt eu.
In meinem Schatten steht der dessen Schatten ich bin.
(aus: Arlechini la marginea cîmpului | Harlekine am Rand des Feldes)

Liniștit creștea cenușa…
Sacht vermehrte sich die Asche …
(aus: Poem pentru absență | Gedicht für die Abwesenheit)

Mit Vulturii orbi | Die blinden Adler erreichen uns Gedichte des rumänischen Dichters Nichita Danilov (* 1952 in Climăuți) in der Übersetzung von Jan Koneffke (* 1960 in Darmstadt) in einer wohlgestalteten zweisprachigen Ausgabe.

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Uroš Prah: „Erdfall“

Bernsteinstämme

Der slowenische Dichter Uroš Prah (* 1988 in Trate) seziert unseren Planeten als urqueeren Unort, während die Mehrheitsgesellschaft ihn als unqueeren Urort (der der Ausbeutung dient) versteht. Ein kleiner Buchstabendreher, der uns den Zugang zu Nischen erlaubt, jene der Lyrik, jene der „displaced persons“, derjenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, keine Heimat finden oder sie verloren haben.

Kontinente sind Körper. Ihre Drift ist Körperlichkeit, Begehren, Sex.

Wo sich der Subkontinent
in den Kontinent bohrt
vom schroffen Gestein
ein Körperknöpfchen
ein weicher Tropfen fällt.

Im Lyrikband Erdfall findet sich eine Auswahl aus den drei bisherigen Gedichtsveröffentlichungen Prahs in slowenischer Sprache (Čezse polzeči, 2012, Tišima, 2015 und Udor, 2019). Die Übersetzungsarbeit leistete Daniela Kocmut im engen Austausch mit dem Poeten, der an der slowenisch-österreichischen Grenze aufgewachsen ist und Deutsch nicht als Fremdsprache versteht.

Im Gespräch mit Tino Schlench bezeichnet Prah Deutsch als Zwischenraum. Räume zu schaffen, Räume zu entdecken, es ist das, was den Slowenen anzieht, was ihn zu Erkundungen aufbrechen lässt.

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Ilija Jovanović: Vom Wegrand | Dromese rigatar

Jek kućin ćišaj sem me

Der da auf Gurbet (Varietät des Vlax Romani) schreibt Ein Sandkorn bin ich, er muss ein Wesensverwandter sein. Einer, der die Einsamkeit in der Menschenmasse kennt und dessen Band ich vom Wegrand aufgelesen habe. Welch ein Fund!

Ilija Jovanovićs zweisprachiger (Gurbet – Deutsch) Lyrikband Vom Wegrand | Dromese rigatar wurde 2006 veröffentlicht. Wer dieses Buch zum Sperrmüll gelegt hat, tut den Gedichten Gleiches an, wie es Jovanović (1950-2010) widerfahren:

Eintauchen wollte ich
in die wunderbare Sprache
der Lyrik.
Doch schon
auf dem Gang meiner Wohnung
standen, auf dem Kopf
und eng aneinandergeschmiegt,
meine aus dem Schlafzimmer
gerissenen Matratzen.
Eine graue Ahnung überfiel mich.
[…]
Wo um Gottes Willen
sind Bachmann, Eliot, Rilke, Puschkin,
Mariella Mehr, wo Jovan Nicolić …?
„Wo sind sie?“
schrie ich außer mir.
„In einem Sackerl“, kam es von dort zurück,
wo unsere Küche ist.
[…]
(aus: Eintauchen wollte ich …)

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Armin Steigenberger: „rohherz und antikkörper – reprisen zur zerschönerung der welt“

Berserkergang,
Berserkergesang.

Mittelalterliche skandinavische Quellen bezeichneten im Rausch kämpfende Menschen, die keine Schmerzen wahrnehmen, als Berserker. Sie haben sich in einen Furor hineinbegeben, sei es als Kampftechnik des Kriegers oder als Manifestation der Verachtung des Todes, dem sie nur Hohn entgegenbringen. Erste Anwendung findet das Wort in dem Preisgedicht Haraldskvæði (um 872).

es brüllten die Berserker,
der Kampf kam in Gang,
es heulten die Wolfpelze
und schüttelten die Eisen.
(Strophe 8)

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Andreas Neeser: „Nachts wird mir wetter“

: Hätten Wörter ein Gedächtnis

, fragt der Schweizer Andreas Neeser (* 1964) in seinem neuesten Lyrikband Nachts wird mir wetter,

wäre das
eine gute Nachricht?
(Einsagen. Aus – XVI)

Wörter mit einem künstlichen Intelligenzapparat zu versehen, der in Sekundenschnelle ausspuckt, wer, wann, wo und wie oft welche Wörter benutzt hat? Wem warum gelungen ist, aus Wörtern Worte zu machen? Aus den Einzelelementen einer Sprache Zusammenhänge zu flechten oder zu weben, je nach Handwerkskunst und Tradition? Wäre das eine gute Nachricht?

Nein, ich glaube nicht.

Das Gedächtnis (und das Vergessen) darf auf der Seite der Menschen bleiben, jedenfalls im Bereich der Literatur, der Lyrik, der Sprache.

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Tadeusz Dąbrowski: „Wenn die Welt schläft“

Zertrümmerte Tastatur der Stadt

Es ist meine erste Begegnung mit dem polnischen Lyriker Tadeusz Dąbrowski (* 1979 in Elbląg), ermöglicht durch die Übersetzerin Renate Schmidgall.
Sie hat Gedichte der beiden letzten Lyrikbände Ausdrucksmitte(l) von 2016, Scrabble von 2020 und neuere, unveröffentlichte Gedichte zu einem Band zusammengefasst.

Die Gedichte lesen sich in der deutschen Fassung leicht und selbstverständlich, sie scheinen auf den ersten Blick keine allzu großen Geheimnisse zu bergen, sie erzählen aus dem Leben, sie erzählen vom Leben, wie es ist, aus der Perspektive eines lyrischen Ich-Erzählers, der nahe am Autor verortet ist. Sie erzählen von Reisen und Lesestationen eines Schreibenden, der seinem Beruf in verschiedenen Städten nachgeht, dabei immer im Gepäck die Entfremdung und die Sehnsucht.

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Schirin Nowrousian: „Wilna-Worte | Vilniaus žodžiai“

Katzen rennen hinter jedem Wort her

Ich bin mir sicher, die Antipathie besteht beiderseits. Wie diese Katze, sicher ein leicht fett gewordener, kastrierter Kater mich ansieht: misstrauisch, frustriert, mürrisch.

Ich gebe zu, ich bin kein besonderer Freund des Katzentiers, auch kein Käufer von Katzenkalendern, wiewohl es ein offenes Branchengeheimnis ist, das damit Lyrikpublikationen querfinanziert werden können. Aber dort sind ohnehin nur diese jungen Dinger drin! Der Wächter des mehrsprachigen Lyrikbands Wilna-Worte | Vilniaus žodžiai von Schirin Nowrousian (* 1975 in Bochum) (ins Litauische von Vertė Austėja Merkevičiūtė) bleibt regelmäßig bei den Shootings für den Kalender unberücksichtigt, vielleicht ist er ein ehemaliger König der Gosse.

Jedenfalls hat er mir über Tage den Zugang zu den Gedichten verwehrt. Ich schlich mich schließlich in einem Moment seiner Unachtsamkeit von hinten in den Band. Und siehe: Es funktioniert.

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Volker Braun: „Luf-Passion“

Eremiteninseln | Hermite Islands

I

Mit Luf-Passion hat Volker Braun (* 1939) eine Textcollage vorgelegt, die vom Verlag als Gedichtzyklus beworben und von den meisten Rezensent*innen so verstanden wird.

Interessanterweise fehlt diese Kategorisierung im Buch, neutraler wird von einem Text gesprochen. Die Widmung sollte stutzig machen. Der Text ist für den Trommler (hier scheint mir das deutsche Wort für den Drummer und Percussionisten zu kurz greifend) Günther Baby Sommer.

Sommer (* 1943) ist eine Größe in der europäischen und internationalen Jazzszene und hat schon mehrfach mit Autor*innen zusammengearbeitet, um Texte musikalisch zu hinterlegen und in Performances zur Aufführung zu bringen.

Von vornherein strebt Braun eine Zusammenarbeit mit dem Musiker an, mit dem Ziel, den Text auf die Bühne zu bringen. Insofern ist die Bezeichnung dramatisches Gedicht treffender. Aber ich gehe soweit zu sagen, dass die Textcollage ebenso als Libretto verstanden werden kann.

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Adolf Endler: „Das Sandkorn“

Titelschutz

Kurz vor der Druckfreigabe meines neuen Gedichtbands Sandkorn stellte ich überrascht und erschrocken fest, dass es bereits einen Gedichtband gibt, oder mit der Kurzfristigkeit des Buchmarktes gesprochen: gab, der nahezu einen identischen Titel trägt.

Das Sandkorn von Adolf Endler (1930–2009) erschien 1974 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale).

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Adalber Salas Hernández: „Auf dem Kopf durch die Nacht“

Den Toten mit Grippe

La eternidad no es un pañuelo, ¿sabes?

 

Freunde, wie stelle ich es mir vor: Caracas auf einem Taschentuch, / in dem die Barrios das Muster bilden auf der blanken, geglätteten Baumwolle / und Rotze schnell wachsende Krebsgeschwüre sind, die wuchern, / den alten Kern auffressen mit der Gewalt einer ewigen Krankheit, / die wir nicht aussprechen können, weil unsere Münder zerschossen und verfault?

Freunde, wie übersetzen wir Worte, spiegeln deren Sinn, wiewohl wir (noch) / der Grammatik des sozialen Friedens frönen? Unsere Schreibtische stehen auf vier / Beinen und tragen die Last unserer Ellbogen, deren Rauheit die Joppen / zurückliegender, glücklicher Tage längst durchgescheuert. Ach, eure ewige / Husterei! Euer nie endend wollender Schleim, der eure Nasen gefangen hält!

Diese Zeilen reagieren auf das Gedicht VII (Planto por la muerte de Maese Don Domingo).

Es ist mein hilfloser Versuch, die Distanz zwischen Caracas und Europa zu verkürzen, die Riesenlücke zwischen einem collapsed state und noch funktionierenden Demokratien zu schließen. Kann ich nun, nach ein paar hingeworfenen Zeilen, beginnen, eine Rezension des Buches zu schreiben? Wie verhandeln wir Lyrik angesichts der Toten, die uns den Spiegel vorhalten?

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Angelika Overath: „Schwarzhandel mit dem Himmel | Marchà nair cul azur“

Schleichhändlerin

Gleich zweimal bezichtigt sich die Deutsch-Schweizer Schriftstellerin Angelika Overath (* 1957 in Karlsruhe) in ihrem kurzen Vorwort zum Gedichtband Schwarzhandel mit dem Himmel | Marchà nair cul azur des Schmuggels, also der rechtswidrigen Verbringung von Waren oder Personen über eine Grenze.

Welche Grenze wird überschritten? Welche Ware geschmuggelt?

Die Autorin, die seit 2007 in Sent, Unterengadin, Schweiz lebt, hat sich selbst in den kleinen Sprachraum des Rumantsch (Rätoromanischen), genauer gesagt: ins Idiom des Vallader, eingeschleust.

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Michael Spyra: „Die Berichte des Voyeurs“

Und seh‘ ich dich dort unbekleidet laufen,
ich sollte klingeln, um uns Stoff zu kaufen.

Diese beiden Verse aus dem ersten Band von Michael Spyra (* 1983 in Aschersleben) geben die Richtung vor, in der sich auch die 100 Liebesgedichte des Bandes Die Berichte des Voyeurs bewegen. Es ist eine Pendelbewegung zweier Menschen zwischen Nacktheit und Verhüllung, zwischen Schamlosigkeit und Scham.

Schrieb ich angesichts gardinenloser Fenster von „einem Zwischenraum von Voyeurismus und Banalität“ und zeigte mich enttäuscht über das Ende einer Verhüllungs- oder auch Entrückungssehnsucht (uns Stoff kaufen), so muss ich mich angesichts des Titels des neuen Bandes ernsthafter mit dem Spiel, den Spielarten der Liebe beschäftigen, also deren Leichtigkeit nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn die Anziehungskraft zweier Menschen ist, das belegen Die Berichte des Voyeurs, ein Untersuchungsgegenstand, der einen langem Atem braucht, eine genaue Beobachtungsgabe, ein richtiges Timing, ja geradezu eine Fürsorge für die Beobachteten und einen starken Hang zur Diskretion. Spyra nimmt uns als Leser*innen hier in die Pflicht, bei aller Direktheit, mit der zwei Menschen aufeinanderzusteuern und sich vereinen.

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