Ervina Halili: „Der Schlaf des Oktopus“

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Schwanenhals und schwarzes Haar
Ervina Halilis Gedichte im Schwebezustand zwischen Traum und Tiefschlaf

In dem in der Edition Korrespondenzen, Wien 2016, herausgegebenen Gedichtband Der Schlaf des Oktopus der 1986 in Prishtina/Kosovo geborenen Lyrikerin Ervina Halili sind Träume allgegenwärtig. Und diese Traumwelten werden gefüllt mit einer sich wiederholenden Kulisse, die mich dazu verführt, fälschlicherweise an Gemälde von Marc Chagall zu denken (ich Pirouette einer vom Wolkenkratzer gefallenen Ballerina, aus: Ode an mich selbst), die ich aus einer lang zurückliegenden Erinnerung in meinem Gedächtnis aufrufe und die Figuren, Menschen, Tiere, die Natur und die vom Menschen geschaffene Umwelt mit schwebender Leichtigkeit erlebe, für einen kurzen Moment, bis sie verschwinden und nicht mehr greifbar sind.

Nun, die Ballerina wird am Boden zerschmettert werden, das ist die Wahrheit! Halili arbeitet mit Illusionen und Illusionslosigkeit, sie spricht über die Realität eines Landes, einer Landschaft, einer Sprache, Europa zugehörig und doch uns fremd, so als habe die Globalisierung, die uns schon alles Mögliche aus fremden Ländern präsentiert hat, Löcher, schwarze Flecken, frei von Gedächtnis.

Në gjumin tënd

Nuk mund të ik
nga gjumi yt
biçikletën ma morën të marrët
pa të
qysh me u largu
â sht shumë larg në kambë
sa i randë gjumi yt
i randë

In deinem Schlaf

Kann deinen Schlaf
nicht verlassen
mein Fahrrad haben die Irren geklaut
ohne das
kann ich nicht weg
zu weit zu Fuß
wie tief du schläfst
tief

Der Tiefschlaf ist traumlos. In ihm prägen wir uns Erlerntes ein. Erst in den auf den Tiefschlaf folgenden REM-Phasen (Rapid Eye Movement) träumen wir. Über die Nacht verteilt wechseln die Phasen, sodass wir zwischen Traumlosigkeit und Traum pendeln. Das macht das Erkennen einer Wirklichkeit nicht einfach.

Ode an mich selbst klärt die Wirklichkeit der Autorin. Wenn sie das Gedicht mit dem Vers

Ich Gedicht eremitischer Vers

eröffnet, legt sie in diesen vier Worten ihr Selbstverständnis als Kulturarbeiterin offen. Sie spricht von notwendiger Abkehr von der Gesellschaft, um Textproduktion zu ermöglichen ebenso wie über das Schreiben in einer Sprache, der die Nische zugewiesen wird; diese soll, trotz aller politischen Instrumente, die Europa Ende der neunziger Jahre aufgefahren hatte, um Kosovo in die Unabhängigkeit zu entlassen, am Rand Europas bleiben. Um so verdienstvoller Programme wie TRADUKI, die der Marginalisierung entgegenwirken. Es war interessant zu hören, was die Autorin im Gespräch mit Michael Krüger bei der Leipziger Buchmesse 2016 über den kosovo-albanischen Buchmarkt und die Publikationsmöglichkeiten in ihrem Land berichtete. Die Situation hat sich seit der Unabhängigkeit verschlechtert. Zuvor, unter der serbischen Administration, gab es mehr Verlage, mehr Publikationen. Nun sind Publikationsmöglichkeiten im belletristischen Bereich nahezu nicht mehr vorhanden. Wäre nicht zu erwarten, dass der immer noch junge Staat die Verbreitung der albanischen Sprache, insbesondere des im Kosovo gesprochenen gegischen Dialekts, fördert? Es stellt sich die Frage: Hat der Eremit sich freiwillig zurückgezogen oder wurde ihm durch die Gesellschaft diese Rolle zugewiesen? Halili, die in gegisch schreibt, entlarvt mit ihrer eremitischen Arbeit den Traum vom stolzen Nationalstaat, in dem die Bevölkerung ihre Sprache und Kultur pflegt. Dieser Traum war, ist und bleibt ein politisches Konstrukt, um andere Interessen und Machtansprüche durchzusetzen.

aus der linken Tasche meiner Nacktheit
nimm meine Schuld
und sage meinem schuhlosen Volk
meine Sünden habe ich außerhalb der rauchenden Wohnzimmer begangen
(aus: Lieber Himmel …)

Halilis Nacktheit steht für Hingabe und Verletzlichkeit. Ihrer Weiblichkeit sehr bewusst, arbeiten die Gedichte mit der erotischen Ausstrahlung ihres Wortmaterials. Gleichwohl kümmert es die Autorin wenig, welche Begierden dieses kontrastierende Schwarz-Weiß der Schwäne und der Haare zu wecken vermag.

Ich wickle den Orgasmus der Welt
in seine schwarzen Augen
kreische vor Glück
(aus: Der Schlaf der Schwäne)

Mit Entschiedenheit wählt Halili den Weg des Exhibitionismus, wenn sie schreibt:

ich bin zurückgekommen
hierher wo man von einer kontrahierten Vagina aus den
Globus betrachtet

sie entspannt sich nicht
sie entspannt sich nicht
(aus: Weit)

Die Körperlichkeit der Texte vermitteln einen Eindruck vom einsamen Kampf der Ein/Aus-Siedlerin Halili gegen eine männlich dominierte Welt, in der selbst in den Träumen das Träumen verboten ist.

Wir dürfen nicht alles schlucken. Das sagt uns die Autorin in ihrem titelgebenden Gedicht des Oktopus‘. Es heißt nicht Der Schlaf des Oktopus, wie zu erwarten gewesen wäre, sondern Das Sterben des Oktopus.

du hast den ersten Arm zur Strafe geschluckt
und dann den nächsten
auch die übrigen
bis jede Erinnerung an den Alptraum getilgt war
und sich deine Augen friedlich schlossen

Empathie und Hingabe sind für Halili überlebensnotwendig, die Selbstaufgabe hingegen kein Mittel, der harten Realität des Albtraums zu entfliehen.