Joshua Doder: „Grk ist nicht zu fassen“

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Unversehens wachsen Kinder aus dem Vorlese- und Leselernalter heraus. Plötzlich lesen sie selbst und ehrlich gesagt: wir Eltern sind darüber heil froh. Wissen wir alle um die Bedeutung des Vorlesens, dieser Phase der Lesebegleitung, so begrüßen wir ebenso sehr diese Autonomie, auch wenn wir dann keine Ahnung mehr haben, was die Kinder lesen. Bestenfalls kennen wir die bunten Cover und die Ratschläge der Buchhändlerin, die Kinderbücher in lebhaften Worten zu empfehlen vermag. Welcher Erwachsene liest freiwillig ein Kinderbuch?

Nun, nach einem anstrengenden Höhenflug über Leopardi in italienischer Sprache, dem ich am Vortag beim 9. Europäischen Poesiefestival als Zuhörer zwei Stunden ausgeliefert war, griff ich zu dem Buch, das auf der Couch liegen geblieben war.

Und war sehr überrascht, welche Problematik Joshua Doder in seiner Grk-Reihe aufgreift. Ich lernte, dass der Autor Kindern ab 10 Jahren die Frage nach der moralischen Verpflichtung bzw. Rechtfertigung des Tyrannenmords stellt. Das hatte ich in der 8. Klasse mithilfe eines sehr fordernden Deutschlehrers anhand Schillers Wilhelm Tell kennengelernt und später mit Camus‘ Die Gerechten vertieft.

Es gibt viele grausame, unangenehme und gemeine Politiker in der Welt, aber Oberst Zinfandel war einer der schlimmsten. Er tötete einige seiner Feinde und steckte die restlichen in Gefängnisse. Das stanislavische Volk wollte ihn nicht als Präsidenten, aber es war zu verängstigt, um zu protestieren. Mit Terror, Bestechung und roher Gewalt brachte Oberst Zinfandel das Land unter seiner Kontrolle.

[…]

Wenn ihr wüsstet, dass ein Freund von euch jemanden umbringen will, was würdet ihr tun? Würdet ihr versuchen, ihn aufzuhalten? Was, wenn er den Mann umbringen wollte, der seine Eltern getötet hat? Würde ihr ihn nicht eine Sache tun lassen, die er mehr als alles andere auf der Welt wollte? Selbst wenn er dabei womöglich sterben würde?

Tim wusste auf keine dieser Fragen eine Antwort. Er wusste noch nicht einmal, wo oder wie er eine Antwort finden sollte. Er war kein Philosoph oder Priester. Er war nur ein normaler Junge, der den Morgen im Bett verbringen wollte.

Ich werde meinen Sohn fragen, ob er nach der Lektüre des Buches eine Antwort gefunden hat. Und wenn er keine Antwort hat, ob es erlaubt ist, einen Diktator zu ermorden, dann werde ich ihm einen langen Vortrag halten, der willkürlich im dritten Akt des Wilhelm Tell beginnt und vorläufig endet bei der Ermordung von Taliban-Führern irgendwo an der afghanisch-pakistanischen Grenze durch Militärdrohnen der Amerikaner. Ich werde von Demokratie sprechen, von Volkssouveränität. Und je länger ich spreche, desto deutlicher wird mir werden, wie die Begriffe verschwimmen und ich nicht mehr weiß, worüber ich rede.

Mein Sohn wird mich trösten: Mach dir nichts draus, bist eben kein Philosoph oder Priester. Wie recht er hat!