Adriaan van Dis: „Nathan Sid“

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Die 1983 erschienene Novelle Nathan Sid des 1946 geborenen, niederländischen Schriftstellers Adriaan van Dis (deutsche Erstausgabe 1988, Übersetzer: Siegfried Mrotzek) ist von betörender Schönheit.

Da schreibt ein Erwachsener das Buch der eigenen Kindheit, gibt seiner Einsamkeit, seiner Traurigkeit, seiner Verlorenheit Raum, viel Raum, und versteht es doch, in luftig geschriebenen Kapiteln so etwas wie eine frohe Erinnerung aufzunotieren. Das ist zauberhaft, gerade weil die Kindheitsbilder nicht zuckersüß sind, keine Madeleines de Proust! Sie neigen nicht zur Verklärung, sondern sind sauer, sind gallig. Im wörtlichen Sinne, denn der an Hautausschlägen leidenden Junge wird mit Ochsengallenseife, Zitronensaft und Essigwasser gereinigt. Ma Sid, die fürsorgende Mutter, singt dazu die Verse:

Saures reinigt, Saures peinigt.
Saures im Blut, Saures gegen Eiter,
Saures gegen Furunkel, Karbunkel,
Saures kratzt nicht weiter.

Die Geschichte Nathans könnte die eines Nesthäkchens sein. Doch die Geschichte macht aus ihm einen Außenseiter innerhalb einer Familie, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Niederländisch-Ostindien, dem zur Unabhängigkeit strebenden Indonesien, in die Niederlande zurückkehrt und dort ihre Erfahrungen der reichen Kolonialtage wie der Deportationen durch die Japaner nicht mit den Einheimischen teilen kann. Nathan selbst erlebt diese Zeit nur durch die Bilder seiner nicht verheirateten Eltern und seiner älteren Schwestern (aus der ersten Ehe der Mutter). Er fühlt sich ausgeschlossen.

Die Sehnsucht nach süßem, ungesunden Essen nagt an ihm ebenso so sehr wie die mangelnde Anerkennung durch den Vater. Nathan steckt seinem Vater eine Botschaft zu, geschrieben mit dem Saft der Brombeere und seines unreinen Bluts: PISSACKER, DU WIRST ERMORDED.  Der Vater gibt im unversehens eine Ohrfeige.

Seine Finger zeichneten sich weiß auf Nathans Wange ab. „Ermordet schreibt man hinten mit t“, sagte er.

Später, und es ist angenehm, dass der Autor gar nicht erst versucht, eine Chronologie aufzubauen, sondern die Erinnerungsbilder unbelastet von Zeitzuordnungen zulässt, irgendwann später, fährt Nathan mit dem Vater auf dessen Motorrad in die Stadt.

Nathan drückte den Kopf an Pa Sids Jacke. So sah er die Böschung vorüberschießen, ohne daß ihm die Augen tränten. Sträucher zischten grau vorbei. Nur in den Dörfern fuhren sie langsamer, da konnte er wieder Bäume zählen und es riskieren, in eine bequemere Sitzhaltung zu rutschen. Reden konnten sie nicht miteinander. Aber sein Vater griff immer wieder nach seinem Knie, um zu kontrollieren, ob er noch da war.

Das ist traurig und schön zugleich. Welch Schatz, solche Bilder zu heben und ihnen Worte zu verleihen!