John Burnside: „Anweisungen für eine Himmelsbestattung“

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John Burnsides Anweisungen für eine Himmelsbestattung

Iain Galbraith, 2015 für seine Arbeit als Übersetzer mit dem Popescu European Translation Prize ausgezeichnet, mutmaßt in seinem Nachwort zu der von ihm ausgewählten und übersetzten Lyrik des schottischen Schriftstellers John Burnside, dass die Übersetzung von „home“ als „Zuhause“ oder „Heimat“ zu gemütlich anmutet und die Komplexität des Wortes für Burnside nicht abbildet. Gerne möchte ich Galbraith mitnehmen ins Kunstmuseum Moritzburg nach Halle (Saale) und ihm Einar Schleefs Gemälde „Zuhause“ zeigen. Der Text, den Schleef auf dem Gemälde festgehalten hat, tilgt jeden Gedanken an Gemütlichkeit und lässt einem einen kalten Schauer den Rücken runterlaufen.

Zuhause das sind die Eltern, der Vater, die Mutter, der Schulweg, das Kino, die Dörfer, das Gestrüpp, die Stadt, die man sein Leben nicht loswird. Nie mehr zurück, das verwinden, fliehen bis man ein eigenes Zuhause hat, was einen erstickt und auffrißt.

Die Worte des Deutschen beschreiben mit dem Generationssprung von Kind zum Erwachsenen das, worum es auch dem Schotten geht: Die Spiegelung des Ich in den Rollen, die das System Familie zur Verfügung stellt.

Man kann dies aus Burnsides berührenden Roman „Lügen über meinen Vater“ (2011) ebenso wie aus der hier vorliegenden Lyrikauswahl Galbraiths, als Schnellnachweis mögen die beiden Gedichte „Hall of Mirrors, 1964“ und „Spiegelkabinett, Berlin, 2012“ genannt sein, herauslesen.

Was ist „home“ für Burnside, wenn es sich nicht um einen Ort süßlich-klebriger Erinnerungen handelt? Und welche Trigger eröffnen die (Ein-)Sicht auf den Kampf, der, ausgetragen in fernen Tagen, noch heute lebendiges Echo generiert? Mit diesen beiden Fragen, die so etwas wie einen Gegenentwurf zu den „Madeleines de Proust“ provozieren, möchte ich bei der Lektüre der Gedichte auf die Suche gehen nach etwas,

das nicht mehr und nicht weniger angemessen ist als alles andere
das wir brauchen, um in der Welt zu Hause zu sein.
(aus: Häfen)

Um bei dieser Suche Erfolge vorweisen zu können, muss ich die Ordnung durchbrechen, jene, die die Herausgeber vorgegeben haben in der Anordnung der Gedichtauswahl. Nicht mehr die Qualität des Einzelgedichts – sie ist durchgehend hoch, gleich, ob es sich um kurze Gedichte oder zyklische Langgedichte handelt – spielt eine Rolle, sondern die Qualität der Zwischenräume, die die Bilderwelt Burnsides eröffnet. Weil eben mehr dahinter steckt, als eine äußere Ordnung, die uns Menschen ohnehin fremd ist, von der wir uns aber dennoch allzu leicht, allzu gern beherrschen lassen, müssen wir an Stellen suchen, die uns abwegig erscheinen. „Home“ ist nicht die Anordnung von Wänden und Decken, nicht diese Art Behaustsein, die noch keine Identität, keine Geborgenheit liefert – solcherlei wird in keinem Architektenvertrag zugesagt, sondern das Wechselspiel von An- und Abwesenheit, das Hin- und Hergeworfenwerden in einer fühlenden Welt, deren Auslöser leblose Gegenstände oder oftmals Geräusche und Gerüche sind. Was ich versuche, meine eigene Haltlosigkeit in jenem Haus meiner Familie umkreisend, auszudrücken, etwas ratlos, hilfsbedürftig, sagt John Burnside beispielsweise so:

Es steckt mehr dahinter, als ich dachte –
mehr als das Haus oder unser stilles Bett,
wenn keiner da ist,
mehr als das Buch mit der Schrift nach unten,
das du auf den Küchentisch gelegt hast,
das Haarknäuel in der Bürste, der Wust an Klamotten
– zu einem Zuhause gehört mehr,
als ich je erwartet hätte:
ein Prozess des Ausgrabens, Suchens
nach etwas in mir, das gegen
die Kälte des anderen zu setzen wäre,
gegen das Echo, das du nicht hörst, wenn ich lauschend innehalte,
[…]
(aus: Siedlungen, III Brunnen)

Was ist unter dem Stapel Klamotten abgelegt? Was findet sich zum Beispiel an schmutzigen Kindersocken, die tagelang in den Ecke darauf warten, dass einer kommt, um sich zu erinnern. Sich zu erinnern an das eigene Kinderzimmer, die gleichlautenden Mahnungen aufzuräumen, die Socken nicht aufgerollt in die Waschmaschine zu stecken, denn der Knotentest, höre ich meine Mutter, als stünde sie gerade jetzt neben mir, das sei nur ein Trick aus der Werbung.

Es finden sich abgelegte Emotionen, die sich plötzlich Bahn brechen, absichtslos und ungeschminkt. Diesen Satz schreibe ich mit einer gehörigen Portion Ratio, während ich versuche, meine Kindersocken-Emotion unter Kontrolle zu bringen, die Tränen, die gar nicht wissen, ob sie eine glückliche oder tieftraurige Erinnerung beweinen, trocken zu wischen. Das gelingt, zweifelsohne, aber dieses kurze Beben, das meinen Körper eben erfasste, war da und wirft die Frage auf, ob ich weiterhin äußeren Ordnungen folgen will (also die Socken meiner Kinder entrollt in die Waschmaschine gebe: Kontinuität) oder es aber einfach anders mache (rein, wie es kommt, vielleicht hat die Werbung ja doch recht: Diskontinuität).

Ich könnte mich der Tränen schämen,

doch Zuhause ist der Ort, wo alles geschieht: Panik und Freude,
die Begegnung mit dem Gott, der Gestank des Ziegenbocks;
haarlose Engel, die aus dem Regen treten;
hier, in einem Waldstreifen auf der Fahrt nach Norden,
durch alles, was ich schon einmal gesehen und gehört habe
(aus: Ny-Hellesund, IV Rückkehr)

mit diesen und den folgenden Worten stärkt der Schotte meinen Rücken

und nichts ist wahrer als das Dunkel von Zuhause:
Verandalampen, denen wir Namen gaben, Erbsenfelder, Kreuzungen;
Rehweg und Laichstelle, Vogelwanderung und Todesskurve,
wie sich die weite Nacht
auf Lagerfeuer und Molkereien reduziert,
oder Hockey-Juniorenteams in Rot und Blau
das perfekte Spiel
in einem Kreis von Regen proben.
Das ist eine Karte der Ewigkeit, alles Beben und Fallen:
ein Körper aus Feuer, ein Funkeln der Sterne in der Ferne,
Aale auf einem Treidelpfad, die das Gras zwischen Flüssen aufzeichnen,
die verblassende Schönheit des langen Heimwegs
und, irgendwo im Traum von diesem Traum,
das Haus hinter den Häusern, an die ich mich erinnere,
Froschhaus, Sternhaus, Haus aus Seide und Knolle,
die Scharen der Besucher, die hier kommen und gehen,
mit ihrem Hauch von Waldgrün oder Wassergrün:
Gestalten, die ich durch Panik oder Freude hindurch erblickte:
Handflächen und Blicke, die ein Scheinwerfer streifte,
Stachelgräten, weißer als Kalk, in den Nähten des Wetters
(aus: Ny-Hellesund, IV Rückkehr)

Bei der Verortung von „home“ geht es ja um nichts weniger als eine Abgrenzung von Gegenwart und Vergangenheit, also in existenzieller Weise um Leben und Tod. Fasziniert schreibt Burnside über ein totes Rind, das sein Nachbar John gefunden hatte, eine konservierte Hülle, „im Leerraum des Schädels urzeitliche Stimmen“. John will den Kadaver fotografieren, „doch die ersehnte Aufnahme / war nicht zu machen.“ Das erinnert mich an meinen gescheiterten Versuch, den Kadaver eines Zebras zu dokumentieren. Ich stand in Namibias Buschlandschaft und vertiefte mich in Details der Fellzeichnung, des Skeletts, das nicht eine Spur von Eingeweiden, nur noch Leerraum umschloss, in die nicht gefressenen und nicht verwesenden Wimpern des Tieres, so als könne ich mittels Fotografie Abwesenheit erfassen, eine Abwesenheit, die ich von zu Hause kannte, jenem zerrissenen Wort, das keine Familie barg und schützte. Meine Tochter stand wenige Meter entfernt und der immer noch verhandene fürchterliche Verwesungsgeruch schlüpfte in ihre junge Nase. Was wird die Erinnerung an das tote Tier später bei ihr auslösen?

Glücklicherweise ist Burnsides Sprache und die Arbeit des Übersetzers nicht so limitiert wie die Zeichenanzahl dieser Rezension. Es ließen sich noch viele weitere Les- und Sprechwege finden, die „home“ im Kinderlachen, im Duft von Wiesenblumen oder in den „Regentropfen am Fenster des Fischladens“ erkennen würden. Diese anderen Wege führten jedoch am Ende zur gleichen Feststellung: Burnsides Gedichte sind Weltliteratur, die

wir brauchen, um in der Welt zu Hause zu sein.
(aus: Häfen)