Ulrike Almut Sandig: „Buch gegen das Verschwinden“

almutsandig_buchgegendasverschwinden

Die letzten Zirbelkiefern
Ulrike Almut Sandig schreibt gegen den Verlust

Landschaften verschwinden, Menschen verschwinden, Erinnerungen verschwinden. Die Erinnerung an die Menschen schwindet. Am Ende stehen wir nackt in einer Landschaft, die uns fremd und lebensfeindlich entgegentritt. Menschen, die uns nahestanden, Menschen, die wir nur kurz kannten: im Moment des Verschwindens sind wir durcheinander, reagieren unkontrolliert emotional, doch dann, nach einer Zeit spüren wir den Verlust und wollen ihn nicht wahr haben.

Gegen den Verlust setzt Sandig die Kraft des Erinnerns, die sie als Autorin und Erzählerin einsetzt, um in fein gesponnenen Geschichten jene Situationen aufzuzeigen, bei denen etwas vom Rand her unscharf wird, zu verschwimmen beginnt. Vielleicht sind diese Momente der Beginn des Verlusts.

Mit den Augen verfolgte ich das verschwommene Sonnenlicht über alle Wände bis zu seinem vollständigen Verschwinden.
[aus: Weit unter uns die flüssigen Felsen]

Mögen die Erzählerinnen und Erzähler der sechs (sieben) Geschichten vom Alter und den Lebensumständen noch so unterschiedlich sein, ihr immer gleicher Wille, etwas oder jemanden nicht verlieren zu wollen, zeichnet sie in ihrem Menschsein aus. Dabei nimmt sich die Autorin nicht zurück, sondern bleibt als solche innerhalb der Erzählungen erlebbar. Das ist ein zunächst irritierendes literarisches Spiel. Darin geschult, dass Autorin/Autor als eigene Instanz unsichtbar wird, verschwindet und sich über die Erzähler mitteilt, erscheinen die Eingriffe in den Text, in dem nicht die Erzählinstanz spricht, mir zunächst ungewohnt und fremd. Aber der Autorin gelingt es, sich zu einer weiteren literarischen Figur zu machen, schafft eine zusätzliche autobiografische Wahrheitsebene, ohne den literarischen Kontext zu verlassen.

Mein Vater fand meine Geschichten immer traurig, selbst wenn ich dachte, ich hätte eine Komödie geschrieben. Einmal rief er mich an, ich befand mich gerade in der Umkleidekabine eines Geschäfts im Leipziger Hauptbahnhof, um ein paar Sommersachen zu probieren. Wenn ich deine Geschichten lese, sagte mein Vater, dann werde ich immer so bedrückt, das ist kaum zum Aushalten.
[aus: Gegen das Verschwinden]

Das Gespräch mit dem Vater (das nur insofern in die Geschichte gehört, als die Autorin, die Tochter, als Figur in der Geschichte ihre Schwangerschaft erst hütet, dann offenbart und damit den Vater zum Großvater werden lässt) wird über einen Sonntag titulierten Anmerkungsapparat vertieft.

Verschwindet der Tabak in Deiner Dose, nur weil Du das Rauchen aufgegeben hast und die Dose nicht mehr aufmachst? Verschwinden die Freunde, nur weil sie in der Vergangenheit liegen? Nein, lieber Vater, ich bin dagegen. Nichts verschwindet. Es ist alles noch da.

In Tamangur stellt Sandig die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Geschichten. Sie eröffnet ihre Geschichte mit den Worten:

Es gibt Dinge von so unwahrscheinlicher Natur, dass die Leute sie einfach nicht glauben . […] Schreibt man diese unwahrscheinlichen Dinge aber auf und nennt sie eine Geschichte, dann glauben die Leute alles.

Mag sich nun im Publikum noch einer die Frage nach dem Wahrheitsgehalt trauen? Oder erinnern wir uns der aus dem Italienischen stammenden Bemerkung se non è vero, è ben trovato und lassen es dabei: Ja, wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden!?

Eva, Deutsche, um die Dreißig, und der sechzigjährige Schweizer Arno wollen im November den Tamangur sehen, einen kleinen Wald, einen Arvenbestand überhalb eines abgelegenen Ortes im Unterengadin. Was zunächst als machbar erscheint, und sicher führt der Mann die Frau nicht fahrlässig in ein Abenteuer, wird auf dem Rückweg zu einer Überlebensfrage, die beide nicht mehr gemeinsam beantworten können. Die Deutsche taumelt im Schneesturm mit nasser Kleidung bei -15 Grad den Hang hinunter, der Schweizer bleibt zurück und verschwindet spurlos. Die Bergwacht findet ihn nicht. Aber Eva hatte ein Foto von ihm gemacht, als sie den Aufstieg geschafft hatten und das ist ein Existenzbeweis: Wir waren zu zweit dort. Doch nach einwöchigem Krankenhausaufenthalt in Scuol werden die Layer des Authentischen immer fragwürdiger. Jede Erzählung des Erlebten entfremdet Eva und die Autorin von den Geschehnissen.

Der Klang seiner Stimme verschwand als Erstes. Aber sie hatte ihn auch kaum gekannt, betonte Eva immer wieder, und alle Freunde stimmten ihr zu. Später verschwand das Aussehen seiner Hände und auch das Gefühl von Evas eigenen Händen zwischen seinen.

Trotzig hält die Autorin, die Erzählerin erneut dagegen:

Aber es gibt das Foto von Arno vor dem Tamangur. Es liegt in einer blauen Fotokiste in Evas Wohnung und kann jederzeit eingesehen werden. Es ist der Beweis, dass nichts in dieser Geschichte erfunden ist, am wenigsten Arno selbst.

Das Verfahren, sich auf Authenzität zu berufen und Beweismittel vorlegen zu wollen, andererseits von vorne herein alles in Frage zu stellen, ist weit mehr als ein Kokettieren mit dem Publikum, um der häufigsten Frage: Ist das denn alles wahr?, zu entgehen, sondern ein intelligentes Spiel mit dem Erscheinen und Verschwinden dieser unzähligen Wahrheiten und Möglichkeiten, die unser Leben wertvoll machten, machen und machen werden. Daran sollten wir uns erinnern.