Verena Boos: „Blutorangen“

Die blauen und die roten Pillen

Sie kommt schlecht damit klar, aber sie würde es wieder gleich machen, wieder die rote Pille nehmen. Sie hätte die blauen Pille wählen können: man geht ins Bett, und am nächsten Morgen erinnert man sich an nichts mehr, Entscheidet man sich für die rote: die Welt, wie sie wirklich ist. Das Schattenreich, in dem Antonio zu zittern begann, als sie erzählte, in aller Unschuld, dass ihr Vater bei der Guardia Civil gewesen war.

Sie, das ist Maite, eine junge Spanierin, die mit einem Austauschprogramm zum Studium nach München kommt, ins wiedervereinte Deutschland des Jahres 1990. Sie kommt aus einer erzkonservativen Familie, in dem der Antikommunismus immer hochgehalten wurde und auch Jahrzehnte nach Francos Tod die Essenz des Familienlebens ausmacht, eines Familienleben, das von Maites strengen Vater Francisco gelenkt und bestimmt wird. Maite mit ihrem jugendlichem Elan schert aus der Familienlinie aus, macht bei Aktionen der Linken mit, ein enfant terrible, das droht, das Ansehen der Familie zu schädigen. So stimmt der Vater zu, die Tochter nach Deutschland zu schicken, freilich unter von ihm diktierten Auflagen.

Verena Boos führt uns in ihrem inzwischen mehrfach preisgekrönten Debüt Blutorangen in unbearbeite Geschichtsfelder des Faschismus und des Franquismus, in Zonen, wo im übertragenen und wörtlichen Sinne noch Leichen verborgen sind, zugeschüttet durch Erdreich und Schweigen.

In München verliebt sich Maite in Carlos, der aus einer republikanischen Familie stammt, selbst wenig über die Vergangenheit weiß und in Bayern gut integriert ist.

Maites Durst, ihre Gier, das, was sie nicht verstanden hat, weil darüber geschwiegen wurde, zu verstehen, dabei sich aus dem jugendlichen, naiven Nichtwissen befreiend und eine Obsession für die Wahrheit befördernd, führt sie zu Carlos‘ Großvater Antonio, einem Kommunisten, der aus Spanien fliehen musste, in Frankreich nur kurz geduldet war und dann nach Mauthausen gebracht werden sollte.

Es ist eine Fotografie, die Maites Interesse weckt und die Recherche lostritt, die das Leben beider Familien ändern wird, indem das Schweigen bricht.

Darin ist die Grundkonstruktion des Romans durchaus vergleichbar mit Barbara Zeizingers Roman „Am weißen Kanal“, der ebenfalls ein fast vergessenes und ungesühntes Massaker an der Zivilbevölkerung, dort in der Poebene im April 1945, thematisiert.

Am Ende wird Maite vor dem Leichnam ihres Vaters stehen und verstanden haben, dass ihre Familiengeschichte um so viele Aspekte reicher und komplizierter war, als sie sich das je denken konnte. Aber sie kann das Schweigen nicht akzeptieren, darin ist sie, bei aller Trauer um den Vater, sehr fest in ihrer Überzeugung.

Sie wollte sich in München neu erfinden, sie nahm den Familiennamen von Carlos an und hat doch immer gegen diese Schatten angelebt, sie trug ihren Vergeltungswunsch und ihre Liebessehnsucht mit sich herum wie Verwachsungen, eine persönliche Unzulänglichkeit. Versöhnung kann es nur geben, wenn alle zu ihrem Recht kommen: Gerechtigkeit für die Opfer und einen fairen Prozess für die Täter. Es gibt keine Versöhnung auf der Grundlage von Straflosigkeit.

Das sind immer noch keine Selbstverständlichkeiten, die Boos hier klarstellt. Es ist immer noch wichtig und wird es bleiben, dieses zu sagen. Aber die Autorin behauptet solcherlei nicht nur, sondern zeigt es durch Maites letzte Handlung, in einem sehr starken Schluss eines empfehlenswerten Romans, als Maite sich von  ihrem toten Vater verabschiedet.

Sein Hals füllt das Hemd nicht mehr aus. Ich lasse einen Kiesel und etwas Erde aus dem Massengrab in seinen Kragen fallen. Es soll ihn kratzen. Dann beuge ich mich nach vorn und lege meine Lippen leicht, nur für einen Moment, auf seine kalte Wange.