Issas Schnecke, ein minimalistisches Vorbild
Ryszard Krynickis Poesie
Kobayashi Issa (1763-1828) gilt als einer von vier Meistern der japanischen Haiku-Dichtung. Sein Einfluss auf die europäische Lyrik ist im 21. Jahrhundert noch spürbar. Klaus Merz und Ryszard Krynicki nehmen in ihren neuesten Gedichtbänden, die der deutschsprachige Buchmarkt bietet, direkten Bezug auf den Autor der folgenden Zeilen.
Katatsumuri
sorosoro nobore
fuji-no yama.
Die kleine Schnecke
ganz langsam steigt sie hinauf
auf den Berg Fuji.
Das höchste und heiligste Ziel zu erreichen, das sagt uns Issa, bedeutet, die Langsamkeit als Ausdruck der eigenen Möglichkeiten zu akzeptieren und dennoch nicht abzulassen, unbeirrbar zu bleiben. Krynicki kommt mit Issa ins Gespräch.
Was machst du, kleine Schnecke, auf meinem Balkon,
so viele Stockwerke über der Erde!
Kommst du vom Fuji zurück?
Ach, wie konnte ich
dich nicht gleich erkennen, Issa.
(„Wie konnte ich“, in: „Gedichte, Stimmen“, 1987)
Ich weiß nicht, ob die Schnecke auf Krynickis Balkon erschöpft und/oder frohgemut war, noch, ob die Annahme der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten ein Baustein für die Formel zum glücklichen Leben sein kann.
Seid ohne Eile, Wörter, Regungen.
(aus: „Issa“, in: „Unser Leben wächst“, 1978)
Durch Bedächtigkeit und starke Wortverdichtung entsteht die Möglichkeit, die Weißräume des Papiers als Freiräume anzubieten. Das birgt andererseits die Gefahr, in unserem hektischen, erfolgs- und profitorientierten Leben übergangen, überlesen zu werden. Die Schnecke fällt aus der Zeit, hat das Nachsehen, muss den Schnelleren den Vortritt überlassen. Die haben schon alle heiligen Berge niedergetrampelt! Hat der Literaturbetrieb Sinn für kleine, langsame Tiere?
Ryszard Krynicki, mag er sich auch an Issas Schnecke orientieren, ist keineswegs ein kleines Tier in der polnischen und europäischen Literatur. Er arbeitet als Lyriker, Übersetzer und Verleger. Artur Becker zählt Krynicki neben Adam Zagajewski und Julia Hartwig zu den zur Zeit wichtigsten polnischen Dichtern. Krynicki betreut in seinem mit seiner Ehefrau Krystyna geführten Verlag a5 deren Werk ebenso wie das von Wislawa Szymborska und Zbigniew Herbert. Für seine Übersetzungstätigkeit wurde Krynicki im Jahr 2000 mit dem Friedrich-Gundolf-Preis der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet. Er hat beispielsweise Bertolt Brecht, Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger, Reiner Kunze und Nelly Sachs ins Polnische übertragen.
Mit „Sehen wir uns noch?“ wird die erste umfangreiche Gedichtauswahl seit 1991 vorgelegt, wie Renate Schmidgall, Übersetzerin der jüngsten Gedichte im Nachwort schreibt. Die ältesten Gedichte stammen aus dem Band „Geburtsurkunde“ von 1969 in der Übersetzung von Karl Dedecius, die neuesten Haiku aus dem Jahr 2010.
Krynicki gehört zu den Vertretern der Neuen Welle, einer Generation junger Dichter, die um das Ende des 2. Weltkriegs geboren wurden (Krynicki 1943, Zagajewski 1945, Baranczak 1946), die als Generation 68 nach der antisemitischen Kampagne des polnischen Staates in die Öffentlichkeit traten und die sehr schnell mit Zensur bis hin zu Publikationsverboten konfrontiert waren.
Bücher, Bilder, die Bernsteinkette,
die Wohnung, wenn wir sie erleben,
die Himmelspupille und den Tautropfen,
die Tigermuschel, den Pass, das Gedächtnis,
[…]
alles können wir verlieren,
alles kann man uns nehmen,
nur nicht das freie,
das namenlose Wort,
[…]
(aus „Bücher, Bilder“, in: „Unser Leben wächst“, 1978)
Man darf diese Zeilen als ein Manifest der Unbeirrbarkeit lesen, das sehr konkret das Ausgeliefertsein des Individuums gegenüber staatlicher Repression benennt. Auch in anderen frühen Gedichten bearbeitet Krynicki dieses Thema.
[…] Nachgeborenes Kind, vergebliches
Kind: Kaum erhebst du dich vom Kniefall,
wirst du zum Bannfluch.
(in: „Geburtsurkunde“, 1969)
[…] dieser Knebel, der den Aufstand der Wörter
niederschlägt, dieses gezähmte Tier
mit Menschenzähnen, dieses Unmenschliche, das in uns wächst
und uns überwuchert, diese rote Fahne, die wir ausspucken
zusammen mit dem Blut, dieses Gespaltene, das uns umgibt, diese
wahre Lüge, die uns täuscht,
[…]
(aus: „Die Zunge, dieses wuchernde Fleisch“, in: „Kollektiver Organismus“, 1975)
[…]
Die dienstreisenden Beamten tragen in den Aktentaschen Klappstullen,
die kleinen Länder sind für die Großmächte immer häufiger
Truppenübungsplätze,
und nichts ändert sich, es ändert sich der Unglaube, die Hoffnungslosigkeit,
sie nehmen zu,
bilden Imperien, schließen Freundschaftspakte,
die Menschenangst ändert die Sprache, […]
(aus: „Die sich immer weiter entfernen“, in: „Kollektiver Organismus“, 1975)
Bei Gedichtbänden, die das Werk eines Autors über mehrere Dekaden vorstellen, verfällt man leichter der Versuchung, nicht das Gedicht an sich auf sich wirken zu lassen, sondern die Biografie des Autors, die historischen Zusammenhänge mitzudenken und in eine Bewertung einfließen zu lassen. Es ist ein Leichtes, die zitierten Textstellen als ein Aufbegehren gegen Zensur und Selbstzensur zu lesen. Dafür braucht es keine vertieften Kenntnisse der polnischen Geschichte. Fragen nach der Wirkung der Poesie tauchen auf und zerren an der Unbeirrbarkeit. Dem Gedicht „Stärker als die Angst“ aus dem Band „Nicht mehr viel“ von 1981, dem Jahr, in dem das Kriegsrecht verhängt wurde, stellt Krynicki ein Epigraph von Czeslaw Milosz voran, die beiden nachfolgenden Zeilen.
Was ist Poesie, wenn sie weder Völker
noch Menschen rettet?
Und Miloszs „Vorwort“ von 1945 geht weiter mit den Zeilen:
Eine Komplizenschaft amtlicher Lügen,
ein Singsang von Säufern, denen bald jemand die Kehle aufschlitzt,
ein Lesestückchen aus einem Mädchenzimmer?
Krynicki, bei dem eine Entwicklung vom längeren hin zum kurzen Gedicht zu beobachten ist, findet eine präzise Antwort auf Miloszs Frage.
Schlechte Gedichte
bekehren den Despoten nicht.
Das gilt, leider, auch für die guten Gedichte.
(„Leider“, in: „Gedichte, Stimmen“, 1987)
Schmidgall betont, dass bei den späteren, kürzeren Gedichten der gesellschaftskritische Aspekt im Werk Krynickis nicht verschwindet. Er weise wiederholt hin auf
beklagenswerte Zustände (vor allem der Sprache) […]. Doch wesentlich wichtiger wird in seinem Schaffen die Reflexion über Leben, Tod, Vergänglichkeit, die Suche nach der Wahrheit.
Schauen wir uns „Leider“ noch einmal an. Die im Urteil Schnellen könnten sagen: leider kein gutes Gedicht, eine Oberflächlichkeit, schnell aufs Papier gebracht. Wäre das gerecht gegenüber der kleinen Schnecke, die den Gipfel vor Augen hat? Wir wissen von Krynicki, dass er seine Gedichte nicht abschließt, sondern sie zur Überarbeitung offen hält. Diese Arbeitsweise spricht, dem Wesen der Schnecke eigen, gegen Schnelligkeit, gegen Oberflächlichkeit. Folgerichtig, nähert sich Krynicki dem Haiku immer weiter an, dieser kondensierten Form des Dichtens und Denkens, das, ja!, eine Reflexion über Leben, Tod, über Vergänglichkeit darstellt. Aber, und das ist die Kunst des Haiku, immer am Beispiel einer konkreten Beobachtung, nicht anhand einer allgemeinen, oberflächlichen Aussage (mit denen wir kurzsilbig, werbewirksam im Internet überschwemmt werden).
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(aus: Neue Gedichte)
Ich lese Krynickis „Leider“ nicht als flaches Wortspiel, sondern als Essenz einer bitteren, durchlittenen Lebenserfahrung, ganz im Sinne Miloszs.