Rocío Cerón: „Diorama“

Die mexikanische Lyrikerin, Essayistin und Herausgeberin Rocío Cerón, 1972 in Mexiko City geboren, gibt ihrem Lyrikband von 2012 den Titel Diorama. Jetzt liegt dieser Band in deutscher Sprache vor. Die Übersetzung stammt von Hakan Özkan.

Kann ein Buch, zumal Cover und Rücken in schwarz gehalten, zu einem Durchscheinbild werden? Zu einem dreidimensionalen Schaubild?

Um sich dieser Frage, wie auch der Lyrik der Mexikanerin, zu nähern, braucht es Geduld, Aufmerksamkeit und jene mächtige Triebfeder gegen jegliche Art von Abschottung: Neugier. Diese erstreckt sich nicht alleine auf den vorliegenden Band, sondern, um es vorwegznehmen, beinhaltet alle verfügbaren elektronischen Quellen, wie Webseite und Blog der Autorin, darin zu finden Video- und Audiodateien ihrer die Mediengrenzen überschreitenden Arbeit.

Das erste Diorama von Louis Daguerre und Charles Marie Bouton erzielte 1821 einen riesigen Publikumserfolg in Paris. Die Zuschauer zeigten sich begeistert vom Zusammenspiel von Bild-, Licht- und Toneffekten. Waren das die ersten multimedialen Inszenierungen?

Wie  Cerón Multimedialität versteht und aufwändig inszeniert, kann auf ihrer Webseite u.a. zum Projekt Diorama eingesehen werden. Kein Zweifel, der Text in der Performance wird durch Bild, Licht und Ton bereichert, ja, angereichert mit neuen assozativen Ketten, die den Zugang zum Text ermöglichen oder auch erschweren. Das zu entscheiden, liegt im Auge der Betrachterin, im Ohr des Betrachters. Unabhängig, wie die Performance ankommt, bleibt sie als Gesamtkunstwerk von frappierender Schönheit und Autonomie. Mit Konsum, schnellem Genuss ist diesem Werk nicht beizukommen.

Eine Performance anderer Art bietet die 1974 in Guatemala City geborene Künstlerin Regina José Galindo, die 2003 mit „¿Quien puede borrar las huellas?“ gegen die Gewalt in ihrem Land, gegen den Schlächter Rios Montt und seine Machtclique ein kraftvolles Zeichen, eine Serie blutiger Fußabdrücke, setzt. 2005 auf der 51. Biennale in Venedig gezeigt.

Cerón nimmt direkt Bezug auf diese Arbeit.

Füße, die Gedächtnis schaffen
[aus: Gipfel – Tertiärer Sektor –]

meine Liebe, die Körper liegen immer noch vor der Tür.
Wer entfernt die Spuren?
[aus: Bricolage oder die unstete Erde der Nationen – II]

Dies führt zum gedruckten Buch und den um Bild, Licht und Ton entkleideten Gedichten, in ihre Nacktheit, ein starkes Femininum bei Galindo und Cerón, und der Frage, worum es in dieser Lyrik geht.

Berechtigte Fragen sind mitunter schwierig zu beantworten, einer Limitierung geschuldet: des Verstandes, des Gefühls, des nicht aufgefüllten Reservoirs an Worten, die in verschiedenen Kulturen und Historien, gleich verstanden, universell angewendet werden können. Und dennoch ist die Zuversicht berechtigt, intuitiv wahrzunehmen, was die Autorin umtreibt.

[…]
»ein tönender Amboss zertrümmert die Paukenhöhle,
durchexerzierter Akkord des allerschwärzesten Schreckens,
wo unser Jahrhundert aufbewahrt wird.«
[aus: Einhundertzwölf – I]

Es geht um Schrecken, Terror und es geht um notwendige Heilung in einem allumfassenden Sinn.

[…]
Dann die Mündung des Flusses:

nicht die Wasser Baden-Badens
(wo du hingingst, um Heilung zu suchen)
[…]
[aus: Nahaufnahme einer Drehscheibe (Querschnitt)]

Aus diesen wenigen Zeilen wird deutlich, dass die Geschichte eines Kontinents, die seit der Conquista herrschenden Gewalt durch die Unterdrücker, im Körper Ceróns aufbewahrt ist. Krankheit und Heilung sind ebenso individuell wie kollektiv. Das Körpergedächtnis findet seinen Ausdruck in der Krankheit, die viele Gesichter hat. Cerón versammelt sie in ihrem Diorama.

Damit das keine vage Behauptung bleibt, riskiere ich ein Experiment: Indem ich dreizehn Verse aufrecht stelle und sie die Schwärze durchstechen lasse, will ich aus dem Buchdeckel ein Durchscheinbild auferstehen lassen. Ob es gelingt?

Zigarre und Rauch. Rosiger Zypressentraum. Duft weht

Diese Landschaft ist keine Politik: Lücke, Zielscheibe

Lorezepam – die Oberfläche der Dinge: Stahlrohre

Willenskräfte. Ein Mann verkündet sein Verschwinden

Eine mundtote Sonne im Rio Bravo oder dem Amazonas

/Vorstadtsiedlung Armenviertel Gated Community/

Kardendistel, die den Schmerz auflöst

Fülle das Bühnenbild um, tausche die Figuren aus

Geografie oder Korrosion. Belagertes weißes Land

kein Gefängniswärter, kein Henker, kein Schuldner

Superstrings – topoi – vibrierende Fäden aus Neuronen

Party der Bosse, bengalisches Feuer und Raketen

Gegenden, wo die Pupille sich dematerialisiert/

Das Bild ist noch unscharf, aber ich beginne, Konturen zu erkennen.
13 Arten eine Ecke zu bewohnen, der den Band eröffnende Zyklus, ist ein Scharnier zwischen Wirklichkeiten.

Es ist an uns, hinzusehen, hinzuhören und weitere marginalisierte Räume auszumachen und zu benennen.

Hören Sie den Puls? Sind Sie anderer Meinung?