Yuri Herrera: „Abgesang des Königs“

Der mexikanische Schriftsteller Yuri Herrera, 1970 in Actopán geboren, hat in seiner Dankesrede zur Verleihung des Anna-Seghers-Preises 2016, die auszugsweise in der neuen Ausgabe von alba. lateinamerika lesen abgedruckt ist, die Aufgabe der Literatur in wenigen Worten zusammengefasst (Übersetzung: Susanne Lange).

Wir schreiben nicht, um jemanden zu befriedigen, unsere Arbeit besteht darin, die Erwartungen dessen nicht zu erfüllen, der glaubt, alles schon verstanden zu haben. Die Literatur erklärt nichts, segnet nichts ab, bietet keine einfachen Antworten, im Gegenteil, sie will den Zweifel schüren, ausgehend von einem ästhetischen Ereignis.

Diese Sätze im Gedächtnis, ist es reizvoll, Herreras Debütroman „Abgesang des Königs“ von 2008 (deutsche Ausgabe: 2011, Übersetzung: Susanne Lange) zu lesen.

[Dass ein solch starkes Buch bereits sechs Jahre nach Erscheinen aus dem Bestand einer Stadtbibliothek ausscheidet und antiquarisch für ein Euro feilgeboten wird, lässt mich einmal mehr ratlos zurück.]

El Rey hat ein Imperium aufgebaut. Er kontrolliert den Drogenhandel von Mexiko in die USA, hat sein Kartell durch die gefährlichen Mischung aus Gewalt und Mildtätigkeit gegenüber dem einfachen Volk installiert. Er residiert. Er lenkt. Er mordet. Er schreibt seine Gesetze selbst. Die Günstlinge, die ihm nach dem Mund reden, haben einen Wasserkopf der Macht entstehen lassen, in dem sich jeder duckt und geduldig auf seinen Vorteil wartet.

Lobo, einer aus der verarmten Schicht, der sich nur mit Mühe das Lesen und Schreiben angeeignet hat, aber mit dem Akkordeon umzugehen weiß und wie er mit Liedern Menschen schmeicheln kann, wittert seine Lebenschance und dient sich dem König an. Im Hofstaat steigt er schnell zum Künstler auf. Und kommt dabei der Macht gefährlich nahe.

Herrera gelingt ein treffendes Portrait einer Gesellschaft, die nur noch scheinbar von einer Zentralregierung gesteuert, in Wirklichkeit jedoch von Kartellen ausgesaugt und verraten wird, mithin ein Portrait seiner Heimat. Darüberhinaus schreibt er allgemeingültig über Machtmechanismen, die universell gelten. Seine Figuren verlieren ihre Individualität am Hofe. Sie werden reduziert auf ihre Funktion: der Künstler ist sicher neben den Sexsklavinnen das schwächste Glied in der Kette. Es gibt den König, seinen Stellvertreter, den Geschäftsführer, den Gringo (Handelsvertreter), den Juwelier und so weiter und so fort.

Eine Handbewegung des Königs reicht und man ist fort.

Das erinnert mich an eine Passage in Christoph Ransmayrs „Die letzte Welt“, in der Naso, der römische Dichter Ovid, sich der Macht annähert und schließlich fallen gelassen wird, das Geschehen in vier kurzen Phasen skizziert.

Phase 1 – Verbot, Zensur
Am vierten Abend hinderte ein berittener Polizeitrupp mit Stahlruten und langen Gerten das Publikum am Betreten und die Schauspieler am Verlassen des Theaters; dabei wurden Schauspieler wie Zuschauer verletzt. […] Ein Senator aus Ligurien […] hatte die Komödie verbieten lassen.

Phase 2 – Folgen des Verbots
Und weil dieser Skandal schließlich auch für ihn selbst so gänzlich unerwartete Wirkungen zeitigte – auch die Losverkäufer, die Fisch- und Limonadenhändler, die Geldwechsler und Analphabeten kannten nun seinen Namen – widersprach der Dichter der weiteren Entwicklung nicht mehr. Er wurde also populär.

Phase 3 – Die Rede
Dann auf einen Wink des Imperators, der nach sieben Reden schon gelangweilt schien […], trat Naso in dieser Nacht vor einen Strauß schimmernder Mikrophone […], vergaß sich selbst und sein Glück, trat ohne die geringste Verbeugung vor die Mikrophone und sagte nur: Bürger von Rom.

Phase 4 – Der Apparat, der Bannspruch
So wie das Bild des Dichters und der Inhalt seiner Werke den Weg nach oben gefunden und sich dabei verformt und verwandelt hatten, so nahm nun das Zeichen des Imperators, die tief eingegrabene Erinnerung an eine flüchtige Bewegung Seiner Hand, den Weg durch die Überlieferung zurück nach unten und unterlag dabei den gleichen Gesetzen der Verzerrung. […] Irgendwo also tief unten, schon ganz nahe am wirklichen Leben, befand schließlich ein Vorsitzender, es war kurz vor der Mittagspause, und diktierte einem teilnahmslosen Schreiber in der Gegenwart zweier Zeugen, daß eine Bewegung Seiner Hand Fort bedeute: Aus meinen Augen! Aus den Augen des Imperators aber hieß, ans Ende der Welt.

Herreras Roman, Ransmayrs Roman, zwei zeitlos gültige Bücher!