Literaturzeitschrift alba10: Schwerpunkt Mexiko

Die 10. Ausgabe von alba. lateinamerika lesen ist ein Fest für neugierige Augen, die bereit sind, Fernes, vielleicht noch Unbekanntes zu lesen und mit einer feinen Grafik verwoben in neuen Zusammenhängen zu sehen. Der Schwerpunkt dieser Ausgabe ist mexikanische Literatur.

Neben dieser Ausgabe habe ich alba08 (Aufstrebende chilenische Literatur) in meinem Zeitschriftenregal und hier besprochen.

Wenngleich ich Ende der achtziger Jahre einiges an iberoamerikanischer Literatur in deutscher Übersetzung gelesen habe, bin ich doch nicht sehr vertraut mit den zeitgenössischen Autorinnen und Autoren dieses Teils der Welt.  alba ist für Leute wie mich genau das richtige Medium, um einen kompakten Überblick über die dortige Literaturszene zu bekommen. Die alba-Redaktion gibt in einem Interview Auskunft über die Grundidee des Magazins.

Von kleinen Abstrichen abgesehen (Lesbarkeit der deutschen Übersetzungen in zu hellem Grau, Pagnierung) ist das Layout des Heftes perfekt. Es gibt Grafiken, die mit den Texten kombiniert sind, sehr schön umherschwirrend beispielsweise bei Paula Abramos „Moscas/Fliegen“, andere, vornehmlich bei Prosatexten, sind an den Anfang gestellt und erreichen deutlich eine Werkhöhe, die nicht den Text im Sinne eines untergeordneten, dienenden Elements illustrieren,  sondern gleichberechtigt neben den Texten stehen. Hier sei Diego Castillos Zeichnung „La cosita“ zu María Del Carmen Pérez Cuadras „Süßes Ding“ genannt. Folgerichtig werden am Ende der Ausgabe auch die Grafik liefernden Künstlerinnen und Künstler kurz vorgestellt.

Mit Rodolfo Lara Mendoza (* 1973) bahne ich mir den Weg von der Grafik zur Literatur. Der Kolumbianer unternimmt den stets schwierigen Versuch, ein Kunstwerk, hier das Werk „Espíritus y Sal“ von Víctor Esquivel, welches das wunderbare, atemberaubend schöne Cover von alba 10 ziert, in einem Gedicht zu würdigen und als Ausgangspunkt für eigene Gedanken zu nehmen. Bleibt die erste Strophe noch in der Bildwelt des Künstlers haften, wird Mendoza in der zweiten Strophe von seiner Vorlage unabhängig.

Also gibt man sich zufrieden.
Gewöhnt sich nach und nach an die Routine,
die den Wunsch vernichtet, jemand zu sein,
die Traurigkeit darüber, es zu werden.
[…]

(Übersetzung: Sarah van der Heusen)

In der Rubrik Berlínstant, die sich jenen Schreibenden zuwendet, die von Berlin bzw. ihren Eindrücken von deutscher Kultur inspiriert worden sind, werden Yuri Herrera (* 1970) , Rocío Cerón (* 1972) und Juan Pablo Villalobos (* 1973) vorgestellt.

Über Herraras Rede zur Verleihung des Anna-Seghers-Preises 2016 habe ich bereits in einem anderen Blog-Beitrag gesprochen. Cérons Gedicht „Borealis“ stammt aus ihrem neuesten, 2016 in Mexiko erschienenen Gedichtband gleichen Namens. Gerade dieses Jahr ist  ihr 2012 veröffentlichter Band „Diorama“ dem deutschen Lesepublikum zugänglich gemacht worden. Villalobos‘ „Picknick in Berlin“ spielt mit den Klischees von deutscher Wurstgemütlichkeit und korrektem Bio-Vegetarismus. Unerhört (sicher war das Wort gut gemeint: mexikanische Kunst ist unerhört) ist das Schlüsselwort einer unvollendeten Kommunikation.

Von den längeren Texten möchte ich je drei Prosa- und Lyrikschreibende vorstellen.

Ana García Bergua (* 1960) führt uns in Despertar/Wach auf! auf eine Schnellstraße zwischen Mexiko-Stadt und Cuernavaca. Nora weiß nicht, wie sie dort hingekommen ist. Sie versucht, nach Hause umzukehren, versucht aus dem Alptraum auszusteigen, die Augen nicht in einem falschen Film, sondern im richtigen Leben zu öffnen und ihrer fünfjährigen Tochter Sandra und ihrem Mann Juan zu begegnen. Im Traum, wenn es einer ist, erkennt Sandra ihre Mutter am Telefon nicht. Sandras Stimme klingt gealtert. Schließlich gelangt Nora nach Hause, aber dort lebt Juan mit einer jungen Frau zusammen.

Ich legte mich in das Bett, das sehr anders war als meines. Die Beine taten mir schrecklich weh.
Ich öffnete die Augen, endlich war ich wach. Bei mir zu Hause, in meinem Bett. Ich spürte große Erleichterung.
[…]

(Übersetzung: Christiane Quandt)

„Wach auf!“ ist die Erzählung einer kurzen Entfremdung, die mit Traumbildern und Rätseln uns wegführt von der kühlen Ratio unseres Verstands hin zu den Urängsten, die wir alle mit uns herumtragen und die um unsere Liebsten kreisen.

In sechs Abschnitten würdigt Paula Abramo (* 1980) in ihrem Gedicht Moscas/Fliegen die Lästigkeit eines Insekts.

II

Die Wissenschaft der Fliegenforschung
verzeichnet ungewöhnliche Bezeichnungen
für die Welt der Fliegen, zum Beispiel:
nicht Flügel, sondern mouches volantes. Nicht Luft, sondern
Körpersaft. Nicht Flug, sondern: Verfransung, Kondensation.
Nicht die vita brevis des Insekts.

Abramo zielt auf eine veränderte Wahrnehmung, die Anzeichen einer Erkrankung (Glaskörpertrübungen) sein kann. Daher ist ihr Aufruf: Suchen Sie einen Arzt auf, /sehen Sie sich vor ein wohlgemeinter Hinweis, nicht allzu ernst im Ton und doch hintergründig. Am Ende fliegen die Fliegen

Auf der leeren Seite
und am Himmel.
Mit meinem eigenen Maß
Unendlichkeit.

(Übersetzung: Rike Bolte)

Mit El Sonido de la H/Stummer Laut von Magela Baudoin (* 1973) wird ein Ausschnitt aus einem Roman vorgestellt.

Der Körper lag in der Badewanne, noch immer groß gewachsen, trotz aller Verstümmelungen und Versuche, ihn klein zu machen. Männer fallen mit den Jahren in sich zusammen, heißt es. Bei ihm waren die 1,78 m, die er in der Pubertät erreicht hatte, wie ein Markenzeichen unverändert intakt, genauso sein Lächeln, dem nicht einmal der stromschlagartige Infarkt etwas hatte anhaben können. Wir hatten uns seit 25 Jahren nicht gesehen. Vielleicht ließ der durchdringende Duft der Blumen aus diesem Grund die Ahnung von einer durch das Vergessen entstellten, vergangenen Wahrheit in mir aufleben; und das schnürte mir die Kehle zu.
Rafaela war immer eine Selbstmörderin gewesen, und doch nahm sie sich nicht das Leben; sie war kein Feigling.

Das ist ein starker Auftakt für den nachfolgenden Rückblick auf die eigene Körperlichkeit der Ich-Erzählerin gespiegelt im beginnenden Transformationsprozess des jungen Rafaels, aus dem Rafaela werden wird.

Die Zurschaustellung ihrer Weiblichkeit war ein Schrei, ein sexueller Aufstand, ohne die geringste Angst davor, sich voll auszuliefern oder ins Leere zu laufen.

Sätze wie diese, wenn sie auch gelegentlich zu sehr nicht gezeigte Behauptung sind, zeigen eine unprätentiöse Sprache, die im Gegensatz zu den schillernden Auftritten Rafas steht.

Da stand sie, mit einem Muttermal so schwarz wie das Schicksal. Sie trat auf und zog alle Aufmerksamkeit auf sich, während ich mir heimlich mit den Ärmeln der Uniform die Farbe vom Gesicht wischte. Atemberaubend ist ein Wort, das sie nur annähernd beschreibt. Sie war als Marilyn gekleidet und war dabei keine Parodie, sondern eine Erscheinung.

Sehr berührend ist das Gespräch zwischen den beiden Jugendlichen, das Tabus bricht.

„Und das andere lässt du dir nicht operieren?“, sagte ich und gab Acht, es nicht beim Namen zu nennen.
„Was denn?“, sie schaute an sich herunter.
„Na was wohl!“, ich kicherte nervös.
„Das ist eine Frage von Zeit und Geld. Wenn ich das Geld hätte, würde ich es gleich morgen machen lassen. Aber weil ich mir nicht alles auf einmal leisten kann, mache ich es Stück für Stück. Zuerst das, was man am meisten sieht. Die Brüste und die Hormontherapie. […]

(Übersetzung: Christiane Quandt)

Sechs Gedichte von Yolanda Pantin (* 1954) aus verschiedenen Bänden werden vorgestellt.

Ich bin verwegen wie ein Küken
oder ein Nagetier in seinem Revier.
Beim Gehen senke ich den Kopf,
weil ich fürchte, zu stolpern (ein Stein,
eine Mangoschale).

[…]
(aus: Mut)

Sich der Zerbrechlichkeit bewusst sucht das lyrische Ich Pantins die Flucht nach vorne. Die Welt gehört den Verwegenen, nicht denen, die die Köpfe senken. Die Selbstverortung, hier deutlich aus femininer Perspektive, die sich mit Vater und Vaterland auseinandersetzt, gerät überzeugend.

Vaterland
ist deine dunkle Gegenwart,

Gewöhnliches,
aus dem auch du bestehst.

Dies werden
deine Flaggen.

[…]
(aus: Vaterland/das sind Gerüche aus der Kindheit)

Der Blick auf das Familienerbe gerichtet, schreibt Pantin:

Ich bin jene auf dem Bild.
stehe

da zwischen Angst und Fassungslosigkeit.

[…]
(aus: Erbe [Fragment])

Überlebensinstinkt kann in Panik umschlagen, das lehrt die Tierwelt.

Nichts versichert
einer Gazelle ihr Verbleiben
sondern bestätigt – im Gegenteil –
[…]
ihre Zerbrechlichkeit
die schließlich Panik wird.
(aus: Gazelle)

(Übersetzung: Claudia Sierich)

Cosita/Süßes Ding von María Del Carmen Pérez Cuadra (* 1971) ist schamlos. Aus dem Ding, niedlich und zart entwickelt sich mit etwas Milch ein Wesen mit riesigen Brüsten, das beiderlei Geschlecht gleichermaßen anzieht.

Der Mann bemerkte, dass dieses Ding, das für ihn nun aufreizend geworden war, keine Kleidung brauchte, es war blind, sprach nicht und das einzige, was es gerne tat, war, mit geöffneten Beinen herumzuliegen und auf ihn zu warten. So fand er auch heraus, dass sich das Ding von innen anfühlte wie ein Mahlwerk, da sich sachte, heftig, wild oder zitternd bewegte.
Sie hatte ihrerseits festgestellt, dass das Ding wie eine Tochter war, die eine stark entwickelte Klitoris hatte. Eines Tages berührte sie diese, als sie es badete, versehentlich und das Organ schwoll an, reckte sich plötzlich rot und wurde so groß wie das Geschlechtsteil eines Esels. Das erregte die Frau so sehr, dass …

Das Unglück in der Beziehung zwischen Mann und Frau ist nicht aufzuhalten, der Mann haut mit dem Ding, seinem Sexspielzeug ab, überzeugt, seine Männlichkeit ausleben zu können, die Frau presst eine weiteres Ding aus ihrem Unterleib und stirbt.

Das erinnert an die „Invasion of the Body Snatchers“, einem Sci-Fi-Film von 1978, bei dem die Übernahme der Welt durch die Körperfresser allerdings ohne schamlosen Sex auskommt.

… eine unauffällige Meldung: „Zu den Verwüstungen des gestrigen Gewitters wird auch das Erscheinen einer unbekannten Spezies in allen Straßen der Stadt gezählt, die möglicherweise ihrem natürlichen Habitat entrissen wurde. Wir wissen nicht, woher diese Wesen kommen, aber es wird gemeldet, dass einige zum Leben erwachen, wenn sie mit warmer Muttermilch gefüttert werden.“

(Übersetzung: Christiane Quandt)

Xitlalitl Rodríguez Mendoza (* 1982) wird mit zwei Gedichten präsentiert. Poemarin folgt einem Erzählstrang. Es geht um die Verpflichtung zum Leben, zur gesunden Ernährung und den damit verbundenen Zwängen, die den eigentlichen Wünschen des lyrische Ich entgegenstehen.

Die Ärztin, ein Jahrzehnt
jünger als ich,
siezt mich
sagt aber, wir Patienten seien wie
kleine Kinder
die laufen lernen
und das verschafft ihr die Rolle
meiner Mutter.

Sie schimpft mit mir,
weil ich kein Obst mag
[…]

[…]
und so Zeit zu haben,
um Farne beim Wachsen
zu beobachten
die wie ich
metallische Insekten
dieser bereits ausgestorbenen Stadt
durch die Lüfte  transportieren.
[…]

Atemstillstand im Schlaf ist dagegen eher der hermetischen Lyrik zuzurechnen, es ist meines Erachtens das interessantere der beiden Gedichte.

das hier ist wasser / ich atme / eine sauerstofflichtung im kiemenwald /
fisch in der luft / ich atme / sekundenschlaf von drei bis vier
sekunden auf einem bett aus sand / blauhai / wie jedes tier
[…]

(Übersetzung: Diana Grothues)

Ergänzt wir die Ausgabe u. a. durch Interviews mit Luiz Ruffato und Guadalupe Nettel, einer Würdigung des Übersetzers Carl Heupel und eines Rückblicks auf die radikale Radioavantgarde Estridentismo.

Eine sehr lesenswerte Ausgabe!

alba. lateinamerika lesen erscheint einmal jährlich in Berlin. Einzelverkaufspreis 7,50 €
Web: www.albamagazin.de und www.facebook.com/revista.alba