Jerome Rothenberg: „Khurbn“

where the warm flux inside the corpse
changes to stone

Erst war langes Schweigen. Zur Scham gesellte sich Verdrängung, schließlich Gedächtnisverlust.

1979 trat in mein damals 14 Jahre altes Leben das Wort Holocaust. Es kam als Titel des US-amerikanischen Vierteilers „Die Geschichte der Familie Weiss“, klopfte an in unserem Wohnzimmer und bat über den Fernseher Einlass. Gegen den Widerstand meines Vaters wurde dieses Wort in unsere wie in unzählig weitere deutsche Familien gebracht und setzte sich fest.

Sehr viel später erst, schon im 21. Jahrhundert, trat das Wort Shoah hinzu. Wenn meine Erinnerung nicht trügt, war Claude Lanzmanns 540 Minuten dauernder Film auf mehreren VHS-Videokassetten.

Nun also: Khurbn. Ein drittes Wort für den Grund des langen Schweigens. Ein Schweigen, das sich mit einem deutschen Wort nicht füllen lässt, es sei denn, man verwendet den verbrecherischen Euphemismus Endlösung, nutzt die Lingua Tertii Imperii.

In seinem nun in deutscher Sprache erschienenen Band „Khurbn“, übersetzt von Barbara Felicitas Tax und Norbert Lange, schreibt der 1931 in New York geborene Jerome Rothenberg in seinem Nach/Wort über seine Reise nach Polen im Jahr 1988.

Als ich die Grenze überquerte, hatte ich das Gefühl, mich in eine noch immer zerstörte Welt hineinzubegeben – eine leere Welt – eine Geisterwelt. Während wir an der Grenze warteten, saßen wir im Auto neben einer Reihe von Lastern, die Vieh geladen hatten, auf dem Weg zum Schlachter. Sie brüllten. Es hörte sich schwer an – verloren und voller Schmerzen. Die Luft roch nach Exkrementen, selbst ein Tier. Ich ging in ein Klo, um mich zu erleichtern, zu pissen, und mich überwältigte der angestaute Menschengeruch.

Es fällt schwer, dieser Passage folgend, nicht an die Schlachthausszenen aus Ildiko Enyedis Film „Körper und Seele“ zu denken. Dazu waren die Bilder dieses zarten Liebesdramas zu eindringlich. Was dort gezeigt wird, ist der Arbeitsplatz zweier Menschen, die mit der industriellen Verwertung von Vieh ihr Geld verdienen: Blut, Haut, Fett, Scheiße.

Rothenberg entscheidet sich, den industriellen Aspekt der Menschenvernichtung zu benennen. Es ist anderer Weg, das Grauen zu verarbeiten, kein „Grab in den Lüften da liegt man nicht eng“. Wie auch Michael Hamburger (1924-2007) hat Rothenberg Paul Celan ins Englische übertragen. In seinem Gedicht „Security“ schreibt Hamburger

… I could have been parchment
Cured and stretched for a lampshade …

Was bedeutet die totale Verwertung menschlicher Körper? Wie zieht man die Haut ab? Wie lagert man das Haar? Wohin fließen Blut und Schleim? Und wo bleibt die Seele?


die Haufen Kleider      Juden
es ist nicht gut es ist euer eigenes trauriges Fleisch
das hier hängt      zur Strecke gebracht        wie Tiere
das Blut gerann zu einem Gelee
eine Achsel durch die eine Herzkammer platzte
& ihn kreischen baumeln ließ
ein grober Knebel stach durch seine Zunge
ein anderer durch seinen Hodensack     sieht er
einen Mund       ein Loch      ein rotes Loch
die scharlachroten Reste des Kinderfleisches
ihre Augen gefrorene Babymuscheln
so saftig dass der blonde ukrainische Wachposten
schmollend hinter seinem Sonnenschirm aufspringt
& sie zwischen seinen Eisenzähnen einsaugt
& seinen Schlund hinab, Kügelchen
aus Fett & Scheiße kackt
die in die Grube kullern wo das Opfer –
das Mädchen ohne Zunge – hinaufstarrt
& ihrem letzten Herzeleid folgt
[aus: 8 Nokh Aushvits (Nach Auschwitz)]

Die Seelen verlieren sich, geistern umher und fahren als Dibbukim in die Körper der Überlebenden ein. Die Abwesenheit, die Leere, sie ist in Rothenbergs Worten unbegreiflich greifbar und zugleich begreiflich ungreifbar.

auf der Honigstraße in Ostrowo
wo sind die Honigleute hingegangen?
leer      leer
Miodowa leer
leere Bäckerei & leere Straße nach Warschau
gelbe Holzhäuser & Häuser zugepflastert mit Stuck
der Schatten eines leeren Namens noch an ihren Türen
Shadai & Schatten zertrümmern die Muttersprache
der Mutter Zunge nichts als leer
so wie die Straßen leer sind auf denen wir gehen

[aus: 1 Dos Oysleydikn (Die Entleerung)]


meine Hand ist abgenagt
auf den Knochen      muss brüllen

wie eine Färse
& kriechen durch ihr Blut

meine Kinder mir abgeschnitten
(ihre Seelen

verstopfen meinen Mund     Zähne
eingefroren

der Raum wird Eis

bei Mondschein

er fliegt durch die Wälder

[aus: 3]

„Khurbn“, Band 13 der Reihe P, herausgegeben von Joachim Sartorius, Hans Thill und Ernest Wichner, ist kein schönes Buch, aber ein notwendiges. Es ist ein bedeutender Verdienst, Rothenbergs Gedichte von 1989 in deutscher Sprache zugänglich gemacht zu haben; den teilen sich der Verlag und die Herausgeber der Reihe mit der Übersetzerin und dem Übersetzer.