Auf der gerade zu Ende gegangenen Frankfurter Buchmesse 2017 hatte ich die Gelegenheit und das Vergnügen, einer Lesung von Wolfgang Schiffer zu lauschen, der als (Mit-)Übersetzer das Lyrikdebüt des isländischen Schriftstellers, Künstlers, Grafik-Designers und Filmemachers Ragnar Helgi Ólafsson, 1971 in Reykjavík geboren, in der Lyrikbuchhandlung präsentierte.
Das Buch ist, wiewohl es gerade erst im Herbst erschien, bereits überraschend oft wahrgenommen worden, es gibt eine Besprechung im Signaturen-Magazin und auf Blogs. Unverständlich hingegen, dass es bei der Präsentation der Icelandic Publishers Association in Halle 5.0 nicht ausgestellt war und in einem Gespräch darauf verwiesen wurde, das Buch sei von 2015. Ja, das Original, nicht aber die Übersetzung von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer! Welchen Sinn macht es, wenn das Ergebnis der durch ein Translation Grant geförderten Arbeit nicht auf einer internationalen Buchmesse zu sehen ist?
Eine Besprechung der zweisprachige Ausgabe von „Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können“ kann sich nicht nur auf die Texte beziehen, ist doch das Coverdesign und die grafische Ausarbeitung jener kreis- oder spiralförmig angeordneten Gedichte von Ólafsson auch in der deutschen Fassung gestaltet worden. Es wird der Mehrfach-Ausbildung des Isländers gerecht, auch diese Teile (kritisch) zu untersuchen.
[Mehr noch, das geschieht jedoch außerhalb des Buches, sind seine multimedialen Inszenierungen zu würdigen. Ich verlinke hier und stelle dem einen zweiten Link zur Seite, der zu einer Performance der mexikanischen Lyrikerin Rocío Cerón führt.]
Der lange Titel wirft Fragen auf. Was will uns der Autor sagen? Wenn du dich nicht in deiner Gegenwart finden kannst, vielleicht weil du nicht (mehr) lebst, dann kannst du Gegenwart in meinen Texten finden. Oder aber, ganz zum Trost: Wenn du es nicht kannst, dann sind wir schon zwei. Ich kann es auch nicht.
Ich denke, die erste Variante weist in die richtige Richtung, denn Gegenwart, mit all ihren unmittelbaren, lebendigen und divergierenden Stimmungen, ist das, was die Texte Ólafssons prägt. Sie sind frisch, manchmal ungestüm, eher selten nachdenklich (im Nachdenken ist die Gegenwart der Vergangenheit ja unvermeidlich).
Ich lehne Vergleiche ab.
Nichts ist wie nichts.
Ich lehne Vergleiche ab.
Das was ich sage ist.
Ich lehne alle Vergleiche ab.
Alles ist das was es ist.
…
Meer ist Meer.
Milch ist Milch.
Punkt ist Punkt.
(aus: Nichts wie nichts)
Dieser unschlagbaren Logik zufolge ist ein Spiegel ein Spiegel. Wenn nicht mehr dahinter ist, warum taucht der Spiegel mehrfach in den Gedichten auf. Ist er nicht doch ein Gegenstand der (Selbst-)Vergewisserung, der Reflexion?
… Sie betrachten jeden einzelnen Spiegel
eingehend persönlich, indem sie in ihre eigenen
Augen starren, vollkommen furcht- und regungslos,
vier Minuten lang. Vier Minuten dauern länger, als
man denkt. Und findet sie/er nur einen einzigen
Fehler, eine Falte oder einen Sprung im Spiegel
(egal wie winzig er sein mag) dann schickt sie/er
den Spiegel ohne ein Wort in den Müll.
…
(aus: Sie/Er)
In Böhmen wirst du im Schlafzimmer
keinen Spiegel finden.
Dort wird es als gefährlich angesehen,
wenn ein schlafender Mensch
sein Spiegelbild sieht.
In Böhmen wissen die Menschen,
dass ihre Selbstbildnisse zerbrechlich sind.
Eins gibt es, worüber ich immer nachdenken muss:
Was passiert,
wenn ein Chamäleon
in den Spiegel schaut?
(aus: Noch ein paar Worte über Spiegel)
Natürlich ist die allgegenwärtige Gegenwart in der Lyrik Ólafssons Teil eines intelligenten Spiels mit der Zukunft und der Vergangenheit.
Der Morgenhimmel über den Blaubergen erinnert
mich unheimlich stark an das Blau und die Wolken
über Venedig im Jahr 1491 (siehe das Werk des
Renaissancemeisters).
…
Wir hier im Norden haben um die fünfhundert Jahre
gebraucht, um es anständig kopieren zu können.
(aus: 1991 – 2013)
Hier spielt die Natur mal eine Rolle. Aber entgegen der Klischees über isländische Natur, auf isländische Lyrik ungefragt und inkompetent übertragen, ist sie in dieser Textauswahl von untergeordneter Bedeutung. Und doch:
Die Sonne ruhte in unseren Händen
und niemand stahl Milch.
Wir gingen umher, ohne Schatten.
…
(aus: Der letzte Wintertag)
Hier eine großartige Stille in den Worten, dort eine ansteckende Heiterkeit, die sich dem deutschen Publikum nicht verschließt.
…
Ich habe aufgepasst, die Seelöwen nicht
gefühlsmäßig an mich zu binden. Ich versuche,
nicht zu lächeln, wenn sie anfangen, irgendwelche
Kunststücke für mich aufzuführen, sobald ich
mit den toten Fischen im Zuber durch die Tür
der Waschküche komme. Einmal hatte sie
einen koordinierten Sprung herab vom Trockner
vorbereitet, ein andernmal eine Art Ballspiel in Szene
gesetzt mit einem alten platten Fußball, der aus
irgendeinem Grund in der Waschküche gelandet
war. Ich mache mir nichts aus solchen Mätzchen.
…
(aus: Einige Worte über Gefühlsnähe)
Freilich ist es notwendig, dass Klischees durchkreuzt werden. Ich hätte mir gerne etwas mehr Natur gewünscht, den vorletzten Wintertag und vielleicht auch noch den vorvorletzten.
Das Design des Buches ist an anderer Stelle gelobt worden. Es ist, wie bereits gesagt, ebenfalls vom Autor verantwortet worden. Ich frage mich, kann der Grafik-Designer Ólafsson zufrieden sein?
Wenn die Ambition hoch ist, läuft man Gefahr, an ihr gemessen zu werden. Die kreisförmigen Ausstanzungen der Vorder- und der Rückseite machen notwendig, dass der Text absolut zentriert sitzt. Kann man noch mit gutem Willen auf der Vorderseite eine Auge zudrücken, so ist die Rückseite gescheitert. Der Text klebt rechts oben fast am Kreis, deutlich außermittig, jedenfalls in meinem Exemplar. Mir ist klar, dass es sehr schnell zu solchen Verschiebungen kommen kann, aber wenn das dabei herauskommt, war die Ambition zu hochgesteckt.
Desweiteren finde ich die hohe Anzahl von zwei Leerzeichen in den deutschen Übersetzungen störend.
Ich werde mich nicht dazu äußern, ob ich ein
komplexes oder einfaches Ding bin.
(aus: Eigenfrequenz)
Wer mich nicht versteht, zwischen dem Komma und „ob“ stehen zwei Leerzeichen. Unnötig, denn es lassen sich solch im Arbeitsstand unvermeidlichen Fehler so leicht mit „Suchen und Ersetzen“ finden. Wofür arbeiten wir mit Schreibprogrammen?
Ein Letztes: Das isländische Wort Bútan heißt im Deutschen weder Butan (wie im Gedicht „Noch keine Postkarte“ ) noch Buthan (wie in der Biografie Ólafssons), sondern Bhutan.
Das ist kein Grund, mit einem schlechten Eindruck aus dieser Besprechung herauszugehen, sondern Motivation, das Wissen durch Lesen über mehr oder weniger weit entfernte Länder (Island, Bhutan) anzureichern.
Meine Freundin ist in Bhutan, mit all meinem
Ersparten. Die Idee ist, dass sie in unser beider
Namen in einem abgelegenen Tal eine Hütte kauft.
Es ist eine Holzhütte mit Blechdach. Sie steht mitten
auf einem Berghang, der mit tiefgrünem, hüfthohem
Buschwerk bewachsen ist. Wann man steht, kann
man in jede Himmelsrichtung blicken, doch wenn
man sich hinlegt, verschwindet man.
…
(aus: Noch keine Postkarte)