Simone Scharbert: „Erzähl mir vom Atmen“

Atmen Gedichte?

Ja sicher, täten sie es nicht, sie wären tote Worte. Um der Lebendigkeit willen lese ich Gedichte! Die Worte, gleich wie sie gesetzt sind, sprechen mit mir. Bin ich als Empfänger gut eingestellt, habe die richtige Wellenlänge, geschieht sofort etwas in mir, mit mir. Oft genug habe ich gehört, Gedichte müssen für sich, aus sich selbst heraus sprechen. Und doch: manchmal brauche ich Zusatzinformationen.

Simones Scharberts Lyrikdebüt „Erzähl mir vom Atmen“ liefert im Annex drei Kurzbiografien von Frauen, die, wie ich denke, für die Lektüre essentiell sind: Anna Atkins, Alice James und Francesca Woodman.

So geht der Weg ins Buch zunächst aus dem Buch heraus, um Hintergrund anzureichern. Dass dabei Fotografie eine entscheidende Rolle spielt, verwundert diejenigen nicht, die Schaberts Kolumne aufgelesen auf Fixpoetry kennen. Hier zeigt sie sich nicht nur als Person, die in Erinnerungsräumen wandelt und dabei wichtige Arbeit leistet, sondern als Fotografin, die mit einem guten Auge für Stadt- und Landschaftsräume und ihren wechselseitigen Beziehungen zum Menschen ausgestattet ist.

Räume, Körper und Leere sind zentrale Begriffe in einer Lyrik, die untersucht, wer das Ich ist, wer das Du. Das ist immer ein Teil Selbstbefragung, ein Teil Beziehungsarbeit. Einatmen, der Rückzug auf das Ich, Ausatmen, das Zugehen auf andere, das Sprechen. Gerade die Zusammenhänge zwischen Ausatmen und Sprechen untersucht Scharbert.

In „On being ourselves“, ein starker Einstieg in den Band, ist das Du Woodman, eine Fotografin, die sich mit 23 Jahren das Leben genommen hat. Ja, die Texte sprechen für sich, aber keineswegs führt es zur Minderung der Lesequalität, wenn man/frau zuvor im Internet einige der Fotografien, oftmals Selbstportraits, gesehen hat.

oder auch schwer zu verstehen dein offener mund diese leere
gefüllt mit atem und fragen in deinem kopf ein hin und her
[…]
(aus: „On being ourselves – IV“)

[Die Gedichte stehen im Blocksatz, die Zeilensprünge sind exakt gearbeitet. Wer weiß, wie viel Arbeit das macht, kann sich am Ergebnis des Drucksatzes erfreuen.]

Es gibt geschlechtsspezifische Benachteiligungen in allen Bereichen der Gesellschaft, auch im Kunst- und Literaturbetrieb. Ich habe verstanden, dass dort, wo Frauen sich gegen Männer behaupten und durchsetzen können, keineswegs eine Diskriminierung auszuschließen ist. Denn viel zu oft werden Frauen von den Männern in den Entscheiderpositionen nicht durch ihr Werk definiert, sondern durch ihre äußere Erscheinung.

Schabert spricht in ihrem Beitrag zu Neue Schulen auf Fixpoetry von Diskursen, in denen „Geschlechter auch irgendwann keine Rolle mehr spielen oder es nicht in diffamierender oder ausschließender Art tun.“

Mit den drei mitgegebenen Kurzbiografien setzt Scharbert Frauen in Szene, denen gesellschaftliche Anerkennung verwehrt wurde: Woodman, die Fotografin, die ihrer Zeit weit voraus war, James, Schwester der prominenten Brüder Henry und William, Atkins, vergessene Wegbereiterin der Fotografie.

wo rücken wirbel nackt an der wand rippen rissen und ritzen
werden ein durchziehen von innen nach außen im austausch
dein körper der ganze tag durchlässig eine feine membran
[…]
(aus: „On being ourselves – III“)

nimmst deinen körper aus dem schrank dieses fragile gebilde
das dich tag für tag umhüllt einen dünnen schutzmantel bildet
mal mehr mal weniger grenzorgan zwischen dir und der welt
[…]

(aus: „Notiz an Alice“)

bild für bild abzug für abzug ein abdruck der wirklichkeit
wie anna atkins einst legst du fundstücke ins licht rückst sie
zurecht all das was sonst nur schwer zu erkennen nimmt
jetzt langsam eine kontur also form an schält sich ins weiß
entwickelte antworten auf nicht mehr vorhandene fragen
(„Blaupausen“)

Welche Unmittelbarkeit herrscht im Mund, jenem Organ, das Sprache formen und verschlucken kann? Wie feingliedrig sind Nerven, Muskeln, die in Bruchteilen ausführen, ob ein gefasster Gedanke Ausdruck, Ausbruch findet oder Innenleben bleibt?

[…]
lider morsen in zeitlupe das ansetzen oder aussetzen einer
frage auf der zunge ein schwer verdaulicher leerstand
(aus: „Vier Stühle ein Tisch, manchmal ein Fenster – ii“)

[…]
irritation über das schwellen von gaumen und zungen den
aufgeblasenen sprachinstrumenten oder doch nur das staunen
am versinken der sprache im organischen
(aus: „Einstich – IV“)

Das Wir in Schaberts Lyrik ist eine Fragilität, keine einfache Beziehung. Wir ist Hoffnung, ist Desillusion, ist Rückzug, ist Näherung.

atmen lernen oder erzählen eintauchen in lungen ins kapillare
netz brustschwimmen durch blutbahnen durch deine und
meine in luftblasen denken die gegenwart tauschen mit
jemanden der sagt erzähl mir vom atmen
(„Was wir uns wünschen“)

Konkret wird der Dialog zwischen dem Du und dem Ich in den drei Gedichten, die Scharbert in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen geschrieben hat: Sirka Elspaß, Mara-Daria Cojocaru und Jonis Hartmann. Diese fallen durch ihre Länge deutlich im Satzbild auf und beenden jeweils die drei Abschitte/Kapitel des Bandes: Körper, Raum, Materie. Ich empfinde sie als Zäsur, als Störung einer streng gesetzten Abfolge von Gedichten, unabhängig vom Inhalt. Vielleicht stellen die drei lyrischen Austausche einen Zusammenhang mit den drei Biografien her, die den Band prägen. Dennoch glaube ich, dieses wunderbare Debüt wäre noch (form-)stärker ohne die drei Korrespondenzen geworden.