Arundhati Roy: „Das Ministerium des äußersten Glücks“

Aftab und Anjun

Der zweite Roman der 1959 geborenen Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin Arundhati Roy (deutsche Übersetzung: Anette Grube) enthält viele ineinandergreifender Lebensgeschichten, die tragfähig sind, stellvertretend für die 1,324 Milliarden Menschen Indiens (Stand: 2016) zu stehen, in ihrer Sprach- und Religionsunterschiedlichkeit, in ihrer Buntheit, ihrer Schrillheit, in der Armut und exzessiver Gewalt ebenso Raum geboten wird wie für ein wenig privates Glück.

Der sehr ansprechende Titel, ich verzeihe Roy den Griff in die marktschreierisch klingende Superlative, steht im äußersten Kontrast zum Kern des Buches, der sich mit dem Kaschmir-Konflikt, welch harmlose Alliteration für ein Gemetzel, bei dem die Welt wieder mal weg(ge)schaut (hat) und Gewalt, Terror, Folter und Tod freien Lauf lässt, auseinandersetzt.

Im „Reader’s Digest der englischen Sprache und Grammatik für ganz junge Kinder“ schreibt Tilo, eine der Hauptfiguren des Romans, auf, was sie beschäftigt:

NICHTS

Ich würde gerne eine dieser kultivierte Geschichten schreiben, in denen zwar nichts passiert, aber es trotzdem viel gibt, worüber man schreiben kann. So etwas ist in Kaschmir nicht möglich. Es ist nicht kultivert, was hier passiert. Es gibt zu viel Blut für gute Literatur.

F1: Warum ist es nicht kultiviert?
F2: Wie groß ist die hinnehmbare Menge Blut für gute Literatur?

Wir dürfen an dieser Stelle davon ausgehen, dass wir die Zweifel der Autorin durch ihre Figur hören. Und die Zeitdifferenz zu ihrem ersten Roman und Welterfolg „Der Gott der kleinen Dinge“ von zwanzig Jahren weist darauf hin, dass Zweifel und Fragen immer wieder dieses  zehn Jahre in Anspruch nehmende Projekt wechselseitig behindert und befördert haben.

Nun, auf einer offensichtlichen Ebene ist das Papier blütenweiß und die Buchstabenreihungen nicht blutrot. Und doch werden wir die zweite Frage nicht mehr los.

Sie verfolgt uns Lesende, wenn Vergewaltigungen und Folter in Worte gefasst werden. Wenn wir, die wir uns mit einem europäisch reichen Kanon an Bestialität, mit unserem selbstgeschaffenen Weitwinkel-Panorama der Hölle, jener exotisch verklärten Welt Indiens annähern.

Worin liegt die Würze dieser Sicht?

Wir sind nicht geübt im Gebrauch von exotischen Gewürzen. Es könnte sein, dass das Überziehen von Stöcken mit Chili, bevor diese zur rektalen Vergewaltigung benutzt werden, eine Empörung hervorruft. Ein kleines Detail, das das Innere der Menschen verbrennt, auslöscht.

Roy, so lese ich diesen komplexen Roman, sieht sich unabdingbar an der Seite der Schwachen, der Unterdrückten, der Unterpriviligierten. Hier wird keine Hohelied auf den wachsenden Mittelstand Indiens gesungen, schon gar nicht auf den brutal um sich greifenden Hindu-Nationalismus. Ich lese ein ebenso deutliches wie zärtliches Plädoyer für die Vielfältigkeit des Lebens, in der die Menschen ihren Kern bewahren können, jenseits aller Klassen, jenseits der Kastenzugehörigkeit.

Mit Aftab, dem als Hermaphroditen geborenen Baby, der zu Anjum wird, die auf dem Friedhof residiert und dort ein Gästehaus mit Schwimmbad (ohne Wasser) betreibt und Leute um sich schart, stellt Roy eine Person des dritten Geschlechts in den Mittelpunkt ihres Romans.

Anjum brachte die Idee auf, dass das Jannat-Gästehaus einen Swimmingpool haben sollte. „Warum nicht?“, sagte sie. „Warum sollen nur reiche Leute einen Swimmingpool haben? Warum nicht auch wir?“ Als Saddam darauf hinwies, dass Wasser eine entscheidende Voraussetzung für einen Swimmingpool war und der Mangel daran ein Problem darstellen könnte, erwiderte sie, dass arme Leute auch einen Swimmingpool ohne Wasser schätzen würden. Sie ließ ein Loch von der Größe eines großen Wassertanks ausheben und mit blauen Badfliesen kacheln. Sie hatte recht. Die Leute schätzten ihn. Sie kamen, um ihn sich anzusehen und für den Tag zu beten (insha’Allah, insha’Allah), an dem er mit blauem Wasser gefüllt wäre.

So wie Roy ihrer Verantwortung gerecht wird, wenn es darum geht, Position gegen Unterdrückung und Krieg zu beziehen, wird sie es auch, wenn sie mit erzählerischen Mitteln uns aus unserer gewohnten Umgebung entführt und mittels Literatur an eine bessere Zukunft glauben lässt. Wir können, wir dürfen in uns ruhen, ohne die Augen völlig vor der Realität zu verschließen.

Als sie dort ankamen, waren sämtliche Lichter gelöscht, und alle schliefen. Alle außer Guih Kyom, der Mistkäfer. Er war hellwach und im Dienst, lag auf dem Rücken, die Beine in die Luft gestreckt, um die Welt zu retten, sollte der Himmel einstürzen. Aber sogar er wusste, das letztlich alles gut werden würde. Es würde, weil es musste.