Micho Mossulischwili: „Schwäne im Schnee“

Was mich mit Japan verbindet?

Mit dieser Frage beginnt eine Prosaminiatur des 1962 geborenen georgischen Schriftstellers Micho Mossulischwili, die in den von Irma Schiolaschwili und Joachim Britze ins Deutsche übertragenen Band „Schwäne im Schnee“ aufgenommen wurde. Darin beschreibt der Georgier, welchen Eindruck Akutagawa Ryûnosuke (1892-1927) auf ihn als jungen Studenten gemacht hatte, bevor er seine Novelle „Der Waldmann“ schrieb.

Mossulischwili bezeichnet Akutagawa als den größten japanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Das mag übertrieben sein, da diese Sicht eine Reihe ebenfalls wichtiger Namen ausblendet, aber darüber soll die Japanologie ihr Urteil fällen. Richtig ist, dass Akutagawa Namensgeber des wichtigsten japanischen Literaturpreises ist, ebenso richtig, dass um die Jahrhundertwende, am Ende der das Land einer grundlegenden Modernisierung unterziehenden Meiji-Ära (1852-1912) das literarische Leben durch die Öffnung für westeuropäische und russische Einflüsse und durch eine Erneuerung der tradierten Form eine reiche Blüte erlebte, sowohl im Bereich der Lyrik als auch der kurzen Prosa. Diese Zusammenhänge untersucht die Dissertation „Petitessen, Pretiosen. Die Prosaminiatur in Japan um 1910“ von Agnes Fink-von Hoff (Iaponia Insula, Band 16, München 2006). Um die Jahrhundertwende entwickeln sich eine Vielzahl von Prosa-Kleinstformen, für die wir im Deutschen keine adäquate Übersetzung finden: jojibun (skizzierende Darstellung eines Ereignisses), jojōbun (skizzierende Darstellung von Gefühlen), jokeibun (skizzierende Darstellung einer Landschaft), shaseibun (naturgetreu abbildende, objektive Prosaskizze), tanbun (Kurztext), tanpen shōsetsu (Kurzgeschichte) und viele mehr.

Genau diese Vielfalt der Texte bezogen auf die inhaltliche Ausrichtung (und auch Länge) finden sich in Mossulischwilis Auswahl seiner Miniaturen, an denen er lange arbeitet, bevor er sie zur Veröffentlichung freigibt.

Da finden sich zarte Beschreibungen, denen eine Fusion der Einflüsse japanischer und georgischer Literatur, jene des Nationaldichters Wascha Pschawela, zu gelingen scheint. In „Fischfang im Mtkwari“ wird der ungeduldige Angler belehrt, mit Ruhe ans Werk zu gehen. Eingebettet in Kindheitserinnerungen und philosophische Reflexionen ist der Text weit mehr als eine Alltagsbeobachtung. In „Ein Fisch wie ein Vogel“, einem jojibun, skizziert der Autor ein um die Realität verschobenes Gespräch zweier Menschen im Hof einer psychiatrischen Klinik.

Manche Miniaturen arbeiten weniger mit erzählerischen Mitteln, sondern sind vielmehr essayistische oder autobiografische Notate zu Schriftstellern, etwa „Hinter dem Mond“ (über Esma Oniani), „Auf den Boulevards von Batumi“ (für Pridon Chalwaschi) oder „Fehlendes Licht“ (für Dawit Kldiaschwili).

Landschaft, insbesondere Berglandschaft, spielt in „Gagna“ und ein „Ein Tanz über die Felsen“ ein Rolle. Mossulischwili, der Geologie und Geographie studiert hat und bis zum Ende der Sowjetära bei der Georgischen Geologisch-Geophysikalischen Gesellschaft angestellt war, kennt die Bergregionen aus eigener Anschauung. In Pschawi kommt er seinem literarischen Vorbild Pschawela nahe.

Mit wenigen Worten werden die Miniaturen politisch, wird auf den Bürgerkrieg in Abchasien eingegangen: „Wie man erfriert“ und „Am 27. September ist Sochumi gefallen“. Im georgischen Gedächtnis bewahrt, müssen wir das Massaker von Sochumi (1993) nach- und aufarbeiten.

Mossulischwilis Affinität zum Kino, er hat im Nebenfach Kinodramaturgie studiert, zeigt sich in seinem kürzesten Text „Was ein guter Film zu anderen sagt“, der wie ein Witz aufgebaut ist. Eine Frage, eine Antwort. Die Antwort jedoch gibt keine Pointe zum Lachen frei, sondern setzt erneut einen Bezug zu Akutagawa: „Treffen wir uns bei Rashômon!“ Akira Kurosawas Filmklassiker basiert auf den Novellen Akutagawas „Im Dickicht“ und „Rashômon“.

„Gogita, Kukura und Lado – Jungs aus der neunten Klasse“ kommt als Plot eines Gangsterfilms daher: „Zu Mitternacht, als man das Fahrzeug ablud, gab es schon ein großes Gedränge vor der Tür des Brotladens. Plötzlich tauchten unerwartet drei Jungs auf und drängten sich vor. Im Sturmangriff gelangte einer bis zum Verkäufer, dem er Vater und Mutter bis auf den Grund verfluchte und dabei sagte: »Gib mir Brot!«

Die Vielzahl der Texte, seiner Inhalte, Hintergründe und Tonlagen bietet den Leserinnen und Lesern einen guten ersten Einblick in die literarische Produktion des Georgiers, der ebenfalls als Übersetzer, Dramatiker und Drehbuchautor arbeitet und ein umfangreiches Œuvre geschaffen hat. Die Frankfurter Buchmesse 2018 mit dem Ehrengast Georgien sollte Gelegenheit geben, Mossulischwili dem deutschen Publikum vorzustellen.

„Schwäne im Schnee“ ist eine gelungene Publikation, die auch dann Freude bereitet, wenn nicht alle Hintergründe aus westeuropäischer Sicht dechiffriert werden können. Es geht Mossulischwili um Annäherung und Orientierung, das hat er mit Zugvögeln gemein.

„Wie fliegt er? Wie findet er den Weg? Das haben die Ornithologen bis jetzt nicht herausgefunden.“ (aus: „Schwäne im Schnee“)