Eric Giebel: „Hototogisu“

Ein Gackelkuckuck ist angekommen …

Mit dem Prosaminiaturen-Band Hototogisu ist soeben meine dritte eigenständige Publikation im Pop Verlag erschienen.

Leseprobe:

Abreise
Ich bin ein Langstreckenzieher. Dieses Jahr werde ich die
Ost-West-Passage in Angriff nehmen, ganz entgegen meiner
genetischen Disposition. Ich will das Land meiner Brüder
kennenlernen.

Die Schleierwolken
hängen hauchdünn am Himmel.
Bald bricht Eis heraus.

Aufzubrechen und zu wissen, die Luft in der Höhe verheißt
keine Wärme, das ist ein Wagnis, das ich leicht mit
dem Leben bezahlen kann. Mein kranker Dichter wird den
kommenden Winter nicht überleben. Ich nehme Abschied
von ihm. Seit Wochen beobachte ich, wie die Tuberkulose
seinen Körper vollends zersetzt, wie der Mann unbewegt
auf seinem Rücken liegt, wie das Licht seine Augen martert,
wie sein Gedärm fault und Blut aus dem Inneren seines
Körpers drängt. Als ich meinen charakteristischen Ruf für
einen Moment anstimme, um ihn, der meinen Namen trägt,
zu grüßen, schaut er nur kurz von seinem Lager auf. Kein
Leuchten mehr in seinen noch jungen Augen, ein leerer
Blick. Ich weiß schon lange, dass er mich nicht als den
wahrnimmt, der ich bin. Für ihn bin ich eine Metapher seines
Bluthustens und ein Kigo, ein Jahreszeitenwort.

Er schreibt in sein Morphium-Tagebuch: „Hototogisu, mein
kleiner Kuckuck! Meine Augen sehen dich am Himmel, die
Lungen voll kühlen Winds, der dich bald in dein Winterquartier
tragen wird. Mich hingegen presst die Krankheit
ins Totenbett. Wie kann es dennoch gelingen, deinen Flug
objektiv zu beschreiben? Komm zu mir, damit ich deine
Federn zählen kann und du mir die Technik der Langstrecke
vermittelst.“

Es wühlt mich auf, ihn sterben zu sehen. Ich denke jedoch, in
seinem Wunsch nach Objektivität übertreibt er. Was soll es
bringen, jede Feder aufzufächern? In den Zwischenräumen
findet er das Geheimnis der Flugroute jedenfalls nicht. Ich
werde den Schmerz des Dichters auf meine Reise Richtung
Westen mitnehmen. Ich werde ihn unter meinen Brüdern
bekannt machen, damit sie mich und meinen Lebensraum
besser verstehen. Je ähnlicher sich Verwandte sind, desto
wichtiger werden die kleinsten Unterschiede. Nicht nur die
der Spannweite.

Verlassen wir diese Erde. Meine Schwungfedern sind frisch
und meine Gabelbeingrube gut gefüllt. Ich habe eine Route
von fast 10000 Kilometern vor mir. Entlang einem Großkreis
werde ich über unbekannte Landstriche segeln, werde
Zwischenhalte einlegen müssen. Es wird lange dauern, bis
ich mein Ziel erreicht haben werde. Sei es, wie es sein wird.
Ich bin der Zeitvogel! Ich bin bereit, jetzt aufzubrechen
und die alten Routen hinter mir zu lassen. Sayōnara, Shikisensei!
Lebe wohl, Meister!

[…]

(aus: Die rote Zunge)