In der Kurpie
Sie liegt in der nordpolnischen Tiefebene im nördlichen Masowien an der Grenze zur Woiwodschaft Ermland-Masuren. Einst als die grüne und die weiße Wildnis bezeichnete Waldgebiete auf sumpfigem Boden, einst gefürchtet von den Kreuzrittern, ist sie heute auf welligen Straßen Transitstrecke von der Hauptstadt zu der touristisch frequentierten masurischen Seenplatte und der ostpreußischen NS-Bunkerarchitektur. In dieser Region, die seit dem 10. Jahrhundert zu Polen gehört, wurde 1940 Aleksander Nawrocki in Bartniki nahe Przasnysz geboren. Als Autor und vor allem als Übersetzer ist er in Polen nicht unbekannt, ebenso wie in den Ländern, deren Literatur er ins Polnische übertragen hat: Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Finnland, Estland, Russland und weitere. Narockis Werk ist umfangreich. Seine Lyrik nun im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen, war das Anliegen des 1942 in Dresden geborenen Übersetzers Peter Gehrisch.
Es ist sehr verdienstvoll, dass mit „Mir träumte von meiner Kindheit“ eine biliguale Lyrikauswahl realisiert werden konnte. Leider wird im Vorwort nicht deutlich, ob Nawrocki die Auswahl mitbestimmt hat oder ob sie von Gehrisch allein vorgenommen wurde. Manchen Gedichten sind Datumsangaben angefügt, anderen nicht. Die Gedichte sind nicht chronologisch geordnet, vielmehr lässt sich eine thematische Zuordnung erkennen. Trotzdem wäre wünschenswert gewesen, ggf. im Anhang aufzulisten, welches Gedicht welchen Bänden entnommen wurde.
Was mir gefällt, ist der Titel und jene Gedichte, die die Erwartungshaltung, die er weckt, einlösen. Es sind nicht viele Texte, die in der Erinnerung bis in die Kindheit zurückgehen, aber auf sie einen genauen Blick zu werfen, lohnt sich.
Hinter den Fenstern – Sauerkirschbäume, der Pirole Sand-Augenblicke – mit meiner Kindheit verwurzelt aus Kirschblut
und dem Dunkelbitter der Kerne,
zwischen Morawka und Narew
ausgelöscht die Auerochsen auf kargen Auen,
sie wirrten im Träumen umher, und auf der Wiese zum Urwald
schwärzte sich manchmal der Schlüssel – der Wilde im Ritus des Schreckens.
(aus: „Das in einer Nacht erbaute Haus“)
Nawrocki gelingt, den all-gegenwärtigen Zerfall durch seine Erinnerung kurz anzuhalten.
Sie schließen die Schule, in welche ich ging;
Es lohnt sich nicht, sie weiter zu führen, im Ort
warn einzig acht Schüler.
Sie steht zum Verkauf mit dem Hinweis:
geeignet zu sein als Heim für die Alten
[…]
Am Anfang wurde in einer Baracke gelernt, zurückgelassen
von Deutschen, wo im Winter es Frost gab auf Bänken
und im Tintenfass Eis, im Sommer Hitze bis hoch in den Himmel.
[…]
(aus: „Sie verkaufen die Schule“)
Schon aus diesem kurzen Abschnitt fallen zwei Charakteristika der Übersetzung auf. Ob das Original Anlass bietet, Verkürzungen und Auslassungen in deutschen Wörtern vorzunehmen, kann ich mangels polnischer Sprachkenntnis nicht sagen. Mir wäre es ein Bedürfnis, „waren einzig acht Schüler“ zu lesen. Später stört mich der „Moment der Begeist’rung“ wie auch der „Lichtspalt in der Dämm’rung“. Es mag gute Gründe für die Auslassungen geben, aus dem polnischen Original abgeleitete sprachmelodische, ich finde jedoch keinen Zugang. Mein Eindruck ist, dass Gehrisch mit seinen Übersetzungen sehr nah am Syntax der Originalsprache bleibt. Auch dafür gibt es sehr gute Gründe. Das führt an manchen Stellen zu einer deutschen Sprache, die nicht rund genug wird, um mit einem für mich nötigen Schwung um die Ecke zu kommen. Ich möchte hier einmal eine Passage zweisprachig zur Diskussion stellen. [Gerne bin ich bereit, in Sachen Übersetzung dazuzulernen und in sachlichen Diskussionen meine Meinung zu revidieren.]
Rubinowe wino z okolic Kardzali
jest jak czas kobiet, kiedy przychodzi mezczyzna, wówczas
nastepuje ostrozne patrzenie pod swiatlo
[…]
(aus: „Czas wina i kobiet“)
Rubinroter Wein aus der Gegend Kardžali’s
ist wie eine Zeit für die Frauen, wenn auftritt der Mann, dann
stellt sich bedachtsames Schaun gegens Licht ein
[…]
(aus: „Zeit des Weins und der Frauen“)
Frauen nehmen in dem Gedichtband eine wichtige Rolle ein, als Ehefrau, Geliebte, Angebetete oder/und Prostituierte. Die Sichtweise ist eine männliche, die naturgemäß so legitim ist, wie die Sicht der Frauen auf Frauen, die der Frauen auf Männer etc.
Nawrocki lässt Orpheus und Eurydike zu Wort kommen. Die Liebenden treten in einen Dialog.
Eurydike! – dich zu beweinen wird wie ein stummer Schlag sein
im Wachsen des Baums, wie ein Wort aus ewigen Zeiten,
das heut keiner kennt und will’s nicht verstehen.
Einen Weg wird es geben entlang des Äquators,
über dem der leibhaftige Stern steht, und dein Name wie Eis.
[…]
Über mein gigantisches Herzweh: was hast du zu sagen?
(aus: „Drei Gesänge des Orpheus“)
Mein Herr, als du gespielt hast,
führten die blinden Schluchten mit sicherem Schritt,
auf der Erde, herausgehauen für uns,
wir gingen durch Luft voller Salz,
herausgerissen durch deinen Gesang.
[…]
Du hast den Hades verlassen.
Teurer war dir die Ehre.
Du hast die Götter verspottet, zu weinen um meinen Namen
[…]
(aus: „Eurydike“)
Hier wird der männlichen Sichtweise ein deutlich andere Stimme entgegengestellt. Und trotz dieser gelungenen Klarstellung aus Perspektive der Frau finde ich in Nawrockis Lyrik männliche Sichtweisen, die mich abstoßen.
Jede Prostituierte
will das Gewissen der Welt sein.
[…]
(aus: „Die Prostituierte“)
Sagt wer? Sagt Nawrocki! Eine auktoriale, allwissende Sicht der Dinge. Da bleibt jeder Frau nur noch bedachtsames Schauen gegen das Licht des Weltschöpfers. Das ist nicht die Lyrik, in der ich mich wohl fühle. Wie anders das Furiose seiner Kindheits(alp)träume:
Ich wurde an der Morawka geboren,
wo des Waldteufels Hörner
an die Scheibe nachts klopften
und der Fluss, ein schweißige Rinnsal, dahinzog,
in Vaters Gesichts-Runzeln sickernd,
als die Hitze im Acker
ü ber den betenden Händen der Heuschrecken hing.
In der Farbe des Leins erblühte der Himmel, und im Mohn
verfärbte sich rot des Feldgottes Bart.
[…]
(aus: „Credo“)
Nawrockis Gedichtband hätte für meinen Geschmack viel mehr Kindheitsträume vertragen können.