Anuk Arudpragasam: „Die Geschichte einer kurzen Ehe“

Die meisten Kinder haben zwei ganze Beine und zwei ganze Arme, aber der kleine Sechsjährige, den Dinesh trug, hatte schon ein Bein verloren, das rechte knapp oberhalb des Knies, und jetzt würde er auch noch den rechten Arm verlieren. Granatsplitter hatten von der Hand und dem Unterarm nur noch eine weiche, formlose Masse gelassen, aus der es hier und da auf den Boden tropfte, die an anderen Stellen gerann und überall sonst verkohlt war. Drei Finger hatten sich komplett abgelöst, unmöglich zu wissen, wo sie jetzt waren, und die anderen beiden, der Zeigerfinger und der Daumen, baumelten an zarten Fäden von der Hand.

Mit diesen Worten beginnt die Geschichte und erinnert uns daran, wie sehr wir uns das Wegsehen angewöhnt haben, ob in Ost-Ghuta, in den sudanesischen Juba-Bergen oder an all den anderen Orten, wo die Zivilbevölkerung Terror schutzlos ausgeliefert ist. Der 1988 in Colombo (Sri Lanka) geborene, auf Tamil und Englisch schreibende Anuk Arudpragasam legte 2016 mit Die Geschichte einer kurzen Ehe seinen Debütroman (Übersetzung aus dem Englischen: Hannes Meyer) vor.

Arudpragasam nimmt uns mit in den Endphase des Bürgerkriegs in Sri Lanka, bei der Regierungstruppen im Jahr 2009 die tamilischen Rebellen nach über 20 Jahren vollständig besiegen. Der Autor enthält sich einer politischen Wertung, bezeichnet die Konfliktparteien als „Armee“ und „Bewegung“, legt seinen Blick vielmehr auf die Menschen, die in einem Flüchtlingslager ausharren und versuchen, die nächtlichen Bombardements zu überleben.

Das Buch ist ein langsames Buch. Erzählzeit (Dauer der Lektüre) und erzählte Zeit (Dauer der Handlung des Romans) sind nahezu gleich: Ein Tag. Die Mehrzahl der Romane arbeitet sicher mit Zeitraffung, die Handlung streckt sich also über lange Zeiträume, sodass uns bereits eine Synchronität von Erzählzeit und erzählter Zeit fälschlicherweise als Zeitdehnung vorkommt.

Dinesh wird von einem älteren Mann gebeten, dessen Tochter Ganga umgehend zu heiraten. Die Umstände erlauben keine reguläre Trauung, der Vater nimmt die Zeremonie selbst vor, bevor er den Familienbesitz (Inhalt einer Tasche) weitergibt, dann weggeht, irgendwohin, wo er den Verlust seiner Frau und seines Sohnes, die kurz zuvor starben, nicht verwinden können wird. Dinesh und Ganga sind Fremde, die sich sehr vorsichtig annähern. Worte spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Dinesh weiß wohl, dass eine Ehe sich im Sprechen, im Austausch erfüllt, aber er hat nicht die richtigen Worte, die Leere zu füllen. Statt Dialogen zu folgen, sind wir vor allem auf die in Denkschleifen gefangenen Mutmaßungen eines jungen Manns angewiesen.

Titel und Exposition lassen keinen Zweifel daran: Am Ende der Nacht wird einer der beiden tot sein. Es ist Ganga, die, von einem Granatsplitter getroffen, verblutet.

Was den Roman auszeichnet, sind Abwesenheiten, die normalerweise Kennzeichen einer gelungenen Prosa sind, beispielweise der Wechsel von Beschreibung und Szene, der Spannung erzeugt. Da der Titel das Ende der Geschichte bereits vorwegnimmt, muss die Qualität der Prosa in einem anderen Bereich liegen. Diese sehe ich in der bedingslosen Zuwendung zum Jetzt, zur Gegenwart, jenes Moments des Ein- und Ausatmens. Dabei spielt es keine Rolle, ob Dinesh sich ein Plätzchen zum Scheißen sucht und die Kontraktionen seines Darms spürt oder später sich mit Gangas Seife wäscht, seine Kleidung und sich, in der Hoffnung, so gereinigt (von Blut, Scheiße und erlebtem Gräuel), seiner Frau begehrenswert zu erscheinen. Der Körper –unversehrt, verletzt oder tot– ist in diesem Roman in einer Art präsent, wie wir ihn in der Literatur zu selten zu lesen bekommen.