Brot mit Brot
Rezensentin Rebecca Kelber von Radio Mephisto 97.6 greift zu der großen Keule, wenn sie das Scheitern des Protagonisten in Neverland mit dem Scheitern des Romans, seines Autors Radu Găvan und seiner Übersetzerin Edith Konradt gleichsetzt. Ein Verriss ohne tiefer gehende Begründung, wohlfeil. Geht so Literaturkritik? „Das ist nur einer von viele (sic!) Fehlern, die ihm (Radu Găvan, E.G.) unterlaufen.“ – „Die Handlung von Neverland ist an sich nicht uninteressant.“ – „Teilweise schadet auch die Übersetzung dem Buch.“
Ich habe das Buch anders gelesen, als spannendes Buch, dessen Protagonist und Ich-Erzähler, der alleinerziehende Literaturdozent, mag die Figur sympathisch sein oder nicht, für mich nachvollziehbar ist. Selbstmitleid und Kitsch, ja, aber eben auch eine schonungslose Darstellung einer Entfremdung innerhalb einer Ehe, eines Ehebruchs, der in die Katastrophe eines Verkehrsunfalls führt.
Ich bin kein Opfer, die schwärzeste Wolke meines Lebens habe ich mir selbst über den Kopf geholt. Ich stehe im Regen und weiß nicht wohin. Ich bin ein Hund, der seine Zähne in die Hand des Schicksals geschlagen hat. Ein zartes Wesen schmiegt sich an mich, erstarrt unter der gleichen Wolke. Der einzige Schutzwall, nur einen Schritt weit entfernt von der Ewigkeit in der Hölle.
Letitia, Halbwaise im Kindergartenalter, und der Vater bilden eine unstete Einheit, der Vater zermürbt vom schlechten Gewissen und knapp bei Kasse. Er kann die materiellen Wünsche der Tochter nicht erfüllen. Ob Găvan mit dem ersten Handy und einem Besuch in Disneyland die richtigen Metaphern für das vorhandenes Prekariat setzt, mag man diskutieren (eher wird es deutlich, wenn Găvan in dem Interview mit Mephisto 97.6 davon spricht, dass er oft kein Geld für den Belag hatte, also Brot mit Brot aß) wesentlich jedoch ist, dass der Geisteswissenschaftler mit seinem Verdienst nicht über die Runden kommt, während sich der Kriminelle, genannt Luis, das Schwein, in der Nachbarschaft in einer Villa breitmacht.
Es kommt es zur Begegnung zwischen dem Geistesmenschen und dem Kriminellen. Von Beginn an liegt Gefahr in der Luft. Wir wissen, die Sache kann nicht gut ausgehen. Die Versuchsanordnung erinnert an Yuri Herreras „Abgesang des Königs“:
El Rey hat ein Imperium aufgebaut. Er kontrolliert den Drogenhandel von Mexiko in die USA, hat sein Kartell durch die gefährlichen Mischung aus Gewalt und Mildtätigkeit gegenüber dem einfachen Volk installiert. Er residiert. Er lenkt. Er mordet. Er schreibt seine Gesetze selbst. Die Günstlinge, die ihm nach dem Mund reden, haben einen Wasserkopf der Macht entstehen lassen, in dem sich jeder duckt und geduldig auf seinen Vorteil wartet. Lobo, einer aus der verarmten Schicht, der sich nur mit Mühe das Lesen und Schreiben angeeignet hat, aber mit dem Akkordeon umzugehen weiß und wie er mit Liedern Menschen schmeicheln kann, wittert seine Lebenschance und dient sich dem König an. Im Hofstaat steigt er schnell zum Künstler auf. Und kommt dabei der Macht gefährlich nahe.
Bei Găvan soll der Literaturdozent gegen gute Bezahlung Luis‘ aus der Reihe tanzenden Sohn unter die Armen greifen. Der Junge hat literarische Ambitionen, leider aber kein Talent. Mit schönen Worten und Ermutigungen hält der Dozent den Sohn bei der Stange und kassiert fettes Geld vom Vater.
„Es ist nicht schlecht“, sage ich ihm. „Es ist besser als das, was ich davor gelesen habe“, sage ich. „Lass uns ein bisschen darüber reden“, sage ich.
Dann nehme ich alle seine Sätze vorsichtig auseinander. Ich löse das Fleisch von den toten Worten und zeige ihm das faule Grau an jenen Stellen, wo ein rohes Rot pulsieren müsste. Mit Engelszungen löse ich seine komplizierten Satzgefüge auf und stelle ihre Teile in den Raum. Ich sage ihm, dass er am Anfang möglichst einfach schreiben und nicht versuchen solle, ein anderer zu sein, lüge ihm vor, dass ich an ihn glaube und er das ebenfalls tun müsse.
Es kann – wie schon gesagt – nicht gut gehen. Die Verlockung, die das Geld produziert, die Fallhöhe, sie ist zu groß. Die Gewalt beginnt sich zu entladen. Der Roman entwickelt sich zunehmend zum Thriller, der spannend bleibt, aber genretypisch, getrieben vom Plot, etwas an literarischem Feingespür, mit dem zuvor Gewissenskonflikte des Protagonisten beleuchtet wurden, verliert. Wo Knochen brechen, scheint hierfür kein Platz mehr zu sein. In der Logik der Versuchsanordnung geht es ab dem Moment, in dem der Dozent Luis die Geldtasche stiehlt, nur noch ums Überleben. Leicht zu sagen, dass der Diebstahl eine unglaubwürdige Handlung des Protagonisten ist. Es ist wohl für uns alle besser, wenn wir nie in eine solche Situation kommen, in der das große Geld lockt. Hier zeigt sich nämlich, wie unfruchtbar der zivilisatorisches Humus ist, wenn Geld mit Freiheit gleichgesetzt wird.
Es ist kalt, entsetzlich kalt, ich beiße die Zähne zusammen und schweige. Als wir das andere Ufer erreichen, setze ich sie ab. Sie schaut mich an und es ist ein unwirkliches Bild, mein Kind allein mitten im Wald. Mein Kind, allein. Ich bin den Tränen nahe, aber ich weine nicht. Ich kehre ihr den Rücken, hole das Messer aus der Tasche und verstecke es unter der Jacke.
Ich bücke mich und nehme sie fest in die Arme.
Ich küsse sie auf die Wangen.
Dann reiche ich ihr die Tasche.
„ Nimm die Tasche. Ich möchte, dass du dich dort hinter dem großen Baum versteckst. Papi geht noch kurz auf die andere Seite, um mit dem Mann zu reden, von dem ich dir erzählt habe. Wenn du mich rufen hörst, lauf den Fluss entlang, bis du Häuser siehst, hast du verstanden? Ohne zurückzublicken! Du darfst nicht zurückblicken!“
Das Ende, das Sever Gulea als großartige Horrorfilmkulisse bezeichnet, ist sicher nicht der spannendste Teil des Romans. Und doch: das Buch ist es wert, gelesen zu werden.