Was ist der Traum der Gerechten?
Vielleicht ist das die Frage, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller weltweit am meisten umtreibt. Bachtyar Ali, 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren, legt sie seiner Figur Halim Schewaz in seinem 2017 auf deutsch erschienenen Roman „Die Stadt der weißen Musiker“ (aus dem Sorani von Peschawa Fatah und Hans-Ulrich Müller-Schwefe) in den Mund.
[…] Diese Frage können Sie nicht beantworten, Dschaladat, weil Sie ein Blödmann sind. Es gibt nichts Gefährlicheres als den Traum der Gerechtigkeit. […] Es ist die Obsession der angeblich Gerechten, alle Schuldigen dingfest zu machen und zu bestrafen […] Dann müssten wir alle Schuldigen bestrafen, für jedes Vergehen müssten wir eine Strafe parat haben. Aber die Menschen sündigen ständig. Es gibt keinen Menschen, der nicht Strafe verdient hätte. Wahre Gerechtigkeit würde die Welt in eine Hölle verwandeln. Bestrafen und bestraft werden, eine endlose Barbarei.
Ich bleibe noch, bevor ich, wie es sich für eine Besprechung gehört, einen Überblick über Handlung und Figuren gebe, einen Moment lang in der Lagerhalle, dem für mich zentralen Ort dieses komplexen, aus mehreren Büchern (= großen Kapiteln mit wechselnder Erzählerperspektive) bestehenden Romans, in dem ein Tribunal gegen Bürger Samir Suhair stattfindet. Der Angeklagte ist ehemaliger Oberst der irakische Armee, der sich nachweislich unsagbaren Menschenrechtsverletzungen und des Massenmords schuldig gemacht hat. Es handelt sich nicht um eine reguläre Gerichtsverhandlung, stellvertretend sollen einige der wenigen Überlebenden ihr Urteil über diesen Menschen sprechen. Rache oder Vergebung? Tod oder Freispruch?
Die Halle ist, so wie ich die Sache sehe, nicht nur angefüllt mit den Schatten, den Seelen der Toten, die zurück ins Leben drängen, um dem Mörder ins Gesicht zu sehen. Es tummeln sich auch eine Vielzahl literarischen Figuren, die nicht zu Ali gehören. Ich erkenne Schillers Wilhelm Tell, sehe wie seine Finger zucken, er abwägt, ob er den zweiten Pfeil aus dem Köcher holen soll, um den Landvogt zu ermorden. Ich sehe Die Gerechten von Albert Camus, die den Tyrannen zunächst schonen, weil ein Kind in der Kutsche mitreist, vielleicht der künftige Diktator. Und Hannah Arendt protokolliert Die Banalität des Bösen.
Welche Verantwortung trägt der Mensch?
Die Opfer, die in dieser Nacht in der Lagerhalle ihrer Rachlust und ihrer Bereitschaft für Vergebung Worte verleihen, sprechen alle wahr. Kein Argument für oder gegen das Todesurteil ist falsch. Hier wird über die Essenz menschlichen (Zusammen-)Lebens verhandelt.
Bachytar Alis Roman handelt von Gerechtigkeit, Schönheit und Wahrheit. So unmöglich es erscheint, der Gerechtigkeit einen guten Dienst zu erweisen, leichter ist es nicht, der Schönheit einen sicheren Platz im Leben der Menschen zu gewähren und der Wahrheit würdig zu sein. Alle drei dieser immateriellen Güter benötigen eine Schutzzone, die zu errichten uns Menschen meistens nicht gelingt.
„Wer ist Dschaladati Kotr? Ich kenne niemanden, der so heißt.“
„Dschaladati Kotr“ sagte er geheimnisvoll lächelnd, „ist der Junge, der aus der Stadt der weißen Musiker zurückgekehrt ist.“
Dschaladat ist die Hauptfigur des Romans, ein Kurde aus dem Norden Iraks, dessen Kindheit, Jugend und Adoleszens im Ersten Golfkrieg (1980-1988) und Zweiten Golfkrieg (1990-1991) endet. Das Kind bekommt von einem Nachbarn dessen Flöte geschenkt, kurz bevor dieser sich an einem Maulbeerbaum erhängt. Dschaladat spielt und findet einen Freund, Sarhang. Eines Tages folgen sie einem alten Mann, der den beiden verspricht, ihnen die wahre Musik beizubringen, jene, die man nur spielen kann, wenn man dem Wind, dem Regen zuhört und die Natur in sich aufzunehmen vermag. Der Meister führt seine Schüler aus der Stadt, leitet sie an, stellt ihnen harte Prüfungen. Als Dschaladat und Sarhang beginnen zu hören, ist es nicht mehr zu überhören: der Wind spricht von Krieg und Gewalt, denen die drei nicht entkommen können.
Dschaladat überlebt als einziger ein Massaker, das Oberst Samir Suhair zu verantworten hat. Schwer verletzt kommt Dschaladat in einem dunklen Keller langsam zu Bewusstsein. Er weiß nicht, was geschehen ist und wo er ist. Dort, im Süden Iraks, in einer Stadt voller Staub und Frauen, die, um zu überleben, der Prostitution nachgehen, lernt er drei Personen kennen, die seinen weiteren Lebensweg bestimmen werden: Musa Babak, der seine Wunden versorgt und ihn später zum Wächter der Schönheit machen wird, Dalia, die die Liebe seines Lebens werden wird und Samir Suhair, den skrupellosen Mörder, der sein Leben rettete.
Musa Babak hat – und, wie wir im Lauf der Handlung erfahren, er ist nicht der einzige – eine geheime Sammlung unter Tage angelegt, in dem er Werke verfolgter und toter Künstler vor der Zerstörung retten und für die Nachwelt erhalten will. Unter den Gemälden ist auch jenes mit dem Titel „Stadt der weißen Musiker“.
„Aber wie kann Schönheit weiterleben“, fragte er, „wenn sie die Augen und die Seelen der Menschen nicht erreicht?“‚
Der Doktor kratzte sich am Kopf, er dachte nach. „Hör zu, junger Mann. Schönheit ist das Seltenste auf diesem Planeten. Man kann sie vielleicht erschaffen, aber kann man sie erhalten? Wie willst du sie in einem Teufelsreich wie diesem, in der jede Nacht Hunderte lebend begraben werden, vor dem Tod bewahren? Kann sein, dass meine Sammlung schließlich vernichtet wird. Niemand hat mir befohlen, das Museum zu gründen …“
Die Geschichte Dschaladats erzählt die Figur des Schriftstellers namens Ali Sharafiar. Gleich zu Beginn tritt diese Figur auf, wird auf dem Flughafen von Amsterdam von einem Fremden angesprochen und in die Handlung, das Leben Dschaladats hineingezogen. Von Anbeginn folgen wir Lesenden einem Spiel des Autors Bachytar Ali, eines Erzählers, dessen Namen den Autor durchscheinen lässt (und eben doch nicht identisch ist) und der zahlreichen Figuren, über die der Erzähler Sharafiar im Auftrag Dschaladats schreibt. Schnell tun sich Gräben auf zwischen dem, der seine Geschichte aufgeschrieben haben möchte, und dem, der sie aufschreibt.
„Herr Kotr“, sagte ich, „ich habe das Talent, Romane zu schreiben. Das bedeutet aber auch, dass der Roman sich ein klein wenig von der Wahrheit entfernt.“
Er sah mich betrübt an.
Der Zwist zwischen Figur und Erzähler erzählt uns auf leichte Art, was Literatur zu leisten vermag. Sie ist eine spielerische Verführung. Sie ist niemals Dienstleistung, deckungsgleiches Abbild einer wie auch immer gearteten oder behaupteten Wirklichkeit/Wahrheit.
Ihr sollt aber wissen, dass so eine Erklärung des Erzählers mit Vorsicht zu genießen ist und dass ich Dschaladat bei jedem Satz begleitet habe. Die Textfassung dieser Geschichte ist mein Werk. Ja, ich bin nicht der Held. Aber vergesst nicht, dass ich Ali Sharafiar, der Erzähler bin und dass der Erzähler immer wichtiger ist als der Held.
—
Nein, meine Lieben, der Held ist wichtiger. Nicht Ali Sharafiar, sondern ich war es, der das Versinken einer Stadt erlebte, die ihr Leben der Zerstörung anderer Städte verdankte. Ich war es, der auf einem weißen Pferd durchs Land ritt. […]
All das sind meine Erlebnisse, meine.
Wenn wir die Frage der Figur Tilo in Arundhati Roys Roman „Das Ministerium des äußersten Glücks“ nochmals aufnehmen: Wie groß ist die hinnehmbare Menge Blut für gute Literatur?, so gilt auch für Alis „Die Stadt der weißen Musiker“: Immens.