Anette und Peter Horn (Hrsg.): 100 Poems from Bangladesh

The future breathes in my throat, in my grave

Die von Anette und Peter Horn herausgegebene englischsprachige Anthologie „100 Poems from Bangladesh“, erschienen 2017 in der Edition Delta (Stuttgart), stellt 25 Autoren vor, die alle im unterschiedlichen Alter die Geburtsstunde ihres Staates am 16. Dezember 1971 miterlebt haben. Nachdem Indien entscheidend in den Krieg und Genozid (West-)Pakistans gegen die bengalische Bevölkerung (Ost-)Pakistans eingegriffen hatte, wurde Ostpakistan Ende 1971 völkerrechtlich anerkannt und gab sich den Namen Bangladesch.

From 25 March to 16 December, 1971
There are 267 days in total
According to Pravda, the Pak Army killed
3 million Bengalis during the Liberation War
It was a war against unarmed people
By killers and rapists of the Pak Army
And they killed 3 million ÷ 267
= 11,236 people per day

(aus: Rabiul Husain „ Oh ! The War !“)

Geschichte sich anzueignen über die Lektüre einer Lyrikanthologie, das ist so reizvoll wie schmerzhaft. Ich gebe zu, vom Genozid an der Bevölkerung Ostpakistans bis zur Lektüre des Buchs nichts gewusst zu haben. 1971 wurde ich eingeschult, in den Achtzigern begann meine Beschäftigung mit der Ermordung der Juden in Europa. Eine unvorstellbare Dimension (Shoa, 6 Millionen Opfer) zu halbieren, bleibt unvorstellbar. Mein Unwissen, das ich schamvoll verbergen möchte, zeigt, wie ungeheuer wichtig diese Publikation ist. Sie transportiert mit der Sprache, mit der Poesie einen Geschichtsraum, der wahrgenommen werden muss. Es gibt, einem schnellen Nachschlagen unter dem Stichwort „Genozid nach 1945“ nicht wenige deutschsprachige Internetquellen, die Bangladesch nicht erwähnen.

Zahlen sind das eine. Das andere ist das entsetzliche Leid jedes einzelnen Opfers. So wichtig eine genaue Aufarbeitung eines Völkermords ist, dazu gehört sicher eine gesicherte Kenntnis der Opferzahlen, was sagt es aus, was sagt es aus über uns Menschen und unsere Aussetzer?

How many people were killed last night?
Please forbid him to come on the street
Again. No, please don’t give me
The news of any more death.
For what do numbers matter?
What shall we do with numbers?
Is it not enough that a mother has lost a son,
A brother has lost a brother, a beloved her lover?
Is it not enough that when a single flower
Is plucked, the whole garland heaves and sways,
That a single hiatus disturbs
The total security of the universe?

(aus: Syed Shamsul Huq „To the Press Reporter“)

Die Anthologie setzt bereits mit dem ersten Gedicht ein Ausrufezeichen. Mit der Figur Elektra gelingt ein Rückgriff auf die griechischen Mythologie als zeitloser Rahmen, in den aktuelle Inhalte gefüllt werden können. Dokumentiert werden einerseits Bezüge zur europäischen Literatur, die zunehmend in die bengalische Literatur im 20. Jahrhundert einfließen (freilich nicht ausschließlich durch klassische Motive), andererseits steht eine weibliche Stimme im Vordergrund und verweist damit auf die Ungehörten, die Übergangenen.

Am I a flute which anyone can play any tune
Anytime, any way the wish? I walk alone
On a blood-thirsty thorn-strewn path;
The future breathes in my throat, in my grave.

(aus: Shamsur Rahman „Elektra’s Song“ )

Wenn es an dieser Anthologie etwas zu kritisieren gibt, so ist es die Abwesenheit der weiblichen Stimmen. Es ist keine Autorin vertreten. Auch auf dieses Problem weist uns „Elektra’s Song“ hin: Frauen sprechen aus dem Mund von Männern. Was als literarisches Verfahren völlig in Ordnung ist, schließlich darf die Instanz Autorin/Autor ihre Figuren frei wählen, offenbart einen Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung etwa der Hälfte der Weltbevölkerung. Eine weitere Herausgabe zeitgenössischer Lyrik Bangladeschs muss sich der Verantwortung bewusst sein, die vielen Elektras zum Sprechen in ihrer Sprache zu bringen.

Für mich ist Abul Hasans Gedicht „Native Language“ eines der stärksten Gedicht der Auswahl.

I wonder what’s the native language of sorrow,
of love,
of pain
and of war.

[…]

I only know
I am a man and in this wide world
my native language till today is
hunger.

Den Hunger können wir konkret lesen und auch als Lebenshunger, als zest for life, verstehen. Hasan starb im Alter von 28 Jahren, seine Todesursache ist in verschiedenen Quellen nicht vermerkt. Ist sie nicht bekannt? Oder müssen wir ohne Nachfrage hinnehmen, dass der Hunger Hasans nicht gestillt werden konnte?

Sehr konkret um Nahrungsaufnahme geht es in „Give me Food, Bastard“ von Rafiq Azad, der 1971 in der Freiheitsbewegung gekämpft hat.

I am terribly hungry :
in the depth of my belly,
throughout the length and breath of my body
I feel, every moment,
fierce pangs of an all-devouring hunger
Like summer corn-fields seared by drought
my body is ablaze with the fire of hunger.

I am content if I get two square meals a day.
I have absolutely no other demand.
Many persons ask for many things.
Everyone wants a house, a car, money;
some hunger for fame.
But my wants are few.

What I ask for is little. I want food.
[…]

Wie stets ist es bei der Besprechung einer Anthologie schwierig, einzelne Texte und Autoren herauszuheben. Lassen vier oder sechs ins Englische übersetzte Gedichte zu, etwas über den Autor zu sagen, dessen Werk nicht selten über 50 Publikationen groß ist? Diese Besprechung soll eine Einladung sein, eigene Lesarten zu finden, rote Fäden zu suchen, Verknüpfungen zu wagen.

Weitere starke Gedichte sind für mich: „The Deluge“ von Shaheed Quadri, „The Story of a Rickshawala“ von Nirmalendu Goon, „Theme“ von Abid Azad, „Flowers wither from Bosom“ von Jahangir Feroze und „Crow“ von Muhammad Samad. Sicher eine unvollständige Auflistung.

Als Übersetzerinnen und Übersetzer trugen ihren Anteil zum Gelingen an der Anthologie bei: Kaiser Haq, Sudeep Sen, Syed Najmuddin Hashim, Kabir Chowdhury, M. Harunur Rashid, Alfaz Tarafder, Hayat Saif, Saidur Rahman, Syed Manjoorul Islam, Mohamed Mijarul Quayes, Mohammed Nurul Huda, Suresh Ranjan Basak, Al Mujaheedy, Rabiul Husain, Farida Majid, Khondakar Hossain, S M Maniruzzaman, Quader Mahmud, Afsan Chowdhury, Jahidul Huq, Tassaddoque Hussain, Siddique Mahmudur Rahman, Syed Fattahul Alim, Afzal H. Khan, Tapan Kumar Maity, Kajal Bondyopadhyay, K Ashraf Hossain, Muhammad Samad, Tapan Shahed, Shuborna Chowdhury, Aminur Rahman, A Z M Haider.

Farida Majid hat „Men Digging“ von Jahidul Huq ins Englische übertragen. Ihr sei die letzte Frage dieser Besprechung gestattet.

[…]
Men keep on digging the earth
And most of their dreams around them.
Yet, what are all the reasons
For all this digging?

Eines ihrer Gedichte findet sich hier.