Clarisse Nicoïdski: „Die Augen Die Hände Der Mund & Wege der Wörter“

hue vida i si fizu boca | es war Leben und wurde Mund

Clarisse Nicoïdski (1938-1996) war eine französische Schriftstellerin, die ihre Romane und ihre kunstkritischen Schriften auf Französisch verfasste. Ihre Muttersprache war jedoch eine andere. Ihre Lyrik schrieb Nicoïdski auf Sephardisch, der Sprache der Juden, die nach 1492 aus Spanien ausgewiesen wurden (Alhambra-Edikt) und in die Diaspora gingen. Die Sprache, heute unter ISO 639-3-Code: lad geführt, hat verschiedene Bezeichnungen: Ladino, Djudezmo, Djidio, Djudeo Espanyol, Judenspanisch, Spaniolit, Espanyolico oder Hakitía.

Die Entscheidung Nicoïdskis, allein ihre Lyrik auf Sephardisch zu schreiben, versteht sie selbst als Totengebet, „als Kaddisch für ihre verstorbene Mutter und die verlorene Kindheitssprache.“ Nicoïdski schreibt im Vorwort zu der Herausgabe der Gedichte Lus ojus las manus la boca 1978:

Meine Mutter war eine Italienerin, aufgewachsen in Triest, ursprünglich aus Sarajevo. Mein Vater, der in Sarajevo aufwuchs, traf sie 1936 in Spanien (Barcelona), wo ihre Familie zu jener Zeit lebte. […] Viele Sprachen wurden Zuhause gesprochen: Italienisch, Serbokroatisch, einige Wörter auf Deutsch und ein wenig Französisch. […] Eine Sprache hatten meine Eltern, die beiden bekannt war: wir nannten sie „unser Spanisch“ und sie stammte von unseren Großeltern, die zu den „türkischen Osmanen“ gelangten, wie es hieß, seit der Inquisition Spaniens. Diese Sprache assimilierte viele Wörter der fremden Länder, die sie durchquerte.

Wir folgen in den Gedichten einer Rede gegen das Vergessen, einem Plädoyer für den Gebrauch einer Sprache, gegen die Versteinerung, gegen die Stummheit. Diese Rede ist angesichts der Tatsache, dass der in Sarajevo verbliebene Teil der Familie in der Shoah zu Tode kam, viel mehr als nur ein Kieselstein auf den Gräbern der Vorfahren.

und wie sollte ich
eure verlorenen Augen vergessen
(aus: Die Augen)

Das sind die beiden ersten Verse des Bandes, ein Auftakt, der mit geringen Worten alles sagt. So ist das poetische Verfahren der Autorin: Der Schrei, das Entsetzen über das Unsagbare findet Platz in Worten von größter Allgemeinheit, lässt jedoch Raum für die vielen Toten.

es war Leben
und wurde Mund
(aus: Der Mund)

was wirst du sagen?
in deinem Mund
können die Wörter Steine sein

und können Wörter sein

was wirst du sagen?
(aus: Wege der Wörter)

Die Gedichte Nicoïdskis sind von erdrückender Intimität, weil sie mit den Toten sprechen, gegen den Tod sprechen.

im inculgaré a tus bezus
com’un cantu
si me dexas
comu palavra di maldición
mi inculgaré
a tu hora
cuando si quedará
di spantu
in las callis di mi pasadu
ondi ti starás
caminandu

ich werde mich an deine Lippen hängen
wie ein Lied
wenn du mich verlässt
wie ein Wort des Fluches
werde ich mich
an deine Zeit hängen
wenn sie vor Entsetzen
anhalten wird
auf den Straßen meiner Vergangenheit
wo du stets
wandeln wirst
(aus: Wege der Wörter)

Das vollständige Manuskript von Caminus di Palavras ist verschollen. Juana und Tobias Burghardt haben Übersetzungen ins Spanische und Englisch gesichtet und drei für verloren gehaltene Texte Nicoïdskis zusätzlich zu den 19 Gedichten, die 1980/81 in der Zeitschrift poesía vorabgedruckt wurden, ins Deutsche übertragen.

Nicoïdski weckte in Juan Gelman den Wunsch, auf Sephardisch zu schreiben. Er verfasste Dibaxu | Debajo von 1983 bis 1985 und notiert:

Als hätte die äußerste Einsamkeit des Exils mich zu den Wurzeln in der Sprache gedrängt, die tiefsten und verbanntesten der Sprache. […] Hingegen weiß ich, dass mir die sephardische Syntax eine verlorene Reinheit und ihre Diminutive zurückgab, eine Zärtlichkeit anderer Zeiten, die lebendig ist und deshalb voller Trost.