Sandpapier und Leim, ein Tropfen Wasser
Enrique Winter, chilenischer Dichter mir deutschen und polnischen Wurzeln (* 1982 in Santiago de Chile) reist viel. In Juni 2018 war er zum wiederhoten Mal in Deutschland, nach Einladungen zur Latinale 2012 in Berlin oder als Gast der Sylt Foundation von Indra Wussow 2017, dieses Mal in Köln zur Vorstellung der deutschen Übersetzung seiner Gedichte, die nun endlich erschienen ist. Der Band, der eine Auswahl aus seinen Bänden Atar las naves (2003), Rascacielos (2008) und Guía de despacho (2010) vorstellt, war bereits 2015 bei einem anderen Verlag angekündigt, hat nun aber seinen Platz in der parasitenpresse von Adrian Kasnitz gefunden.
In ihrem Nachwort schreiben Sarah Otter, Johanna Schwering und Léonce W. Lupette, die die Übersetzungen gemeinsam erarbeitet haben, von Winters Performance bei der Latinale, die zur Initialzündung für diese Übersetzungsarbeit wurde. Annähernd sechs Jahre dauerte es, bis das Buch realisiert werden konnte. Welchen Preis müsste dieses Buch haben, um die Ausdauer des Übersetzertrios gerecht zu werden und dem Verleger einen Gewinn in Aussicht zu stellen?
Frage ich besser, was Dichter und Übersetzer außer Begeisterung mit sich führen? Wenig! Was fange ich beispielsweise mit nur drei Dingen an?
Sandpapier
Wenn Winter nicht reist, ist er in der Hafenstadt Valparaíso zuhause. Ich sehe auf hunderten im Internet eingestellten Fotos die bunte Kulisse von Häusern, die die Berge am Meer von der Sohle bis zu ihrer Spitze ausfüllen. Stelle mir vor, wie sich Farbschichten übereinanderlagern, verdichten, luftundurchlässig zusammenkleben, bis sie im Sonnenlicht und in salziger Gischt zu blättern anfangen. Wie ein feucht gewordenes Buch, das nicht gerettet werden konnte, dessen Seiten endgültig zusammenbuken. Vielleicht ist ein solches Geblätter an Hauswänden zu finden oder, eher noch, an hölzernen Klappläden? Wo der Tourist pittoreske Fotos schießt,
[…]
Es dämmert zu meinen vier, sechs Seiten,
und ich irre links der Sonne entlang.
Ich bin eine gerade Linie, eine Linie,
ein Tourist zwischen weißen Körnern.
[…]
(aus: Uyuni)
hält der Einheimische schon das Sandpapier bereit, uraltes Korund, das in kreisenden Bewegungen immer wieder auf den Grund geführt wird. Was liegt unter der Oberfläche?
Werkhallen
Unter der Oberfläche der Meere
liegt Weißraum.
Die Wellenkämme erfassen Schriftzeichen,
die sie nur bei Flut drucken.
Diese zwei Blätter am Tag schließen sich anderen Welten an
und unsere Milchstraße liest.
Sie verwirft sie, zerknüllt sie und schleudert sie fort.
Die schwarzen Löcher: nichts als vergeudete Tinte.
Ich glotze begeistert (entgeistert?) ins Meer, egal wie hoch ich am Berg stehe, welchen Horizont mein Standort freigibt. Die Beschränkung liegt immer in meiner Augenhöhe. Da kommt Enrique und rückt die Kulisse zurecht.
Standort
Ein Dorf, zur Rechten flankiert
von einem Kraftwerk (Rohstoff:
Brennholzscheite (innen: Wald))
und zur Linken vom Walfänger
(Rohstoff: der Tran der Wale
(außen: das Meer)).
Es wird kein Stahl geschmiedet, kein Wal zerlegt.
Es gibt kaum noch Wald. Nein.
Nur das Meer.
Es gibt genug Gründe, findet der Einheimische, die Schichten der Amnesie abzutragen.
Fernando Agüero Catrilef vergisst den Namen einer seiner Töchter.
Als Fischer von fünfundsiebzig Jahren erinnert er sich an den Walfänger,
auf dem Reste geschliffener Steine und Ziegel liegen.
Er zeigt, wo er einst die Winschen drehte, wo der Heizkessel dampfte,
die Hütte, anständig genug für das Lohnbüro: zehn bis fünfzehn Leute
unter dem Spitzdach ein hübsch zementierter Flur mit Sims
zum Ausruhen, drei Zimmer, drei Bäder. Er erinnert sich
an die Werkhäuser: zwei Wasserleitungen, drei oder vier Schlafräume, die Plumpsklos
über dem Meer. Die Abflussrinne ist noch da.
[…]
(aus : Agüero)
Aber schadet derlei Erinnerungsgeschabe nicht der Imagekampagne?
[…]
Die Reisebusbegleiterin (was für ein Wort) sagt,
um den Film besser sehen zu können,
schließe man die Vorhänge.
(aus : Sonnen)
und Leim,
Sohn und Vater, Sohn und Großvater: handelt es sich um Adhäsion oder Kohäsion, Anhaftung oder innerer Zusammenhalt? Bei dem Leim, die der Carpintero in die Verzapfung des neuen Kappladens laufen lässt, nachdem der alte nicht mehr zu retten war, ist die Frage eindeutig zu beantworten. Familie hingegen ist voller Überraschungen, ausgestattet mit unerwarteten Astlöcher, die die Stabilität gefährden. Bricht sie?
Das hier
der Schuhkarton, in dem ich wohne,
der Schuhkarton, in dem mein Vater wohnt.
Zwei linke Schuhe.
[…]
Damit verbrachte ich meine Kindheit: Ich malte Wolkenkratzer und Hütten.
Mein Vater sorgt dafür, dass sie nicht umfallen.
(aus: Architektur)
Hier die Zärtlichkeit, dort die Verstörung.
Das Seil lösen
Niemand wollt‘ uns zeigen, wie man so ein Seil springt.
Meine Eltern haben es vergessen
im Laden auf der Presidente Errázuriz
zwei neun null eins.
Dort ist es noch immer an die Decke geknotet
und schaukelt meinen Opa.
ein Tropfen Wasser
Artur Becker: Café El Peral
Enrique Winter Du polnischer deutscher chilenischer Dichter aus Valparaíso
Du Kolonialist der lateinamerikanischen Liebe
In Deinem Café am Ozean der größer ist als das Gedächtnis unserer Großeltern fragst Du mich
Ob ich etwas Außergewöhnliches Einmaliges gesehen habe auf unserem Planeten
[…]
Der deutsch-polnische Schriftsteller Artur Becker hat Winter in Valparaíso getroffen, davon (und seiner gesamten Reise nach Chile) schreibt Becker in Die Karawane der Poesie in Chile | Transformation und Identität – Trauma und Versöhnung, Frankfurter Rundschau vom 31.05.2018. Er sieht Winter als jungen, freundlichen Mann mit durchweg positiver Ausstrahlung. Winters Gedichte sind von einer anderen Qualität. Sie sind nicht eingeschliffen und, obwohl Schönheit für Winter wichtig zu sein scheint, nicht schön, nicht blank oder glänzend. Und das ist gut so! Was mit der thematischen Kontinuität seitens des Übersetzerteams beschrieben wird, kann man auch als Repetition des Fragmentarischen verstehen, als das plötzliche Auftauchen des Untergrunds (Hintergrunds) auf der geschönten Oberfläche. Sind diese Gedichte leichtfüßig und schwebend, wie Becker formuliert? Ich spüre eher noch den Anteil der Last, der sich aus der Erinnerung ergibt. Winters Gedichte haben ein Gedächtnis und blicken doch nach vorne. Der Autor ist nicht der Generation der náufragos, Schiffbrüchigen, zuzurechnen, „eine Generation, die den Übergang von der Pinochet-Diktatur (1973 – 1990) zur Demokratie als junge Erwachsene miterlebt hat (und den damit verbundenen schmerzlichen Prozess der Aufarbeitung zwischen Strafverfolgung und Amnestie)“ (vgl. Rezension Antonia Torres: Umzug – Mudanza). Doch, schreibt Becker, Winter habe genug Dinge gesehen, die ein Kind nicht sehen sollte. Torres sagte im Gespräch zu mir, Winters Arbeitsweise sei experimenteller, weniger der Vergangenheit verhaftet, freier.
Da irritiert das Ende von Handelsware, mit dem auch diese feine Auswahl von Winters Gedichten schließt.
Ich bin vollkommen frei (und bereue es).