Literaturzeitschrift alba11: Schwerpunkt weibliches Schreiben

Gespräch mit den alba-Redaktionsmitgliedern Laura Haber und Christiane Quandt.

Gib acht, Agda!
Die elfte Ausgabe des Magazins alba.lateinamerika lesen

Mit dem Leitmotiv Aquí estamos. Wir sind da. präsentiert sich die aktuelle Ausgabe der in Berlin herausgegebenen zwei- und stellenweise auch mehrsprachigen Literaturzeitschrift. Ein Blick auf die Namen der Redaktionsmitglieder und der an Übersetzungen und an Illustrationen Beteiligten weist deutlich mehr Frauen als Männer aus, weshalb alba sich folgerichtig, nach mehreren Ausgaben mit verschiedenen Länderschwerpunkten, darunter Chile und Mexiko, nun dem weiblichen Schreiben widmet. Ich widerstehe der Versuchung, Anführungsstriche zu setzen, eine Kategorie zu markieren, eine Schublade.

In ihrem Beitrag Sie sind da blickt Redaktionsmitglied María Ignacia Schulz zurück auf die Anfänge des Magazins.

Vielfalt als Stärke, Heterogenität als höchster Anreiz. Diese Ziele setzte sich die Redaktion im Editorial der ersten Ausgabe von alba.lateinamerika lesen im März 2012. In den sechs Jahren und elf Ausgaben seither war es nicht immer einfach, dem auch gerecht zu werden. Stets war mit diesem Interesse auch das Bemühen verbunden, die literarische Arbeit zeitgenössischer Schriftstellerinnen Lateinamerikas hervorzuheben. Ist dies heutzutage noch notwendig?

Die Frage wird von Christiane Quandt per Interview an die mexikanische Lyrikerin und Performerin Rocío Cerón weitergegeben. Sie antwortet:

Meiner Ansicht nach sollte es heutzutage nicht mehr nötig sein, eine Ausgabe zu publizieren, die dem weiblichen Schreiben gewidmet ist, denn idealerweise müssen wir alle die gleichen Möglichkeiten haben, Männer wie Frauen. Doch da das nicht der Fall ist, halte ich es für fundamental wichtig, sowohl Problematiken wie die Frauenmorde in Mexiko sichtbar zu machen, als auch das Schaffen in Literatur, Kunst und Wissenschaft, das von Frauen hervorgebracht wird. Das Thema ist noch immer aktuell.

Die Frage ist keine Petitesse. Ich wende mich jedoch der Literatur zu. Ich möchte elf Texte von Frauen vorstellen. Unterschlage die Männer, gehe nicht auf die guten literaturgeschichtlichen Essays ein, nicht auf die Rezensionen, nicht auf die Illustrationen, die das Magazin im Zusammenspiel mit den Texten zu einem Gesamtkunstwerk machen, für das Art-Direktorin Manu Wolf verantwortlich zeichnet.

Juana Adcock: Wasserhaut/Hautwasser/Wasserhaut
aus dem mexikanischen Spanisch von Rike Bolte

[…]
Je trockener die Haut, umso deutlicher die Linien,
umso mehr Textur entsteht. Je älter, umso mehr sind wir Text,
umso mehr wir selbst.

Das ist schön. Ich erkläre dir,
dass du unmöglich deine Schönheit
begreifen kannst.
[…]

Eine unbegreifliche Schönheit eröffnet das Magazin literarisch. Adcock, 1982 in Monterrey geboren, lebt seit 2007 in Schottland.

Natascha Gangl: Zócalo
aus dem Deutschen von Andrea Beltrán Arruti

Gangl „lebt zwischen Österreich und Mexiko.“ Die Passage ist ein Auszug aus ihrem Debütroman Wendy fährt nach Mexiko von 2015.

Du setzt Fuß auf die Straße, weich und tänzelnd schmiegt sich dein Körper an die Körper der anderen, bist ein Atom des Gesamt-Honigs hier und kannst: Zuhören.
Otro lado del mundo.
Centro del universo.
Zócalo.
Wind.
Pisse.
Erschlagenheit.
Die Sonne scheint, weil sie scheinen will.

Mit Zócalo ist die Plaza de la Constitución in Mexiko-Stadt gemeint, allgemeiner gesprochen beschreibt das Wort den Hauptplatz einer Stadt, den Sockel, das Fundament.

Claudia Hernández: Verbrannte Erde
aus dem salvadorianischen Spanisch von Christiane Quandt

Im ersten Kapitel des Romans Roza, Tumba, Quema werden wir in einen Konflikt zwischen Mutter und Tochter geworfen. Die Mutter möchte unbedingt nach Paris reisen – ohne ihre Kinder.

Sie war noch nie in Paris. Sie weiß, Paris ist die Hauptstadt eines sehr alten Landes, denn das war die Frage bei einem Test in der Grundschule, bei dem sie eine Klassenkameradin um Hilfe fragen musste, obwohl sie Angst hatte, die Lehrerin könnte es sehen, ihr das Blatt wegnehmen, sie hinauswerfen, zum Direktor bringen, die Mutter anrufen und ihr erzählen, was ihre Tochter so trieb, anstatt zu lernen, wie es ihr zu Beginn des Schuljahres ans Herz gelegt worden war.
[…]
Deswegen musste ihr niemand erklären, was Paris war, als sie erfuhr, dass ihre Mutter sehr wahrscheinlich für einen oder anderthalb Monate dorthin reisen würde. Sie wusste, dass es eine gute Nachricht war und eigentlich freute sie sich mit ihr. Dass sie nicht wie die anderen strahlte, lag nicht daran, dass es unter allen Städten der Welt ausgerechnet diese sein musste, sondern daran, dass ein oder anderthalb Monate sehr lang waren, besonders, wenn Mama sie und ihre Schwestern mit einer Kinderfrau zurücklassen wollte.

Laura A. Arnés: Ausgewählte Lyrik aus „Manzana fue“
aus dem argentinischen Spanisch von Sandra Hettmann

Die feministische, bisexuelle Aktivistin bekennt sich zum homoerotischen Gedicht. Der Satz ist aus Editorial und CV kompiliert.

es war in der nacht. die augen gespannt wie brustwarzen. die
arme aufopferungsvoll gekreuzt. gabe und verehrung
küssen sich auf den mund. die zunge tauft die gebärmutter.
mystische umkehrung, heilig. wissen um das salben von zunge und
lippen. der hunger und die zähne. der hunger. apfel
war […]
(aus: Legende)

Sicher gibt es unterschiedliche sexuelle Phantasien von Männern und Frauen, Heteros und Homos. Aber legt uns diese Abgrenzung nicht eine Beschränkung auf, die der Erotik ihrem Wesen nach nicht innewohnt?

[…]
wie der atem im
winter, wie der orgasmus in der hand […]
(aus: Geschichte)

Hilda Hilst: Agda
aus dem brasilianischen Portugiesisch von Dania Schüürmann

Hier schreibt sich Arnés‘ Text ohne Unterbrechung fort.

Gib acht, Agda, es ist Zeit achtzugeben, auf die Frucht in der Hand, spähen nur darfst du, wie könntest du mit deiner gelben Hand den berühren, der sagt, dass er dich liebt, diesen Vergänglichen, Agda, fang wie immer an, kümmere dich um die Schweine, kehre den Hof, gieße die Kakteen, schau nach den Farnen, den Flamingoblumen, langsam, langsam, laufe langsam, lang schon bist du alt, und besonders an diesem Morgen. […]

Stellt alba hauptsächlich zeitgenössische Texte vor, in der Mehrzahl solche von in den 1980ern Geborenen, ordnet sich Hilsts Text in der Kategorie Wiederentdeckt ein. Nun, genaue Kenntnisse der lateinamerikanischen Literatur sind vorausgesetzt, sonst kann der Text (und seine Autorin) immer noch zur Entdeckung werden. Hilst (1930-2004) gilt als eine der wichtigsten portugiesischsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts, deren Gesamtausgabe aktuell in einem der größten brasilianischen Verlage in Arbeit ist.

Wäre ich mein Körper, würde er mir dann so weh tun? Wäre ich mein Körper, wäre er dann so alt? Was ist die Sprache meines Körpers? Was ist meine Sprache? Sprache für meinen Körper: meine eigene Beerdigung, begossen, üppig, ein Grab mit Tausendschönchen und Lilien […]

Verónica Gerber Bicecci: Drei Beobachtungsbögen aus „Conjunto vacío“
aus dem mexikanischen Spanisch von Sarah van der Heusen

Die Beobachtungsbögen enthalten folgende Listenelemente: Ort, Datum, Lichtverschmutzung (1-10), Objekt, Maß, Größe, Ortszeit, Ausrüstung, Beobachtung (Zeichnung) und Anmerkung. Die Lichtverschmutzung schwankt zwischen 0 bei der Beobachtung eines Neutrinos

Eine Art subatomares Teilchen, fast ohne Ladung und Spin und von geringerer Masse als ein Elektron, das die Materie durchdringt, ohne sie zu beschädigen. […]

und 10 beim Objekt Sattelschlepper.

Wurde im Park abgestellt und blockiert die ganze Sicht. In der Fahrerkabine schläft ein Mann; morgens kommt er heraus. […]

In den Anmerkungen entwickelt sich die Stimme der Autorin. Conjunto vacío (2015) wird als autobiografische visuelle Erzählung bezeichnet. Einmal mehr machen die vorgestellten Textteile Lust auf die Lektüre des Werks.

Jamaica Kincaid: A small place
aus dem antiguanischen Englisch von Karina Theurer

Die unterschiedlichen Sichtweisen zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Touristen und Einheimischen nimmt der Ausschnitt aus dem Roman A small Place aufs Korn. Kincaid, 1949 in St. John’s geboren, mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin und Literaturprofessorin, ätzt gegen Tourismus ebenso wie gegen die korrupten Eliten des Landes.

Du verlässt das Flugzeug. Du gehst durch den Zoll. Da du ein Tourist bist, nordamerikanisch oder europäisch – weiß, offen gesprochen – und keiner der dunkelhäutigen Antiguaner, die beladen mit vor billiger Kleidung und Essen für Verwandte berstenden Pappkartons aus Nordamerika oder Europa heimkehren, navigierst du flink durch den Zoll, querst ihn elegant. Deine Taschen werden nicht durchsucht.

Gut, dass mit Kincaids Text der karibische Teil der Welt, nicht häufig wahrgenommen, einen gebührenden Platz findet. María Ignacia Schulz schreibt an anderer Stelle passend hierzu:

Was aber ist mit den Autorinnen in der literaturbetrieblichen Peripherie Lateinamerikas? Marginalisierung und Unsichtbarkeit gelten für sie im doppelten Sinne. Denn es ist ein großer Unterschied, ob von einer der großen Literatur-Hauptstädte oder aber von Barbados oder Haiti aus geschrieben wird.

Adelaide Ivánova: Ausgewählte Lyrik aus „O martelo“
aus dem brasilianischen Portugiesisch von Christiane Quandt

Die Feministin stellt die Gewaltfrage. Der Hammer unter der Bettdecke ist nicht ein erigiertes männliches Geschlechtsteil, sondern

ein nerviges ding mit stahlteil
[…]
er läuft gefahr,
vom hammer getroffen zu werden,
auf leben und tod
(die menge der durch
einen hammerschlag
freigesetzten energie
entspricht der hälfte
seiner masse mal der geschwindigkeit
im augenblick des aufpralls zum quadrat).
(aus: Der Hammer)

Die Umkehrung des männlichen Gewaltmonopols, es geht aus der Textauswahl nicht zwingend hervor, ist das Ergebnis des literarischen Aufarbeitungsprozesses einer Vergewaltigung, bei dem, wie Übersetzerin Christiane Quandt im Gespräch sagte, das lyrische Ich sich schließlich in die Rolle des Vergewaltigers, der im Prozess freigesprochen wurde, einfühlen kann.

ich würde dich vergewaltigen,
das weiß ich jetzt,
verstehe den römischen
prinzen, jüngster
sohn des königs,
der zofen schändet
und untergebene hühner
[…]
(aus: Der Dompteur)

Liliana Heer: Die Sonne danach
aus dem argentinischen Spanisch von Laura Haber

Der Roman, dessen drittes Kapitel vorgestellt wird, spielt in der Zeit nach dem Bürgerkrieg in Jugoslawien. Der Ausschnitt belegt die poetische Sprache der Autorin, die rhythmisiert als lyrische Prosa den Roman, wie Übersetzerin Laura Haber mir verriet, komplett durchzieht.

Einer meiner Väter hat mir erzählt:
Ich bin in Belgrad geboren.
Sieh zu, dass du die Familie besuchst, wenn du dort bist, das Gebäude
steht noch, aber man muss die Treppen hochsteigen
bis in den fünften Stock. Sag nur meinen Namen und du wirst durch die Luft fliegen.
ich kenne keine bessere Art, um zur türkischen Festung zu gelangen,
Kalemegdan erwartet dich. Versuch dir zu merken, was ich sage.
Von meinem Fenster aus siehst du die Festung, als wäre sie eine Filmkulisse.
Als ich mich in deine Mutter verliebt habe, hat mich die Vereinigung von Donau
und Save dazu verleitet, sie zu vergewaltigen.

Wenn zwei Flüsse ihre Wasser vermischen können –
wer sollte uns daran hindern, unser Blut zu vermischen?

Er lügt, sagte sie.
[…]

Claudia Guerra: Ausgewählte Lyrik auf Zapotekisch
Zapotekisch und Spanisch von Claudia Guerra
aus dem mexikanischen Spanisch von Lea Hübner

Die indigenen Sprachen Mexikos sind weit aufgefächert. Zapotekisch, die Muttersprache Guerras, die 1981 in Santa María Xadani geboren wurde, wird nach heutigem Stand der Sprachforschung als Makrosprache definiert, die in 57 kleinere Einheiten, individuelle Sprachen aufgeteilt ist. Guerra schreibt, wie ich annehme, in Xadani Zapotekisch (ISO 639-3-code: zax). Davon unabhängig, wie die Linguisten die Zuordnung vornehmen, tut es gut, indigene Lyrik zu sehen und sich gewahr zu werden, warum es (noch) etwa 7000 Sprachen auf unserer Welt gibt.

Rulué‘ ti bigu
ribeelua’ya’sia‘
ndaani’si larigueela‘.
Cucaadiaga‘ bichu‘ nisadó‘,
doo dxita bigu cayaba dxe‘ bizalua‘.
[…]

Einer Schildkröte gleich
spähe ich mit dem Blick
zwischen die Betttücher.
Ich lausche dem Gesang des Meeres in der Muschel,
eine Perlenschnur feuchter Eier
fiel mir aus den Augen.
[…]
(aus: Rulué‘ ti bigu / Ich bin eine Schildkröte)

Gabriela Cabezón Cámara: Die Abenteuer der China Iron
aus dem argentinischen Spanisch von Sarah van der Heusen

Der Roman wird in drei Kapiteln vorgestellt.

Es war der Glanz. Der Welpe sprang leuchtend zwischen den verstaubten, gealterten Beinen der wenigen umher, die noch da waren: Das Elend fördert die Schrunde, die Kerbe; es kratzt allmählich, ohne Schutz vor der Witterung, an der Haut seiner Nachkommen; es macht sie zu trockenem Leder, zerlegt sie, zwingt ihren Geschöpfen eine Morphologie auf. Dem Welpen noch nicht, er strahlte Lebensfreude aus, ein Licht, das noch nicht von der traurigen Trübheit dieser Armut erreicht worden war, die, davon bin ich überzeugt, eher an Mangel an Ideen als an irgendetwas anderem war.

Welch trostlos-schöner Satz: Das Elend fördert die Schrunde. Und er scheint zu der Frau zu passen, die sich selbst den Namen China gegeben hat.

Ich war ihre Negra: die Negra einer Negra meine halbe Kindheit lang und danach, was sehr früh war, wurde ich dem singenden Gaucho in heiliger Ehe übergeben. Ich glaube, dass der Negro mich beim Kartenspiel in der Bruchbude verloren hat, die sie Kneipe nannten, und der Sänger liebte mich bereits, und weil ich noch so jung war, wollte er lieber auf die göttliche Erlaubnis zählen, mit einem Sakrament, um sich mit Gottes Segen über mich herzumachen. Fierro schwängerte mich und bevor ich 14 wurde, hatte ich ihm schon zwei Kinder geboren.

China bricht auf, gemeinsam mit Elisabeth, einer Weißen. Ihre Abenteuer, ein queeres Roadmovie.

Der erste Preis für so viel Glück war der Staub. Ich, die ich ganz im Staub gelebt hatte, die ich wenig mehr gewesen war als eine der vielen Formen, die der Staub annahm, die ich von dieser Atmosphäre eingeschlossen gewesen war – die Erde der Pampa ist auch Himmel – begann ich zu fühlen, zu bemerken, zu hassen, wenn er mir die Zähne knirschen ließ, wenn er an meinem Schweiß klebte, wenn er mir den Hut beschwerte. Den Krieg erklärten wir ihm, auch wenn wir wussten, dass wir immer verlieren würden: Unsere Fundamente liegen im Staub.

Los cimientos en el polvo. Ich denke wieder an das andere Wort: Zócalo für Fundament, Sockel, das auch Buchstütze heißen kann.

alba11, erstmals im Buchformat, wird einen Platz im meinem Buchregal bekommen und meiner kleinen Reihe lateinamerikanischer Literatur eine gute Stütze sein.

alba.lateinamerika lesen erscheint einmal jährlich in Berlin.
Einzelverkaufspreis 10,00 € (Abo, Webshop, ausgewählte Buchläden in Berlin)
Web: www.albamagazin.de und www.facebook.com/revista.alba