Mary Caesar: „My Healing Journey“

Lower Post Residental School Memories

Mary Caesar, Strong Woman Walking, so ihr indianischer Name, wurde 1955 in Kanada als Mitglied der Liard First Nation an der Grenze von Yukon zu British Columbia am Watson Lake geboren.

In ihrer Lyrik und ihrer Kunst legt sie Zeugnis ab vom Leben indigener Menschen, die in das rassistische und Menschenleben zerstörende System der Residental Schools in Kanada gezwungen wurden, dessen Ziel es war, die Menschen zu entwurzeln, ihrer Herkunft, ihrer Kultur zu berauben und physisch und psychisch zu vernichten.

Caeser sagt von sich, sie habe die Residential School überlebt. Ihre Triebfeder zu schreiben, ist, jenen zu gedenken, die dieses Martyrium nicht überlebt haben. Opfer sind auch die Überlebenden, denn sie sind lebenslang gezeichnet.

Ida war eine Überlebende der Lower Post Residential
School.
Ich werde ihr Andenken immer wahren.

(aus: Für Ida)

In ihrem Vorwort erzählt Caesar von ihrer Alkoholabhängigkeit und dem langen Weg der Heilung, den sie auch durch ihr Schreiben und ihre Kunst vorantreibt.

Dass dieses wichtige Zeugnis aus 24 Gedichten (bereits in der 4. Auflage) zweisprachig in englischer und deutscher Sprache vorliegt, reich bebildert mit der Kunst der Autorin, ist ein Verdienst engagierter Menschen, die den Blick auf die Situation indigener Völker in Nordamerika jenseits überkommener Klischees, die immer noch einen kauffreudiger deutschen Markt bedienen, richten.

Diese Besprechung wird nicht ohne ein aber auskommen, aber völlig gleichgültig, in welchen Details ich mich als Kritiker verfange, über allem steht die Bedeutung dieses Buches als nicht zu überhörenden Stimme eines Opfers, die versucht, sich von erlittenem Unrecht zu befreien und ihre Humanität weiterzugeben.

Ich glaube, dass wir als menschliche Wesen alle Härten und Nöte überwinden und dabei immer noch die Fähigkeit besitzen können, zu vergeben und unsere Würde und Menschlichkeit zu bewahren.

(aus: Einführung)

Es mutet merkwürdig an, wenn auf Seite 4 folgendes zu lesen steht:

Mary Caesar ist Mitglied der Kaska First Nation. Ihre Interpretation von Gedicht und Lyrik unterscheidet sich sehr von dem „europäischen“ Verständnis dieser Literaturform. Wir bitten die Leser, dies zu respektieren.

Für Menschen, die sich durch die Literaturen der Welt lesen, ist dies eine Bemerkung, die mindestens irritiert, wenn nicht gar verärgert. Ich glaube zu wissen, warum es so da steht. Dahinter steht wohl die Befürchtung, die Autorin  könnte abzuqualifiziert und mithin rassistische Vorurteile und die weiße Geschichtsschreibung extrapoliert werden. Braucht es das? Wozu diese Ängstlichkeit? Die Sätze sind geeignet, das wichtige Anliegen der Autorin zu konterkarieren, weil sie unterstellen, das Publikum gehe nicht offen in die Lektüre, sondern mit bereits festgelegten Vorstellungen. (Ein europäisches Verständnis von Gedichten gibt es nicht. Vielleicht schwebte es den Nationalsozialisten in ihrem Tausendjährigen Reich vor, die alles Abweichenden als entartet diffamierten und zerstörten.)

Caesar schreibt in klarer Sprache und benennt Botschaften. Letzeres mag in unserer Kultur nicht gut ankommen, in einer Zeit, da Wohlstand uns hat fett werden lassen, dekadent, und wir individuelle Freiheit als höchstes Gut feiern anstatt unseren Reichtum zu teilen.

Ich will, dass die weiße Gesellschaft meine Ge-
schichte
aus meiner eigenen Perspektive anhört –
mit dem nötigen Respekt, den ich verdiene und ein-
fordere.

Ich will meinen rechtmäßigen Platz in der Gesell-
schaft.

Ich will die Sache richtigstellen.
Ich will die Wahrheit aufschreiben, weil diese meine
Wahrheit ist.

(aus: Meine Geschichte)

Poetischer wird es, wenn Caesar sich der Natur zuwendet oder sich ihrer Kindertage vor der Schulzeit erinnert, Kraftressource und Verwurzelung zugleich.

Es ist Frühling im Yukon.
Mutter Erde beginnt aufzutauen,
aus dem langen, eisigen Griff des alten Mannes Win-
ter.
Ihr feuchter Körper zeigt langsam den Matsch des
vergangenen Jahres.

(aus: Frühling im Yukon)

Ich erinnere mich an mit Blumen bedruckte Baum-
wollkleider, die ich trug.
Die Haare wehen im Wind. Ich laufe barfuß auf den
Lehmstraßen, die durch das Dorf führten.

(aus: Kindheitserinnerungen)

Von Seiten der Herausgeber hätte man sich mehr Sensibilität im Umgang mit der Form der Gedichte gewünscht. Selbstverständlich werden lange Verse im englischen Original in der deutschen Übersetzung länger. Ein Umbruch der Zeilen ist nahezu unvermeidlich. Es darf gefragt werden, ob einige von Caesars Texten Gedichte sind oder vielmehr Prosa, die versucht, einem Gedicht zu ähneln. Auch lyrische Prosa unterliegt ja Gesetzmäßigkeiten, jedenfalls nicht eines beliebigen Zeilenbruchs innerhalb eines Wortes, der nicht inhaltlich gestützt ist, sondern durch das Ende der Zeile. Ich bin mir nicht sicher, ob die englischen Originale im Schriftbild genauso von der Autorin vorgesehen sind, in der Übersetzung jedenfalls kommt es zu Versen, die keinen Halt und poetischen Gehalt haben, wie die schon weiter oben genannten Verse

aus dem langen, eisigen Griff des alten Mannes Win-
ter.

Bei den wenigen Gedichten, die mit mehreren Strophen arbeiten, übernehmen die Übersetzer (Janett Niklas, Silvia Booth und Bernd Damisch) die Strophen des Originals nicht immer, sondern fügen willkürlich Absätze ein.

Übersetzungsarbeit ist immer ein Spiel mit Worten, das zu vielen Varianten führen kann. Die Übersetzung sollte so frei wie möglich, so nah wie nötig sich am Original orientieren und dabei mehrere Bedeutungsschichten transportieren.

Caesars I Have a Vision wird zu Ich habe einen Traum. Zweifellos ist die Assoziation zu Martin Luther King gewollt, wie ein Blick auf den Beginn des Gedichts bzw. der Rede zeigt.

I have a vision
that one day our people
will rise up
(Mary Caesar)

I have a dream that one day this nation will rise up …
Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben wird …
(Martin Luther King)

Unverständlich, dass, nachdem der deutsche Titel deutlicher als das Original King zitiert, der Gedichtauftakt diese Spur nicht weiter verfolgt. Das starke Ich bei King und Caesar getilgt, heißt es:

Der Tag wird kommen,
an dem mein Volk wieder auferstehen wird.

In Dreaming of Freedom steht die Zeile

Those depraved, demented, crazy mad men and women.

In der Übersetzung:
Diese entarteten, verrückten Wahnsinnigen

Die Übersetzung von depraved in entartet ist für mich ein Fehler.

Man kann darüber diskutieren, ob ursprünglich eng begrenzte Termini aufgeweitet werden. Caesar spricht an einer Stelle vom Holocaust an ihren Leuten. Ich bin eher für eine engere Fassung des Begriffs, nehme aber zur Kenntnis, dass der Völkermord an Sinti und Roma von einigen Historikern ebenfalls als Holocaust bezeichnet wird.

Nicht aber geht, einen derart auf die Sprache des Dritten Reiches, Victor Klemperers LTI in Erinnerung, fixierten Begriff, der Ausdruck der Vernichtung von Pluralismus geworden ist, einem Opfer derselben Politik in den Mund zu legen. Verderbt, verkommen, ja, nicht aber entartet.

Das ist nicht Caesars Sprache, die den Horror des Systems benennt, aber niemals die Perspektive von Tätern und Opfern verwechselt. Die Heilung, die in Caesars Gedichtband im Vordergrund steht, geht durch den Schmerz. Doch aus dem Schmerz entsteht nicht der Wunsch, in den Tätern minderwertige, entartete Menschen zu sehen. Es geht darum, Zeugnis abzulegen und die Verantwortung für die kommenden Generationen zu übernehmen.

Wir sind es, die der nächsten Generation zeigen müs-
sen, wie sie heilen kann.
Wir müssen der nächsten Generation dabei helfen,
sich auf das Kommende vorzubereiten.
Wir müssen unsere Erfahrungen teilen und
unsere Geschichten von unseren Erlebnissen
an den Residential Schools erzählen,
sodass dies niemals wieder
unserem Volk widerfährt.

(aus: Wir sind die Auserwählten)