Inger-Mari Aikio: „Cream for the Sun | Sahne für die Sonne“

An schwarzer Wasserlende

Die 1961 geborene Inger-Mari Aikio, Ima genannt, ist finnische Schriftstellerin samischer Sprache. Sie schreibt auf Finnisch und Nordsamisch, der größten, von etwa 25000 Menschen gesprochenen Sprache der aus neun Sprachen bestehenden Sámi-Sprachfamilie.

Der bilinguale Gedichtband, englisch und deutsch, ist das Ergebnis eines spannenden Übersetzungsprozesses, der von Studierenden im Übersetzungslaboratorium am Fachsprachenzentrum der Universität Bielefeld in Zusammenarbeit mit ihren Dozentinnen und professionellen Literaturübersetzerinnen durchgeführt wurde.

Aikio hat für eine Zusammenarbeit mit dem Musiker Miro Mantere sich ein der Tradition des Haiku (5-7-5 Silben/Moren) und des Tanka (5-7-5-7-7-Silben/Moren) folgendes Schema zurechtgelegt, dass sie auf ihre beiden Sprachen anwendet. Das führt dazu, dass die finnischen und die nordsamischen Versionen ihrer jeweils in 5-7-7-Silben geschriebenen Naturbeobachtungen nicht deckungsgleich sind. Eine Gruppe der Studierenden hat sich die finnische Version vorgenommen, zunächst interlinear ins Deutsche übersetzt und dann mit der Literaturübersetzerin durchgearbeitet, die andere Gruppe hat die nordsamische Version im gleichen Verfahren ins Englische übertragen.

Im Ergebnis stehen wie bei der Originalausgabe von Beaivvás čuohká gaba / Aurinko juo kermaa aus dem Jahr 2014 erneut zwei Sprachen nebeneinander, die sich mitunter, mal nuancenreich, mal deutlich voneinander unterscheiden. In den beiden Zielsprachen Englisch und Deutsch wurde das 5-7-7-Silben-Schema aufgegeben.

Wichtiger als eine akribische Silbenzählerei erscheint mir ohnehin die grundsätzliche Haltung, die sich am japanischen Vorbild orientiert. Sprachliche Präzision auf engstem Raum, eine an der konkreten Naturbeobachtung verdichtete Sprache.

Die Gewissheit eines Jahreszeitenzyklus, der viergeteilt ist und bei dem kalendarisch jeweils um den 21. März, 21. Juni, 21. September und 21. Dezember eine neue Jahreszeit anfängt, löst sich bei einer Reise in den Norden Europas sehr schnell auf. Im keltischen Irland markiert das Fest der heiligen Birgida am 1. Februar den Wechsel vom Winter zum Frühjahr. Von Inger-Mari Aikio lernen wir, dass das Jahr der Sámi in acht Jahreszeiten eingeteilt ist:

Geassi – Kesä – Summer – Sommer
Čakčageassi – Syyskesä – Indian Summer – Spätsommer
Čakča – Sysky – Autumn – Herbst
Čakčadálvi – Syystalvi – Late Autumn – Spätherbst
Dálvi – Talvi – Winter – Winter
Giđđadálvi – Kevättalvi – Late Winter – Spätwinter
Giđđa – Kevät – Spring – Frühling
Giđđageassi – Kevätkesä – Early Summer – Frühlingssommer

Von den 130 von Aikio Taiku genannten Gedichte jeweils eines pro Jahreszeit in englischer und deutscher Übersetzung.

The letters are falling
From the dry moss
Forming a bed of soil

Aus vertrocknetem Moos
Rieseln Buchstaben herab
Wandeln sich zum Erdenbett

Black down
On white feathers
The night’s plumage waits

Schwarze Daune
lehnt an weißer Feder
Wartet auf das Gefieder der Nacht

The crow fights
The wind with her wings
Creating gusts of wind

Die Krähe bekämpft
Den Gegenwind
Ihre Flügel löchern Peitschenschläge

The high fog creeps
Behind the glass
Of the eagle washing in a pond

Es regnet Nebel
Durch das Fenster
In der Pfütze schwimmt der Adler

Snow-white lips
Bite into the birch neck
Protecting the deepest night

Die Lippen der Schneewehe
Beißen ins Genick
Als beschützten sie die tiefste Nacht

Behind the clouds
Promise colours the hill
Snow becomes earth

Hinter der Wolke
Färbt Versprechen den Hügel
Zerläuft den Schnee zu Erde

Water rises
Reaching birch womb
Tasting the lowest branch

Das Wasser steigt schon an
Klettert in den Birkenschoß
Kostet vom zarten Geäst

Ferns stand up
And raise hand in hand
Their knots to the sun

Hand in Hand
Heben Farne
Knoten zur Sonne

Bei diesem Schnelldurchgang durchs Jahr gerät leicht aus dem Blick, jede Beobachtung ist gleichzeitig eine Momentaufnahme und eine Ewigkeit.

Haiku und Tanka zu schreiben gilt in Japan als große Kunst. Sie zu lesen, setzt eine gewisse Übung voraus, die darin besteht, den Wundern unserer Natur, die in Worte gefasst, nicht mehr losgelassen, für ewig festgehalten sind, Raum zu geben und sie doch ziehen zu lassen. Wer dies beherrscht, wird den eigenen Rhythmus seines Atems, seines Lesens, seines Lebens spüren.

Das meint Johanna Domokos, wenn sie von Intimität als der Fähigkeit und der Absicht spricht, offen, liebend und unmittelbar mit der Natur und ihren Elementen umzugehen. Die Samisch-Dozentin fügt den Gedichten ein Essay mit dem Titel Intimität und Natur – in acht Jahreszeiten bei. Hier beleuchtet sie die Kultur der Sámi und den gesellschaftlichen Wandel durch den Kolonialismus, von Stigmatisierung des schamanischen Glaubens bis Zwangssterilisierung der Frauen bis in die 1970er Jahre.

Noch am Anfang des 20. Jahrhunderts ergänzten sich traditionsgemäß die Rollen von Frau und Mann in der samischen Gesellschaft komplementär. Die Arbeit war zwar geschlechterspezifisch verteilt, jedoch nicht in hierarchischer Weise. Sowohl Männer als auch Frauen waren stets zur Hilfsbereitschaft verpflichtet. Etwa zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten westliche Modelle zu einer eher hierarchischen Ordnung. Das hatte zur Folge, dass die Rolle der Frau nicht mehr von ihr selbst, sondern nun von den Männern  bestimmt wurde. Diese durch den Einfluss der Nachbarkulturen herbeigeführte Geschlechterkrise wirkte sich direkt auf die samischen Autorinnen aus. Sie mussten sich ihrer neuen Rolle vergewissern.