Hadaa Sendoo: „Sich zuhause fühlen“

Doch stiller // das Land

Der 1961 in der Inneren Mongolei (China) geborene Dichter Hadaa Sendoo entwickelt seine Themen, wie er im Interview mit Maya Gogoladse sagt, aus den Widersprüchen zwischen traditioneller nomadischer Lebensweise und städtischer Zivilisation, die er mit Inhumanität und Verzweiflung assoziiert. Sendoo wurde in Hohhot, der Hauptstadt der Inneren Mongolei geboren und wuchs dort auf, heute eine Stadt von über 2,5 Millionen Einwohnern, überschritt sie bereits in den Sechzigern die Millionengrenze.

In der Gedichtauswahl Sich zuhause fühlen mit Übersetzungen ins Deutsche von Astrid Nischkauer und Andreas Weiland aus vom Autor angefertigten englischen Übersetzungen der mongolischen Originale, bleibt Sendoo den Nachweis der Zerstörung menschlichen Seins durch den Moloch Stadt weitgehend schuldig.

Die weißen Wände sind
Nicht die dunklen Jahre, oder kalte Wände,
Verputzt mit Kalkzement
Und darüber
Zerbrochenes Glas, zusammengehalten von Stacheldraht

Die weißen Wände sind Wollfilz der mongolischen Steppe
[aus: Weiße Wände]

Er legt den Schwerpunkt seines Beobachtens und Schreibens auf die Natur, weite Landschaften, die er im Alter von 15 Jahren kennenlernt, als er während der Kulturrevolution zu Nomaden in die Steppe geschickt wird, in jene Gegend, aus der die Familie väterlicherseits stammt: das Grasland von Xilin Gol.

Hier findet er zu seinen Wurzeln. Und hierher kehrt er in seinen Gedanken, in seinen Gedichten, in seinen Träumen immer wieder zurück. Er kennt das jähe Erwachen aus dieser imaginierten Welt ebenso wie die nicht ablassende Verzückung, die ihn in der Natur umfängt.

Es stimmt nicht, dass ich keine Heimatstadt habe
Meine Heimatstadt ist eine aufgehende Sonne
Aber jetzt gleicht sie einem kühlen Mond
Mit zusammengekniffenen Brauen

Es stimmt nicht, dass ich keine Heimatstadt habe
Meine Heimatstadt ist ein Heuhaufen
Wer wird ihn zum Trocknen wenden?
[aus: Es stimmt nicht, dass ich keine Heimatstadt habe]

Sendoo sagt über seine Arbeitsweise, er überziehe die Gedichte mit einer Firnis aus „Traurigkeit, Nostalgie und Sehnsucht“. Zweifelsfrei kommen hier beide Bedeutungen des Wortes Nostalgie zum Zuge: sowohl die eher in der deutschen Sprache gemeinte Rückbesinnung auf eine vergangene Zeit, als auch das Heimweh. Seit 1991 lebt Sendoo in Ulanbataar (Mongolei).

Diese Firnis ist zuweilen ungebrochen schön, wenn auch stellenweise zu dick aufgetragen. Sendoos Gedichte sind dort besser, wo er auf eine Anhäufung von Farbattributen verzichtet, und seiner Leserschaft mehr Raum lässt, Farbnuancen selbst zu sehen.

Mongolische Jurte, eine nie verschlossene Tür

In einer silbernen Nacht
Ist das Licht des Himmels voller Sterne
Grüne Wellen wogen hoch
Im Wald des Windes

Eine ewig offene Tür
Gewöhnt sich an blauen Himmel und weiße Wolken
Kuhhirten verirren sich nie
Und weinen nicht wie Stadtmenschen

Silbern. Grün. Blau. Weiß. An anderer Stelle sagt Sendoo:

Ich möchte die Farben dieser Figuren genau sehen
[aus: Echo]

Luftiger und reicher wird es für mich, wenn auf den ambitionierten Farbauftrag verzichtet wird.

Schlussendlich
Brauche ich kein Gold
Und keine Seide. Wenn möglich
Überlasst mir etwas Viehfutter
Für die Nacht, um mein Pferd zu füttern
Es ist auch müde
[aus: In den Wäldern]

Gelegentlich spricht Sendoo zu viel aus. Das wird schon an der Verslänge deutlich. Doch findet er schnell wieder in die Andeutung, die die Möglichkeit wahrt, ohne den Leserinnen und Lesern den Gedanken vorzuschreiben.

Später fand ich heraus, dass die Tränen der Welt in einen Fluss zusammen laufen

Ich, eine zitternde Hand, möchte weitere Hände ergreifen
Ich, ein Narbenbaum, trage rote Äpfel
[aus: Eine schnelle Skizze]

Nischkauer muss beim Übersetzen des Wortes Narbenbaum an John Mateer gedacht haben. Sie hat den Gedichtband Der Narbenbaum des südafrikanischen, australischen Dichters, zehn Jahre jünger als Sendoo, für Fixpoetry besprochen. Mateer ist wie Sendoo ein Weltreisender in Sachen Poesie, gut möglich,  dass die beiden sich schon einmal auf einem der vielen Poesiefestivals getroffen haben.

Die Sammlung der Übersetzungen findet einen starken Abschluss. Das  letzte Gedicht schiebt mit großem Elan die zuvor genannte Kritik beiseite. Reinheit der Farben und Begrenzung werden aufgegeben.

Blauer Fleck, Muttermal des Hochlands, ursprünglicher Nomadentraum
Gleich der Karibik, manchmal blau und grau, wie der Himmel
Manchmal blauschwarz oder dunkelbraun
Genau wie die Welt, unregelmäßig in der Form
[aus: Mongolischer blauer Fleck]

1883 hatte der deutsche Wissenschaftler Erwin Bälz zum ersten Mal den Mongolenfleck beschrieben, ein harmloses Muttermal am Rücken oder Gesäß, das leicht mit einem Bluterguss verwechselt werden kann. Bälz hat sicher bedeutvolle Verdienste erworben und war anderen Kulturen gegenüber offen. Er sprach Japanisch und heiratete ein Japanerin. Dennoch muss seine Beschreibung, die dieses Muttermal einer bestimmten Rasse zuordnete, als (pseudo-)wissenschaftliches Material für Rassentheorien angesehen werden, deren Ziel es war, die weiße Rasse als die herrschende zu definieren. Tatsächlich kann sich ein Mongolenfleck mit leicht abweichenden Prozentzahlen bei allen Menschen bilden.

Der blaue Fleck, angeborenes Lebenssymbol,
Wurde in Nordamerika gefunden,
Im Kaukasus,
Und in ganz Zentralasien
Er ist ausgefüllt mit indigenen Farben
[aus: Mongolischer blauer Fleck]

Indigene Farben sind von schillernder Schönheit, denn sie stehen für Vielfalt des menschlichen Lebens. [Dem stehen die kolonialistischen Farben (in: Der Schatten der Zukunft) gegenüber, die Sendoo mit Diskriminierung verbindet.]

Blauer Fleck, Urfarbe des ewigen Himmels
Meine Nachkommen werden stolz auf dich sein
Das Muttermal,
Das eine Überraschung war, als träfe man
Auf mongolische Wildpferde –
Blauer Fleck, Totem des Lebens
Das Herz der Steppe …
Hört niemals zu schlagen auf
[aus: Mongolischer blauer Fleck]

Was ein unschöner Fleck des Buches ist: es wurde versäumt, die unterschiedlichen Auffassungen zur Rechtschreibung der beiden Übersetzenden abzustimmen. Es geht mir nicht um eine Egalisierung der Übersetzung, aber warum hier Kuß, dort Der Haraa Fluss? Meinetwegen soll doch daß oder dass geschrieben werden, aber auf die konsistente Nutzung nur einer Variante lege ich schon Wert.

Die verkürzenden Schreibweisen in den Übersetzungen von Weiland scheinen, ähnlich Liedtexten in Kirchengesangsbüchern, einem Rhythmus folgen zu müssen. Ich kann nicht beurteilen, ob die mongolischen Originale einen solchen aufbauen, nur in der deutschen Fassung kommt mir die Apostrophnutzung willkürlich vor:

Doch ich werd‘ nicht klagen ob des Lands
das von Geheul ergriffen, und aus dem Flüchtlinge flieh’n
[aus: Was ist es das mich wettern und schimpfen lässt]

Oder falsch:

Ich stoße meine Feder in’s Dunkel…
[aus: Welt, gebroch’nes Herz]

Klug gemacht ist das Glossar, das einige Begriffe, nicht zu umfangreich, erläutert. Bei einem Gedicht ist jedoch eine Fußnote stehen geblieben. So wird das alte mongolische Wort And zweimal erklärt.

Dies kann kein Einwand gegen Sendoos Ringen um Identität sein, das uns hier in Deutschland von Ulanbataar aus über Georgien, über Rumänien, über Österreich als Poesie der Stille erreicht. Ein bedeutendes Fundstück.

Um nach der Pferdepeitsche zu suchen, die mein Opa verlor,
Grabe ich im schwarzen Wald
[aus: Das Land, der Himmel, die Flüsse und ich]