Khalaf Ali Alkhalaf: „Tagebücher eines Krieges“

Über Leben

0 | Scham schläft, Krieg nicht

Scham lässt uns Menschen schrumpfen. Ganz klein werden wir, wollen uns im Nichts auflösen, können es nicht, verhalten uns ganz ruhig, verstecken uns vor uns selbst. Damit wir unsere hässliche Fratze nicht sehen müssen, schließen wir die Augen und … schlafen ein. Der Tod, der während des Kriegs seine Hochzeit mit verstümmelten Leichen immer wieder aufs Neue feiert, braucht keinen Schlaf. Er braucht den Blutrausch, der sich gleichermaßen der Schamlosigkeit und der Scham bedient. Wenn wir schlafen, hat der Tod ein leichteres Spiel.

Seit 2011 habe ich viel geschlafen.

Strategien, der Scham zu entfliehen, gibt es zahlreiche. Es ist unnütz, sie in Stellung zu bringen, denn ich bin mir des Versagens bewusst. Ein Impuls will mir diktieren: „Es ist nicht allein dein Versagen, die Politik …“ Strategien des Schutzes der eigenen Person sind mächtige Instrumente.

In Syrien haben mächtige Personen Instrumente genutzt, die Menschen vollkommen schutzlos zu machen: Scharfschützen, Fassbomben, Raketen, Giftgas, Hunger, Folter.

-1 | Kritik an Todesmetaphern

Im Grunde ist es unmöglich, den Gedichtband von Khalaf Ali Alkhalaf mit dem Titel Tagebücher eines Krieges und dem Untertitel Syrien, allen bekannt mit literarischen Maßstäben zu messen und zu würdigen. Die von Leila Chammaa übersetzen Gedichte auf die Stärke der verwendeten Metaphern oder auf die Sinnhaftigkeit der Zeilensprünge zu untersuchen, das macht mich wahlweise zum Zyniker, wenn ich mich über die Realität dieses Krieges hinwegsetze und die Gedichte als eine Aneinanderreihung von Buchstaben sehe, wo sie doch viel mehr eine Aneinanderreihung von Leichen sind, oder zum Schuldigen. Ein Dilemma, aus dem ich nicht herauskomme. Ich könnte die Rezension, die an mich herangetragen wurde, ablehnen. Änderte das etwas? Ohnehin weiß ich: in meiner Brust wohnt der Zyniker neben dem Schuldigen. Beide schweigen sich an. Ich suche einen Zwischenweg, eine Verständigungslinie jenseits der Monströsität und der Scham. Deswegen schreibe ich diese Rezension und begleite den Autor in seinen Zweifeln, seiner Verzweiflung, seiner Wut.

Ich halte inne. Nichts als
alberne Metaphern.
(aus: Tosen aus einer fernen Erinnerung)

+1 | Der Autor

Alkhalaf wird 1969 in Ar-Raqqa (Syrien) geboren. Von 1993 bis 2001 lebt er in Saudi-Arabien, dann bis 2002 in Griechenland, bevor er nach Syrien und Saudi-Arabien zurückkehrt, wo er bis 2008 bleibt. Danach zieht er nach Ägypten. Dort erlebt er den Beginn des Arabischen Frühlings ab Dezember 2010.

Als 2004 sein erster Gedichtband N of Sherpherds erscheint, haben sich die Hoffnungen der syrischen Bevölkerung, die mit dem Regierungswechsel von Hafiz auf Bashar al-Assad im Jahr 2000 und dem Damaszener Frühling (bis Herbst 2001) verbunden waren, längst zerschlagen.

Alkhalaf versteht sich als Dichter und politischer Aktivist. Ende 2005 gründet er eine unabhängige Internetplattform für Meinungsvielfalt und Kultur. Wenige Monate nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs im März 2011 organisiert er hauptverantwortlich eine Syrien-Konferenz in Antalya (Türkei). Über diese Frühphase des Krieges findet sich ein kompakter Überblick von Heiko Wimmen auf den Seiten der Stiftung Wissenschaft und Politik. Alkhalaf dürfte zu den Aktivisten gezählt haben, die Assads Rücktritt forderten und sich nicht mit Reformen des Regimes zufrieden gaben.

Das lese ich aus dem Gedicht, das den Lyrikband eröffnet, in dem Alkhalaf den Krieg in Syrien als Gast begrüßt, mit Anführungsstrichen.

Versprich nur eines,
dass du den Diktator mitnimmst, wenn du gehst.
(aus: Ein Gast)

+2 | Gewalt und Freiheit

Ob Freiheit durch Gewalt erreichbar ist oder gewaltfreier Widerstand den Weg aus der Diktatur weist, diese Frage ist sehr alt. Im Krieg ist es schwierig, einen gewaltlosen Weg zu gehen. Alkhalaf ist jedenfalls von Anbeginn des Bürgerkriegs gegen ein Bewaffnung der oppositionellen Kräften aufgetreten. Er beteiligt sich an der Bewegung syrischer Aktivisten, die Haquna gründen und mit verschiedenen Aktionen (Sit-ins) zeigen, dass diese Form des Widerstands möglich ist.

„Peaceful resistance is a must; if we use weapons we will not be able to succeed as we do not have enough weapons or soldiers. The military option will increase people’s pain. Providing people with arms will only increase death“, sagt Alkhalaf.
(Quelle: http://www.ikkevold.no/2012/04/amidst-talk-of-militarization-activists-in-syria-vow-non-violent-resistance/)

Zunächst findet diese Haltung breitere Zustimmung, doch die Bewaffnung der zersplitterten Opposition ist letztlich nicht aufzuhalten. Um Alkhalaf wird es einsam.

In meinem Postfach stauen sich nicht Massen von
Mails, die mangels Zeit unbeantwortet bleiben. Bei mir
gehen nur noch Spams von Betrügern aus Afrika ein,
darunter eine Mail von Madame Selma, die ihren
Mann, einen engen Freund Gaddafis, in Tripolis
verloren hat und nun meine Kontonummer erfragt,
um mir zig Millionen Dollar zu überweisen.

Von den Aktivisten im Land nichts als Funkstille.
(aus: Nachdem ich im Schatten des Krieges Gandhist wurde)

Dass die Aktivisten im Land zu den Waffen greifen, treibt Alkhalaf um. Abdul Basit Sarut (Abdul Baset Al-Sarout) widmet er sein Gedicht Das Halbfinale des Torwarts. Im Anhang sind biografische Angaben zu den Personen zu finden, die in der Gedichten namentlich genannt sind. Saruts Eintrag ist am längsten.

Torwart des FC al-Karama, geboren 1982. Er schloss sich früh der Revolution an, führte die Proteste in Homs an und sang auf den Tribünen der Demos in seiner Stadt für die Freiheit […]

Darüber berichtet der Dokumentarfilm Homs – ein zerstörter Traum (engl. Return to Homs) (Trailer) von Talal Derki, der beim Sundance Film Festival 2014 ausgezeichnet wurde und an dessen Ausstrahlung auf arte ich mich erinnere.

[…] Dem Abkommen gingen Verhandlungen zwischen dem Regime und den Belagerten voraus, die unter UNO-Aufsicht und mit iranischer Beteiligung geführt wurden.
Nach dem Abzug wurde von Sarut ein Video veröffentlicht, in dem er bei einer in Syrien kämpfenden dschihadistischen Gruppe um Waffen bittet. Dies löste eine heftige Debatte in den Kreisen der syrischen Revolution aus, zumal Sarut in seinen Liedern und Äußerungen zur Einheit der Syrer aufrief und stets betonte, dass das Problem der Syrer das Regime sei und nicht die Landsleute anderer Konfession und Religion.

Wenn ich mein Gewissen prüfe, und ich ließ es vor langer Zeit prüfen, kann ich heute nicht mehr versichern, dass ich den gewaltfreien Weg einschlagen oder nur unter Gewissensnot zur Waffe greifen würde. Womöglich zögerte ich nicht, die Waffe zu nutzen. Wer will dies beurteilen, verurteilen, wenn er nicht in Homs eingeschlossen ist? Und dennoch hat der Verlauf des Bürgerkriegs Alkhalafs Aussage bestätigt: Die militärische Option hat das Leid der Bevölkerung gesteigert.

+3 | Ohnmachtswort

In Syrien

Schreiben ist der Schatten der Dinge, ihr ferner
Geruch.
Nicht das, was wirklich geschah, zeichnen wir auf,
sondern dessen Schatten.

Wir berichten über etwas, schildern das Blut, das
bereits geronnen ist.
Wie fasst man Schmerz, Angst, Grauen, Hunger, Tod
in Worte?
Selbst ein Genie scheitert daran. Wie drückt man die
Gefühle eines Vaters aus, der erlebt hat, wie seine
Familie mit stumpfem Messer abgeschlachtet wird?
Die Gefühle einer Mutter, die mit ihrem einzigen Kind
spielte, als eine Bombe es zerteilte? Die Schmerzen
einer Leiche, während sie von einem Hund zerfleischt
wird? Was spürt der Hund? Ist das zu erahnen?
Welche Begriffe und Sätze sind nötig, um die
Empfindungen eines Menschen zu beschreiben, der
einen Toten verspeist.

Soeben geschehen in einem Land namens Syrien im
einundzwanzigsten Jahrhundert.

+4 | šahīd

Im Islam wird das Wort šahīd (für: Zeuge, Blutzeuge, Märtyrer), vereinfacht dargestellt, drei Gruppen von Menschen zugeordnet: Muslime, die im Krieg oder bei einem Überfall sterben, Muslime, die beim Schutz ihres Eigentums, ihres Lebens oder ihres Gewissen sterben, Muslime, die an den Folgen eines Kampfes, durch Ertrinken, durch Verbrennungen, durch Unfälle etc. ums Leben kommen.

Duden definiert den Märtyrer als „jemand, der um des christlichen Glaubens willen Verfolgungen, schweres körperliches Leid, den Tod auf sich nimmt“ oder als „jemand, der sich für seine Überzeugung opfert oder Verfolgungen auf sich nimmt“.

Martyrium als Begriff aus der Kategorie Politik hat nur in der englischen Version von Wikipedia einen Eintrag.

Und doch erscheint mir wichtig, da Alkhalaf das Wort in seinen Texten häufig gebraucht, es von der vorwiegend auf Religion fixierten Konnotation zu lösen. Es geht hier nicht um Gläubige, die in einen Heiligen Krieg ziehen und bereit sind, für Ihren Glauben zu sterben, sondern um Menschen, die Repression und Auslöschung eines brutalen Regimes überleben wollen und es nicht schaffen.

Den Tod überlisten

Den Märtyrern vom Fluss Kuwaik

Lasst die Toten am Ufer. Gönnt ihnen etwas Sonne.
Und gönnt ihnen die Muße, sich ein Bild zu machen
von der Kugel in ihrem Kopf und von den Händen, die
sie in den Fluss geworfen haben.
[…]

+5 | Tote essen kein Brot

Unter dem Stichwort Brotmassaker weist Alkhalaf im Anhang darauf hin, dass Bäckereien immer wieder gezielt angegriffen werden, da sich dort viele Menschen versammeln, um das Überleben ihrer Familien zu sichern.

Das Syrische Netzwerk für Menschenrechte verzeichnete bis Ende 2012 33 Angriffe auf Bäckereien in den Gouvernements Aleppo, Hama, Homs, Deir ez-Zor, Idlib. Die Bilanz: 310 Tote, darunter 60 Kinder und 4 Frauen, sowie 1024 Verletzte.

Diese Verbrechen verarbeitet Alkhalaf literarisch überzeugend.

Ein Fladen denkt nicht, empfindet keine Trauer, auch
keine Besorgnis wie Ban Ki-moon und Angst vor
Flugzeugen erst recht nicht.

Die Hand, die ihn trägt, ist ihm fremd. Richtig, er
wärmt sie zwar, wenn er gerade aus dem Ofen kommt.
Aber eine emotionale Bindung geht er mit ihr niemals
ein. Es erschüttert ihn nicht, wenn sie zerfetzt wird –
ganz gleich, ob sie einem Kind, einer alten Witwe oder
einem frisch Verheirateten gehört, der seiner Frau
beweisen muss, dass er sie durch den Krieg bringen
kann.
(aus: Gefärbtes Brot)

+6 | Fotos und Zahlen

Am stärksten sind für mich jene Texte, die sich bestimmten Ereignissen zuwenden, etwa jene im Kapitel Aufs Geradewohl – Ein paar der vielen Massaker. Aber es gibt auch bei jenen Texten, die Krieg als Metathema abhandeln, Raum für Erkenntnisgewinn.

Zahlen bewegen jeden, gehen von Mund zu Mund.

Zahlen sind das kollektive Gedächtnis des Krieges,
unauslöschlich. Fotos sind anders, Fotos sind privat
[…]
Fotos werden von den Angehörigen der Opfer
aufgehängt. Die Witwen verlieben sich wieder und
heiraten, hängen aus Rücksicht auf den neuen Partner
die Fotos des alten ab.

Zahlen gehen von Mund zu Mund.

Wenn der Krieg zu Ende ist, schreiben die Historiker:
Dieser Krieg forderte 353411 Menschenleben […]
(aus: Kriegsfotos und -zahlen)

Diese Zahl schreibt Alkhalaf im Jahr 2012. Nach sieben Jahren Krieg bilanziert die Unicef im März 2018 350000+ Tote.

+7 | Massaker von

Ain Issa

Was du dort oben am Himmel siehst, sind keine
Wildtauben, die von einem eiligen Fußgänger
aufgeschreckt wurden.
Es sind die zerfetzten Körper von Ain Issa,
gleich fallen sie auf die Erde, küssen den Boden
und malen zwei Zeichen,
das eine sagt: hier waren die Tyrannen
das andere: zur Freiheit.

+8 | Testament und Alltag

Der Tod ist eine kursierende Münze, die dir unverhofft
in die Hände fällt. Drum schreib beizeiten dein
Testament.
(aus: Testament eines friedfertigen Mannes)

Diesen Rat beherzigen wir nicht. Wir leben, leiden, lachen. Wir kämpfen, kochen, küssen. Wir bleiben, bitten, beten. Aber auf den Tod bereiten wir uns nicht vor.

Das Leben hält den Webstuhl beharrlich in Gang, webt
stur weiter den Teppich unserer langen Tage. Und wir,
wir lasten unseren Lieben nach wie vor ihre Fehler an,
schimpfen die Kinder aus, wenn sie abends zu lange
aufbleiben. Trotz all der Dinge, die wir gesehen haben
in diesem Krieg.
(aus: Moderne Malerei in einer alten syrischen Höhle)

   ?  |  End of Horror