Dirk Uwe Hansen: „sonne geschlossener wimpern mond“

Beweisführung

Schon bei der ersten Durchsicht der Gedichte in sonne geschlossener wimpern mond von Dirk Uwe Hansen konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier eine Kette von Beweisführungen geknüpft und vorgeführt wird. Das Wort ist im Sinne von ist gleich oder = nimmt auf der logischen und sprachlichen Ebene eine überragende Stellung ein.

x

ist qual keine suche
ist flucht ist fluch ist
der anfang der feind
jeder unendlichkeit

Wofür hier Beweise gesammelt werden, erschließt sich mir zunächst nicht. Aber, so viel ist deutlich, die Texte dieses in die drei Kapitel kosmogonie, naturalienkabinett und grammatologie aufgeteilten Bandes kommen ohne Streben nach Erkenntnis über den Sinn des Lebens (= Philosophie) nicht aus. Einen Schnellkurs in antiker Philosophie zu belegen, ohne sichere Aussicht auf das Bestehen der Abschlussprüfung, birgt Risiken. Aber: der Autor und Altphilologe Hansen fordert ein, sich für diese Lektüre in eine Vorlesung über die Schulen der Vorsokratiker einzuschreiben.

Hansen kennt seine Dozenten gut, ich dagegen muss die Namen nachschlagen. Wer hat sich in kosmogonie versammelt?

Da ist beispielsweise Thales (von Milet), Anaximenes und Anaximandros, Pherekydes (von Syros), Heraklit (von Ephesos), Parmenides (aus Elea), Mellisos (von Elea), Akusilaos (von Argos), Philolaos (von Korinth) und Zenon (von Elea).

Thales versteht die Erde als ein auf dem Wasser schwimmender Körper. Anaximenes behauptet, dass der Mond sein Licht von der Sonne erhält. [Eine ebenso gewagte These wie der Titel des Bandes, demnach die Sonne der Mond geschlossener Wimpern sei.] Anaximandros sucht rationale Modelle zur Erklärung des Kosmos. Philolaos erkennt die Existenz eines Zentralfeuers, um das sich die Sonne und die Planeten drehen. Mellisos betrachtet das Universum als unendlich und jede Bewegung darin als Erscheinung, nicht als realer Vorgang. Parmenides definiert das Sein als Urstoff (und unterscheidet sich damit von anderen Naturphilosophen; Thales nennt Wasser als Urstoff, Anaximenes Luft, Anaximandros Apeiron als das Nicht-Eingrenzbare, die Unendlichkeit).

Diese auf die Schnelle zusammengesuchten Sätze füllen Zeilen, bleiben aber leer an Bedeutung. Man kann die Suche nach dem Sinn nicht in Halbsätzen fassen. Was vielleicht doch deutlich wird, ist, wie wenig gefestigt die Kenntnis unseres heute so selbstverständlich angenommenem Weltbilds um 600 bis 400 v. Chr. war und wie sehr Mythologie, Götterverehrung und irrationale Ansichten Einfluss nahmen und heute noch nehmen.

Man ist geneigt zu sagen: die Atomisten, jene jüngeren Vertreter der ionischen Naturphilosphie, etwa Leukipp oder Demokrit, waren auf dem richtigen Weg, als sie den Ursprung und die Zusammensetzung der Dinge als kleines Teil denken. Die zu suchenden Teile wurden mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts immer kleiner, Stichwort: „Gottesteilchen“ Higgs-Boson.

Was kann Hansens Poesie zur Sinnsuche beitragen?

melissos. eines

eines wenn eines
dazukommt ist nichts
zwei sind nie etwas
anderes als
grenze zur schieflage schmerz
gereicht gedrängtes gehobenes auch
sehen ist immer
ändern und schmelzen
unter der hand elemente
die leere das eisen der tod

Hansens kondensierte Schreibweise, die verschiedene Lesarten zulässt, ist mindestens ein Gedankenfutter, das beim Anblick, das beim Lesen Appetit auf mehr macht. Es gibt Gesetzmäßigkeiten, warum was wo steht. Immer noch auf der Suche, bleibe ich als Schüler zurück, ohne den Meister verstanden zu haben. Aber mein Wille zu verstehen – ratio – ist da, Grundlage für die Weitergabe eines Gedankens, der sich vielleicht in mir entwickelt, sich vom Ursprungsgedanken unterscheidet und so Neues gebiert. Ich stelle mir vor, dass die Vorsokratiker in ihren unterschiedlichen Schulen so ähnlich voneinander gelernt und Gelerntes weitergegeben haben.

Das Kapitel grammatologie setzt sich damit auseinander, wie sich die Suche nach dem Sinn in Schrift umsetzen lässt. Hansen entlässt uns nicht aus der Pflicht, weitere Seminare zu besuchen: „ÜberJacques Derridas Kritik der Grammatologie als Werkzeug des Logozentrismus“. Nun ja, das führt jetzt doch zu weit.

s

ist weit
gehend anstrengungslose
bewegung die offene
suche nach perfektion

Der Mittelteil naturalienkabinett geht etwas schonender mit der Gedankenträgheit der Leserinnen und Lesern um. Fast versöhnlich, möchte man meinen. Spaziergänge am Strand, wir bücken uns gerne mit dem Autor, um strandgut, um hühnergott und donnerkeil aufzulesen, driften in eigene Ostseeerinnungen ab.

Und doch, schauen wir genau hin, lesen wir aufmerksam, hält sich die Suche nach dem Sinn nicht an Oberflächlichkeit auf. Tiefer zu gehen, Gedanken fließen zu lassen, um Paradoxa zu bauen, ist Hansen ein Vergnügen und uns Lesern ein Mehrwert.

dissimilation

fachgerechter schnitt im gewölk
macht eine linie immer zwei punkte
sichtbar wie wellenfraktale
verschwinden im drunter und drüber

sieht sie ein anderer vielleicht fällt
nichts aus dem aufgebrochenen himmel fällt
nichts ins zerbrochene meer.