Skuggamynd – Schattenriss
Seit geraumer Zeit beschäftige ich mich im Auftrag der Künstlerin Vera Röhm mit der Übersetzung eines Satzes in möglichst viele Sprachen der Welt. Genauer gesagt, da ich keine polyglotte Veranlagung besitze, besteht meine Aufgabe im Aufspüren von Linguistinnen und Linguisten und native speakers, die mit ihrer Expertise die Fortschreibung dieser Werkgruppe unterstützen.
Schatten spielt in diesem Satz eine zentrale Rolle. Und Schatten spielt in der ersten dem deutschsprachigen Publikum zur Verfügung gestellten Einzelveröffentlichung des isländischen Lyrikers Sigurður Pálsson (1948-2017) eine ebensolche.
Die beiden Übersetzer Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer haben gemeinsam mit dem Verleger Dincer Gücyeter und dem Gestalter Ümit Kuzoluk einen sehr schönen zweisprachig isländisch-deutschen Band vorgelegt.
Es ist die dritte Zusammenarbeit von Gíslason und Schiffer für den Elif Verlag, nach Ragnar Helgi Ólafsons Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können und Linda Vilhjálmsdóttirs Freiheit. Hier ist eine Reihe entstanden, der zu wünschen ist, dass der eingeschlagene Wechsel zwischen Autoren und Autorinnen beibehalten wird.
Durch den Schatten verlaufen auf der Bedeutungsebene mehrere Risse, die sich in Sprache auszudrücken vermögen. Hier eine Unterscheidung zwischen dem Schatten als dunkle(re)n Ort, dort als kühle(re)n Ort. Hier der Schatten unbewegter Dinge, dort der Schatten des Menschen, mit einer weitreichenden Bedeutung als Seele, als Geist (Verstorbener), nicht nur in den indigenen Kulturen, deren Sprachen im Internationalen Jahr der indigenen Sprachen 2019 in den Fokus gerückt werden sollten.
Isländisch kommt den allermeisten Kontinentaleuropäern ja schon fremd, weit entfernt, exotisch vor. Pálsson, der in Frankreich studiert und gearbeitet hatte, bevor er nach Island zurückkehrte, sieht es so:
Hér á spássíu Evrópu
höfem við skrifað nótur
um meginmálið á síðunni
Við erum á sömu blaðsíðu
en við erum á spássíunni
…
Hier am Rande Europas
haben wir Noten geschrieben
für den Hauptteil der Seite
Wir stehen auf demselben Blatt
aber wir sind am Rand
(aus: Hér á spássíu Evrópu | Hier am Rande Europas)
Dabei liefert die parallele Anordnung der beiden Versionen im Buch den Nachweis einer Ähnlichkeit bezüglich Vokabular und Syntax. Vielleicht klingelt es: Isländisch gehört zum germanischen Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie. Keine Exoten, sondern unsere nächsten Nachbarn!
Auch Pálsson nutzt den Schatten auf mehreren Bedeutungsebenen. Der Schatten taucht als Begleitperson des Autors auf, als Schattenmann, besser: als Sensenmann, als das nicht benennbare Nichts des Todes. Alle Gedichte dieses Bands sind im Angesicht einer Krankheit geschrieben, die das Ende unaufhaltsam näherbringt.
Ich wollte nicht für ihn singen
wollte auch nicht über ihn singen
Wollte nur über das Leben singen
Ich habe keine Angst vor ihm
er kommt wenn er kommt
„Sei gegrüßt, wann immer du willst“
Und ich singe weiter über das Leben
und die Landschaft auf der rechten Seite
und die Landschaft auf der linken Seite
(aus: Gesang)
Diese Ode an das Leben findet Ausdruck im Schatten spendenden Baum oder in der Dualität von Feuer und Schatten bzw. Licht und Schatten.
Im warmen Schatten der großen Bäume
breitete der Morgen einen
grünen Teppich
für ein Picknick aus
(aus: Stimmen in der Luft III)
Pálssons Gedichte schleppen keine unnötigen Chiffren mit sich herum, für solcherlei Ballast bleibt ihm keine Zeit. Licht und Feuer stehen für Leben, Liebe und Leidenschaft.
Sind die Gedichte des ersten Kapitels Feuer und Schatten eher kürzer und neigen zu einer schwer greifbaren Formelhaftigkeit,
Träume
in Wörter verwandelt
Wörter verwandelt
in Träume
(aus: Wörter und Träume)
so gelingt Pálsson im Verlauf der weiteren Kapitel die Hinführung seiner Leserschaft zu poetisch reichen Orten mittels einer Sprache, die beschreibender, die genauer wird. Dies führt zum einen manchmal in prosaische Lyrik, zum anderen zu einer zauberhaften Verdichtung.
Eine Insel und hinter ihr
Eine Reihe von Inseln
Inseln mit blauen Adern
Im Herz der Berge
Erschaffen grüne Explosionen
Des Laubs den Nachmittag
Nichts steht dem Lavafeld besser
Als Nacktheit
Nacktes Moos nackter Körper
Die Insel ruft nach einer anderen Insel
Nach einer Reihe von Inseln und Halbinseln
(aus: Inseln und Halbinseln)
Auch der oben mit einem kurzen Ausschnitt bereits zitierte 12-teilige Zyklus Stimmen in der Luft gehört mit seiner Zelebrierung des Lebens als Frieden, Schönheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Sehnsucht, Freude, Glück, stets in Abgrenzung zum Tod, zu den Höhepunkten dieses Bands, für den Pálsson kurz vor seinem Tod mit dem Poesiepreis Maistern ausgezeichnet wurde.
Verzeiht mir dass ich den Windhauch erwähne
während das Blei beim letzten Buchstaben
des Spektrums angekommen
einem jeden bedeutet Erde zu fressen
(aus: Stimmen in der Luft III)
Der Unausweichlichkeit des Todes bis zuletzt etwas entgegenzusetzen, es ist zwangsläufig ein Reflex des Menschen. So endet der Band mit dem Gedicht Liebe. Einen stärkeren Abschluss hätte er jedoch mit dem vorletzten Gedicht finden können. Das Vermächtnis des Autors wäre für mich auch ohne diesen letzten Fingerzeig deutlich genug gewesen.
Mit Weiße Nacht nimmt Pálsson Bezug auf ein Gedicht im zweiten Kapitel. Darin erklärt er den französischen Ausdruck la nuit blanche als schlaflose Nacht und nimmt Bezug auf den Suizid des kranken Dichters Gérard de Nerval, der sich im Januar 1855 an einem Laternenpfahl in der Rue de la Vieille Lanterne in Paris erhängte. De Nerval hinterlässt die Nachricht:
Nicht auf mich warten heute Abend, denn die Nacht wird weiß und schwarz.
(aus: Die alte Laternenstraße)
Weiße Nacht
Schlaflos war sie nicht
diese Nacht
Gleichwohl war sie weiß
vollkommen schneeweiß
Am Morgen liegt ein Blatt
mit Buchstaben
auf dem Tisch
Der, der am Tisch saß
ist verschwunden